Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 17
IX
ОглавлениеDie folgenden Tage verbrachte Leon vorwiegend an seinem Aussichtsplatz an der Küste. Stundenlang beobachtete er das Meer, ohne auch nur ein einziges Schiff zu entdecken - einmal abgesehen von den Booten der Inselbewohner, die sich vor der Küste tummelten. Flugzeuge sah er ebenfalls keine, die Welt, die er kannte, blieb ganz einfach verschwunden. Und auch seine Ausflüge brachten keine neuen Erkenntnisse. Sobald die Entzündung an seinen Füssen abgeklungen war, besuchte er die Nachbardörfer, die ebenfalls an der Küste lagen und ähnlich aussahen wie sein eigenes - eine Ansammlung einfacher Steinhäuser, die sich um einen zentralen Platz formierten. Er fragte die Menschen, die dort wohnten, nach dem Festland, oder ob sie bereit wären, ihn mit ihren Booten nach Osten zu fahren. Doch die Antworten blieben dieselben. Niemand hatte je etwas vom Festland gehört, und mit den Booten auf das Meer hinauszufahren, kam für sie überhaupt nicht in Frage. Auch sie gaben sich sehr verschlossen, genau wie die Menschen in seinem eigenen Dorf - es schien dies eine Eigenheit aller Inselbewohner zu sein. Sie vertieften sich mit beinahe heiligem Eifer in ihre Arbeit und waren froh, wenn sie nicht gestört wurden. Ihre Gesichter waren ernst, manchmal sogar verbissen, ihre Blicke meist freudlos und leer. Sie sprachen wenig und lachten selten, gerade so, als würde irgendetwas auf ihren Seelen lasten. Vielleicht hatte es etwas mit ihrem Glauben zu tun, mit dem König, den Elias erwähnt hatte und mit dem Blutsopfer, das diesen König dazu bewegen sollte, sie auf ihre Heimatinsel zurückzuführen. Vielleicht war diese Heimatinsel so etwas wie das Paradies, in dem das Leben sehr viel angenehmer war. Vielleicht glaubten sie tatsächlich an solche Geschichten - und auch wenn es für Leon nur schwer verständlich war, hätte ein solcher Glaube gut zu ihrer unzeitgemässen Lebensweise gepasst.
Leon hatte nie an solche Geschichten geglaubt. Er glaubte, was er mit seinem Verstand überprüfen konnte, und damit war er immer sehr gut gefahren. Insgeheim belächelte er die Inselbewohner um ihren Glauben, auch wenn ihn das Monument an der Küste ziemlich beeindruckt hatte. Er war ein wenig ausserhalb des Dorfes darauf gestossen, als er sich auf den Weg gemacht hatte, um die Nachbardörfer zu besuchen. Das Monument war vollständig aus dem Fels gehauen, und es war ziemlich gross. Ein hüfthohes, liegendes Rad mit insgesamt zwölf dicken Speichen bildete den Sockel, wobei der Durchmesser des Rades ungefähr fünf Meter betrug. In der Mitte des Rades sass eine übergrosse Blüte - drei grosse und drei kleine Blütenblätter reckten sich in den Himmel und schlossen sich zu einem riesigen Kelch. Die Oberfläche der Blätter war so kunstvoll geschliffen, dass es den Anschein machte, sie seien von Leben durchdrungen. Leon war eine ganze Weile vor dem Monument gestanden und hatte gestaunt - der Glaube der Inselbewohner musste in der Tat ein sehr starker sein. Ob dieser Glaube aber tatsächlich der Grund für ihre Schwermut war, konnte er nicht sagen, zumal sie sich meist von ihm fernhielten. Der Einzige, der sich dann und wann um ihn kümmerte, war Arwin, sein Nachbar. So brachte er ihm eine Seife - einen rötlichen, schmierigen Klumpen, der erstaunlich gut roch - und zeigte ihm die Stelle im Bach, wo sich die Dorfbewohner zu waschen pflegten. Oder er zeigte ihm, wo er seine Notdurft verrichten konnte. Im Dorf gab es nämlich mehrere Häuschen, die unmittelbar auf den Klippen standen. Sie waren mit Sitzvorrichtungen ausgestattet, und zwar dergestalt, dass die Ausscheidungen des Körpers durch ein Loch im Boden nach unten fielen und sich direkt ins Meer ergossen. Arwin war der einzige, der sich darum sorgte, dass sich Leon auf Magnor einigermassen wohl fühlte, und er versäumte es nie, ihn darum zu bitten, doch endlich zu arbeiten. Eines Abends - es war schon spät - klopfte er an Leons Tür. Nachdem Leon die Tür geöffnet hatte, schaute sich Arwin nach allen Seiten um und reichte ihm hastig ein kleines Bündel.
"Das ist alles, was ich auftreiben konnte", flüsterte er und liess seinen Blick erneut über die umliegenden Häuser schweifen, "ich sollte das nicht tun, ich weiss selber nicht, warum ich das mache, aber ich ..."
Er verstummte, senkte den Blick und scharrte mit dem Fuss über den Boden. Leon schlug das Bündel auseinander und entdeckte ein Brot sowie ein paar gepökelte Fischbrocken.
"Ich danke dir vielmals", sagte er genauso leise, wie Arwin es getan hatte, "ich weiss gar nicht, wie ich dir danken kann!"
"Komm morgen zur Arbeit, dann bin ich schon zufrieden", entgegnete Arwin, drehte sich um und schlich zu seinem Haus zurück.
Abgesehen von Arwins Besuchen verbrachte Leon seine Tage allein, sass an der Küste und schaute auf das Meer hinaus. Je mehr Tage verstrichen, ohne dass er ein Schiff entdeckte, desto unruhiger wurde er. Ständig schichtete er das Feuerholz neu auf, um sicherzustellen, dass es auch wirklich brannte, wenn er es brauchte. Er holte zusätzliches Holz aus dem Wäldchen, damit er das Feuer falls nötig für längere Zeit unterhalten konnte. Er schnitt ein paar Farne und brachte sie ebenfalls zu seiner Feuerstelle, um damit das Holz abzudecken und es vor den täglichen Regenschauern zu schützen - auch wenn an der Küste selten mehr als ein paar Tropfen fielen. Und immer, wenn im Meer etwas aufblitzte, sprang er auf, lief an den Rand der Klippen und schaute angestrengt hinaus, nur um festzustellen, dass weit draussen eine Schaumkrone über das Wasser tanzte. Die Tatsache, dass es auf der Insel sehr still war, beruhigte ihn auch nicht wirklich. Meist war nur das Rauschen des Meeres zu vernehmen. Gelegentlich kreischten ein paar Vögel, die Wölfe heulten nur in der Nacht. Das einzige Geräusch, das aus dem Dorf zu hören war, war eine Klangfolge, die von einer Fanfare oder einem ähnlichen Instrument zu stammen schien. Die Fanfare erschallte jeweils am späteren Vormittag, jeden Tag in etwa zur gleichen Zeit. Manchmal trug der Wind auch andere Klangfolgen herbei, die sich von der ersten deutlich unterschieden. Allerdings kamen diese aus der Ferne - wahrscheinlich aus den Nachbardörfern - und erschallten zu anderen Zeiten. Aber Leon dachte nicht weiter über die Bedeutung der Fanfaren nach, denn er hatte andere Sorgen. Er fühlte sich rastlos und wurde zunehmend vom Hunger geplagt, zumal ihm auch Arwin kein Essen mehr brachte. Er musste sich mit Birnen und Beeren begnügen, die er im nahen Wäldchen fand, doch vermochten ihn die Früchte nicht richtig zu stärken. Sein Körper sehnte sich nach einer kräftigen Mahlzeit, und auch sein Schlaf litt unter der mangelhaften Ernährung. Er schlief nicht sehr tief und auch nicht sehr beständig. Oft lag er wach in seinem Bett und lauschte dem Geheul der Wölfe. Er lag einfach nur da und sehnte sich nach einer Zigarette, während er vergeblich darauf wartete, das ihn der Schlaf übermannte. Sein Körper wurde schwächer und schwächer, und als er nach einer Woche noch immer kein Schiff gesichtet hatte, beschloss er, sich den Gesetzen der Insel zu beugen.