Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 5
II
ОглавлениеZwei Stunden später erreichte Leon den Busbahnhof. Er ging an den wartenden Bussen vorbei, erklomm die Treppe zum Obergeschoss und fand sich in einer riesigen Halle wieder. Die Menschen liefen aufgeregt durcheinander, die Lautsprecheransagen jagten sich im Sekundentakt. Er legte die Hände an seine Schläfen, versuchte sich zu konzentrieren und schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Geldautomaten. Er ging hin, zückte seine Kreditkarte und hob etwas Bargeld ab. Gleichzeitig überprüfte er den Kontostand und stellte erleichtert fest, dass er genügend Geld besass, um ein paar Wochen zu überleben - wenn er sparsam damit umging, sogar ein paar Monate. Er verstaute das Geld in seiner Brieftasche, nahm das Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer von Nolan, dem Besitzer des Clubs, in dem er als Barmann arbeitete. Dass Nolan nicht antwortete, erstaunte ihn nicht, denn es war Sonntag Morgen und die übergrosse Uhr an der Hallendecke stand auf neun Uhr fünfundvierzig. Er hinterliess eine Nachricht, mit der er sich für das plötzliche Verschwinden entschuldigte und ihm mitteilte, dass er für ein paar Wochen verreisen würde. Dass er die Stelle durch sein Verhalten ziemlich sicher verlieren würde, bekümmerte ihn wenig - er hatte sich ohnehin nach einer neuen Beschäftigung umsehen wollen. Er steckte das Mobiltelefon wieder ein und stellte sich in die Schlange, die sich vor dem Fahrkartenschalter gebildet hatte.
"Welches ist der nächste Bus, der die Stadt verlässt?", fragte er, als die Reihe an ihm war. Die Dame hinter der Glasscheibe hob überrascht die Augenbrauen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, ihre Bluse war bis obenhin zugeknöpft.
"Die Busse verlassen die Stadt immer zur vollen Stunde", entgegnete sie unbewegt, "und zwar in alle Richtungen."
Leon überlegte. Er hatte die Stadt - bis auf den Sommer, in dem er auf den umliegenden Feldern beschäftigt gewesen war - noch nie verlassen und versuchte sich zu erinnern, was er über die anderen Städte des Kontinents gehört hatte. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, zumal ihn die Dame unverwandt anblickte. Ihm fiel auf, dass ihm ihre Augen nicht den geringsten Widerstand boten. Sie waren wie zwei Brunnen, deren Grund er nicht erkannte, so dass er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, in ihnen zu versinken.
"Warum wollen Sie denn weg?", fragte die Dame, als er nicht mehr weitersprach. Leon schüttelte unmerklich den Kopf und rieb sich den Nacken. "Ich weiss nicht", antwortete er, "ich muss einfach mal raus aus der Stadt. Mal was Neues erleben."
Die Dame antwortete nicht. Sie stand regungslos hinter der Scheibe und starrte ihn einfach nur an. Sie schien nicht ganz bei der Sache zu sein, gerade so, als sei ihre Seele kurzzeitig ausgeflogen. Leon fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut, denn die Leere, die diese Seele hinterlassen hatte, schien alles in ihrer Umgebung aufzusaugen. Er fühlte sich nackt, und er bemerkte, dass seine Achselhöhlen feuchter wurden. Er schob den Schweiss der Wirkung des Alkohols zu, der noch immer durch seine Adern floss, war aber dennoch froh, als die Dame wieder zu sich kam, kaum merklich mit dem Kopf nickte, etwas in ihren Computer tippte und ihm eine Fahrkarte ausdrückte.
"Fahren Sie nach Westen", sagte sie, zwinkerte mit dem Auge und überreichte ihm feierlich die Karte, "dorthin, wo die Sonne untergeht. Nur wo etwas stirbt, kann etwas Neues entstehen."