Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 6
III
ОглавлениеZu Beginn seiner Reise schwebten die Worte der Dame, die ihm die Fahrkarte verkauft hatte, noch eine ganze Weile durch seinen Kopf. Nur wo etwas stirbt, kann etwas Neues entstehen, hatte sie gesagt, doch waren es nicht allein diese Worte, die ihn beschäftigten, sondern vor allem der seelenlose Blick, der sie begleitet hatte. Er versuchte vergeblich, den tieferen Sinn dieser Worte zu erfassen - deren Bedeutung sollte ihm erst viel später bewusst werden -, und als die Eindrücke hinter der Fensterscheibe des Busses in immer schnellerer Folge ineinander übergingen, hatte er die Dame schon bald wieder vergessen - genau wie die Schwermut, die ihn an jenem Morgen erfasst hatte. Er schrieb seiner Mutter, seinem Vater und Jonas, seinem Kumpel, eine Kurznachricht und teilte ihnen mit, dass er für eine Weile verreisen würde. Sie würden sich keine Sorgen machen um ihn, auch wenn es das erste Mal war, dass er die Stadt verliess - er war als Einzelkind aufgewachsen und hatte früh gelernt, auf sich aufzupassen. Nachdem er die Nachrichten geschrieben hatte, lehnte er sich zurück und genoss das Gefühl der Freiheit. Er reiste ohne eigentliches Ziel durch den Kontinent. Er besichtigte Städte, besuchte entlegene Dörfer und wanderte gelegentlich ein Stück durch die Natur. Doch obwohl er immer wieder auf nette Leute traf - in einer Stadt lernte er sogar ein Mädchen kennen, bei dem er zwei Tage übernachten durfte -, konnte er nirgendwo für längere Zeit verweilen. Irgendetwas zog ihn weiter. Irgendetwas liess ihn nicht zur Ruhe kommen, so dass er immer weiter nach Westen reiste. Er liess das Gebirge hinter sich, durchquerte die anschliessenden Wälder und fuhr durch die fruchtbaren Ebenen, in der sich die grossen Kornfelder befanden, bis er eines Tages auf die Küste stiess. Er hatte das Meer noch nie zuvor gesehen, so dass er sich an seinem Anblick sehr erfreute. Aber da ihm die Stadt, in der er angekommen war, nicht sonderlich gefiel, bestieg er einen weiteren Bus und gelangte in ein beschauliches Fischerdorf. Er stieg aus, schaute sich um und stellte fest, dass er das Dorf von Anfang an mochte. Zwar waren die Häuser zerfallen und die Strassen schmutzig, aber die Luft war so frisch, dass sie in seiner Nase kitzelte. Gegen Abend nahm er sich ein Zimmer, warf den Mantel und die Tasche, in der er seine Ersatzkleider mitführte, auf das Bett und suchte die einzige Kneipe auf, die er bei seinem Rundgang entdeckt hatte.
Nachdem er zwei Flaschen Bier getrunken und drei Zigaretten geraucht hatte, beschloss er, eine Weile in diesem Dorf zu bleiben und sich eine Arbeit zu suchen. Er schaute sich um. Die Kneipe wurde von Öllampen, die von der niedrigen Decke hingen, beleuchtet und war entsprechend düster. Ein alter Mann mit eingefallenen Wangen und hängenden Schultern war - ausser ihm - der einzige Gast. Er sass in einer Ecke und starrte auf das halbvolle Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Leon erhob sich von seinem Hocker, setzte sich zu ihm und stellte sich vor.
"Entschuldigen Sie, mein Name ist Leon, und ich suche Arbeit. Können Sie mir vielleicht helfen?"
Der Mann hob den Kopf, schaute ihn mit grossen Augen an und begann zu kichern. "Arbeit gibt es hier nicht", sagte er und wurde augenblicklich wieder ernst, "Arbeit gibt es nur noch in der Stadt."
"Aber mir gefällt es hier, ich würde gerne eine Weile bleiben. Es wird doch wohl irgendetwas zu tun geben in diesem Dorf?"
Der Mann musterte ihn misstrauisch. "Dir gefällt es hier?"
"Aber ja, mir gefällt es hier sehr gut, die Luft ist so frisch, und..."
"Oh ja, in der Tat, die Luft", seufzte der Mann, "ich wünschte, meine Söhne hätten das auch einmal gesagt."
Dann verstummte er und starrte wieder auf sein Glas. Seine Augen wurden feucht, während vereinzelte Tränen über die ledrige Haut in seinem Gesicht rannen.
"Es tut mir leid, wenn ich Sie aufgebracht habe", sagte Leon nach einer Weile, "aber gibt es nun Arbeit für mich oder nicht?"
Der Mann zuckte mit den Achseln und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Eine richtige Arbeit findest du hier nicht", sagte er traurig, "aber vielleicht kannst du mir ein wenig zur Hand gehen."