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1. Die Ansicht der Rechtsprechung

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Die Rechtsprechung des Reichsgerichts beharrte seit einer Leitentscheidung aus dem Jahre 1881[85] stets auf dem Standpunkt, dass eine Vermögensverfügung gleich welcher Art für das Vergehen der Erpressung nicht nötig sei, mithin auch die vis absoluta dem Tatbestand unterfalle. Der BGH hat diese Rechtsprechungslinie bereits früh rezipiert und hält seitdem an ihr fest.[86] Nur ganz vereinzelt haben Senate des Reichsgerichts oder des Bundesgerichtshofs – nicht tragend – von einer Vermögensverfügung als Tatbestandsmerkmal der Erpressung gesprochen.[87] Die Literatur hat hingegen bereits früh gefordert, für den Tatbestand der Erpressung, ähnlich wie beim Betrug, das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Vermögensverfügung zu verlangen.[88]

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Symbolisch für die Problemlage ist der „Taxifahrerfall“, den der BGH im Jahre 1960 zu entscheiden hatte:[89] Der Täter veranlasste einen Taxifahrer unter Vorhaltung einer Gaspistole und der Abgabe zweier Schüsse, von denen einer das Opfer ins Gesicht traf, das Taxi zu verlassen. Anschließend setzte er sich selbst ans Steuer, bedrohte den Taxifahrer, der ihn daran hindern wollte, erneut mit der Gaspistole und fuhr davon. Nachdem er eine Weile umhergefahren war, stellte er sich der Polizei. Unwiderlegt ließ er sich darauf ein, dass „er so gerne einmal habe Auto fahren wollen“, aber von Anfang an nicht vorhatte, das Taxi zu behalten. Mangels Zueignungsabsicht schied hier ein schwerer Raub, §§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus. Der BGH gelangte allerdings zu einer Strafbarkeit wegen schwerer räuberischer Erpressung, §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Eine „Vermögensverfügung“ des Genötigten, wie dies teilweise von der Literatur gefordert werde, sei für den Straftatbestand der (räuberischen) Erpressung nicht erforderlich. Der bei der Erpressung angestrebte Vermögensvorteil müsse nicht in der Einverleibung der Sache als solcher liegen, der bloße Besitz an der Sache und die damit verbundenen (wenn auch kurzfristigen) Gebrauchsvorteile würden als Gegenstand einer möglichen Bereicherung ausreichen.[90] Korrespondierend hierzu läge auch im Verlust des Besitzes der eingetretene Vermögensnachteil beim Tatopfer. Die gleiche Problemlage stellte sich bereits früher in einem vom Reichsgericht zu entscheidenden Fall, in dem der Täter eine Pfandgläubigerin unter Anwendung von Gewalt zur Duldung der Wegnahme der Pfandsache zwang.[91] Auch hier schied ein Raub aus, da der Täter Eigentümer der Sache war.

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Für diese Lösung spreche als erstes der Wortlaut des § 253 StGB, der eine Vermögensverfügung nicht ausdrücklich verlange. Insoweit sei auch derjenige, der sein Opfer rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel dazu nötige, eine Wegnahme zu dulden, vom Wortlaut des § 253 StGB erfasst, sofern der Genötigte oder ein Dritter hierdurch einen Vermögensnachteil erleide.[92] Auch die Entstehungsgeschichte deute darauf hin, dass insbesondere im Rahmen des § 255 StGB mit der „Duldung“ auch Fälle der vis absoluta erfasst werden sollten.[93]

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Als weiteres Argument wird die Parallele zu § 240 StGB angeführt. Vom Wortlaut her würden sich nämlich die Nötigungshandlungen des § 240 StGB und des § 253 StGB decken. Bei § 240 StGB sei es aber unstreitig, dass es auf ein willentliches Verhalten des Opfers nicht ankomme, eine Nötigung also auch dann vorliege, wenn der Täter das Opfer durch vis absoluta zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zwinge. Warum dies bei § 253 StGB anders sein solle und hier ein willentliches Verhalten des Opfers im Sinne einer Vermögensverfügung gefordert werde, vis absoluta also ausscheide, sei nicht ersichtlich. Gerade wenn man bedenke, dass der mit vis absoluta handelnde Täter die Rechtsgüter des Opfers in der Regel schwerwiegender verletze als derjenige, der „nur“ willensbeugende Mittel einsetze, sei nicht einzusehen, warum diese schwerere Handlungsform aus § 253 StGB herausgenommen und der Täter insoweit privilegiert werde. Gleiches gelte im Hinblick auf den Wortlaut des § 249 StGB, der sich in Bezug auf die Nötigungshandlungen („Gewalt gegen eine Person“ bzw. „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“) mit dem Wortlaut des § 255 StGB decke, unzweifelhaft aber auch die vis absoluta erfasse.[94]

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Damit komme man zu dem Ergebnis, dass sich Raub und räuberische Erpressung nicht ausschließen würden, vielmehr umfasse der Tatbestand der Erpressung denjenigen des Raubes mit.[95] Der Tatbestand der (räuberischen) Erpressung sei insoweit als Grundtatbestand anzusehen, während der Tatbestand des Raubes eine Spezialvorschrift (lex specialis) darstelle, die sich durch das zusätzliche Vorliegen einer Wegnahme einer fremden Sache in Zueignungsabsicht auszeichne.[96] Liege eines dieser Elemente nicht vor und komme daher eine Bestrafung wegen Raubes nicht in Betracht, könne auf den Grundtatbestand der (räuberischen) Erpressung zurückgegriffen werden.[97]

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Gerade der Taxifahrerfall mache deutlich, dass andernfalls erhebliche Strafbarkeitslücken drohten, die nur durch die vorliegende Auslegung verhindert werden könnten. Eine mit Raubmitteln durchgeführte Gebrauchsentwendung müsse jedenfalls als räuberische Erpressung nach § 255 StGB geahndet werden, denn das Opfer verfüge zwar nicht über sein Vermögen, werde aber zur Duldung der Wegnahme genötigt. Nur auf diese Weise könne durch das Vermögensstrafrecht ein lückenloser Rechtsschutz gegen sämtliche in Bereicherungsabsicht (gewaltsam) herbeigeführten Vermögensschädigungen erreicht werden. Es dürfe letztlich keine Rolle spielen, ob der Täter sich den Besitz gewaltsam dadurch verschaffe, dass er die Sache wegnehme oder sie sich geben lasse. Auch sei nur dadurch eine Parallele zu § 240 StGB möglich, denn hier sei – bei gleichem Wortlaut – auch eine mit vis absoluta durchgeführte Nötigung tatbestandsmäßig.

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