Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 4
I
ОглавлениеLeon sass in seinem Sofa und versuchte, regelmässig zu atmen. Sein Kopf brummte, seine Mundhöhle fühlte sich an wie ein Aschenbecher. Sein rechter Ellbogen schmerzte, doch konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, was die Ursache war dafür. Er beugte sich vor, öffnete die Flasche, die er geschenkt bekommen hatte und goss sich ein Glas ein. Er roch daran, nahm einen Schluck, behielt die Flüssigkeit eine Weile im Mund und liess sie langsam durch seine Kehle gleiten, konnte aber trotzdem nicht sagen, ob ihm der Rum geschmeckt hatte oder nicht. Und eigentlich war es ihm auch ziemlich egal. Er zündete eine Zigarette an, sog den Rauch in seine Lunge und lehnte sich zurück. Er blies den Rauch wieder aus und sah zu, wie er in dünnen Fäden an die Decke stieg. Nun war es also soweit, dachte er. Er war dreissig. Und er hatte sein Glück noch immer nicht gefunden. Er fühlte sich leer, ausgebrannt, irgendwie alt. Er hatte das Stadtleben gründlich satt, es machte ihn einfach nicht glücklich - an diesem Morgen war es ihm geradezu zuwider, genau wie der Geschmack in seiner Mundhöhle. Dabei war es genau das Leben, das er sich immer gewünscht hatte. Unabhängig, frei von Verantwortung und immer mittendrin, wenn etwas passierte.
Er rauchte und sah zu, wie die ersten Sonnenstrahlen durch den Rolladen drangen und sich wie feine Lanzen durch den Rauch bohrten, der sich an der Decke gesammelt hatte. Der Lärm von der Strasse drang überdeutlich an seine Ohren, irgendwo heulte eine Sirene. Vielleicht sollte er sich eine feste Freundin suchen, dachte er müde, eine Frau, in die er sich richtig verlieben konnte. Aber die Liebe liess sich nicht erzwingen, so viel war klar, und seine bisherigen Versuche, sich längerfristig zu binden, waren nicht eben ermutigend verlaufen. Vielleicht sollte er sich eine feste Arbeit suchen, darin aufgehen und Karriere machen, genau wie alle anderen. Aber auch das wollte er nicht, denn er brauchte die Abwechslung und hatte es noch nie geschafft, dieselbe Arbeit länger als ein Jahr auszuüben. Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas und behielt die Flüssigkeit eine Weile in seinem Mund, während er vor sich hin starrte. Auf dem Salontisch vor ihm standen zahlreiche leere und halbleere Flaschen sowie zwei überquellende Aschenbecher, dazwischen lagen zerknüllte Verpackungen und ein Mobiltelefon, das irgendjemand vergessen hatte. Aus seinem Blickwinkel sahen die Flaschen aus wie die Kontur einer Stadt. Es war eine abweisende Stadt, eine Stadt aus kaltem Glas und abgestandenen Getränken. Eine Stadt ohne Liebe und ohne Hoffnung. Eine Stadt, wie es die seine war. Er seufzte, beugte sich vor, drückte die Zigarette aus und liess sich ins Sofa zurückfallen. Vielleicht war es das, dachte er und wischte sich den kalten Schweiss von der Stirn. Vielleicht sollte er einfach einmal die Stadt verlassen, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte.
Als er in seinem Rücken ein klackendes Geräusch vernahm, wandte er müde den Kopf. In der Tür zum Badezimmer stand Julia in roter Unterwäsche und genauso roten, mit spitzen Absätzen versehenen Stiefeln. Die Arme hatte sie gegen den Türrahmen gestützt, ein Bein war vor das andere geschlagen. Sie stand einfach nur da, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und schaute ihn herausfordernd an.
"Du bist immer noch da?", fragte Leon und schob die Augenbrauen zusammen. Er kannte Julia nicht sonderlich lange. Sie hatten ein paar Mal miteinander geschlafen, mehr nicht. Dass sie jetzt noch immer in seiner Wohnung stand, überraschte ihn.
"Oh ja, das bin ich", erwiderte Julia, stützte die Hände in ihre Seiten und kam langsam auf ihn zu. Sie fixierte ihn mit ihren Blicken, während sie einen Fuss vor den anderen setzte. Leon sah den geübten Schwung ihrer Hüfte, hörte das Klacken ihrer Absätze, und ehe er sich versah, sass sie rittlings auf seinem Schoss.
"Julia", sagte er und fasste sie bei den Armen, "ich mag jetzt nicht."
"Du magst nicht?", lachte Julia, während sie ihre Hüfte langsam hin- und herbewegte, "ist das ein Scherz?"
Sie versuchte, Leon zu küssen, doch er wich ihren Lippen aus. "Ich möchte jetzt einfach alleine sein."
Julia lehnte sich zurück, die Arme noch immer um seinen Hals geschlungen. "Du willst alleine sein?", rief sie mit gespielter Entrüstung und warf ihre Haare zurück, "und was willst du jetzt machen? Mich nach Hause schicken?"
Leon löste sich aus ihrer Umarmung, schob sie von seinem Schoss, erhob sich und wartete, bis der Schwindel, der ihn erfasst hatte, vorüber war. Dann trat er ans Fenster und zog den Rolladen hoch. Das Licht des neuen Tages brach erbarmungslos in seine Wohnung, seine Augen verengten sich unwillkürlich zu schmalen Schlitzen. Er stützte sich auf das Fensterbrett und starrte nach unten, wo sich der Verkehr bereits lautstark durch die Strassen zwängte. Vielleicht war es das, dachte er wieder, vielleicht sollte er die Stadt tatsächlich verlassen und sein Glück woanders versuchen. Er fragte sich, warum ihm dieser Gedanke noch nie in den Sinn gekommen war, denn jetzt erschien er ihm auf einmal ganz natürlich. Er rieb sich den Nacken und versuchte, den Gedanken weiterzuführen, als Julia von hinten an ihn herantrat und sich an ihn schmiegte. Ihre Hände fuhren über seinen Bauch und bewegten sich langsam nach unten. Als er ihre Brüste an seinem Rücken fühlte, überlegte er für einen kurzen Moment, ihr nachzugeben. Aber dann besann er sich eines Besseren, drehte sich um und schob sie von sich weg. "Ich mag jetzt wirklich nicht."
Julia wurde rot und bewegte stumm ihre Lippen. Erst jetzt erkannte Leon, dass auch sie ziemlich betrunken war, denn sie wankte bedrohlich hin und her.
"Du verdammter Schweinehund!", brach es schliesslich aus ihr heraus, "du... das ist mir noch gar nie passiert, das... das ist doch..."
Sie verstummte, warf ihm einen bitterbösen Blick zu, drehte sich auf dem Absatz und verschwand im Bad. Als sie kurz darauf wieder erschien, war sie mit einem Mantel bekleidet und hatte ihre Handtasche unter den Arm geklemmt. Sie stakte an ihm vorbei und verliess seine Wohnung, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.