Читать книгу Geocaching - Tödliche Weihnacht in Oberstdorf (NEUFASSUNG) - Dieter Krampe - Страница 9
Kapitel 3 - Loretto 20.12., morgens
ОглавлениеDie Sonne lacht weiterhin von einem fast makellos blauen Himmel. In der Nacht war die Temperatur auf - 5° C herunter gegangen. Raureif hat sich wieder auf die Dächer und Gärten der Nachbarschaft gelegt.
Kurz vor zehn Uhr verlässt Robert Schibulsky seine Wohnung in der Nähe des Oberstdorfer Bahnhofs. Nach wenigen Minuten erreicht er gerade noch den Bus nach Birgsau. Dicht gedrängt quetschen sich schon jetzt die Skifahrer mit ihren Brettern und Stöcken in den Bus, der sie zur Fellhornbahn bringt. Nicht einmal zehn Minuten später steht der Hauptkommissar AD vor den drei Lorettokapellen im Süden des Marktortes. Diese bilden laut Broschüre der Kirchengemeinde „ein einzigartiges Ensemble der süddeutschen Sakralarchitektur“. Rechts, das bedeutet im Süden, befindet sich die jüngste und größte der drei Kapellen: die Josefskapelle, die 1671 errichtet wurde.
Robert öffnet die unverschlossene Holztür. Doch nach drei Schritten versperrt ein Eisengitter seinen Weg in die rechteckige Kapelle. Sein Blick schweift kurz von rechts nach links. Er erkennt den wertvollen Palmesel aus dem Jahr 1729, der erst seit gut hundert Jahren aus der Pfarrkirche im Ort hierher gebracht und aufbewahrt wird, und den Hochaltar an der gegenüberliegenden Nische mit der Abbildung der Heiligen Familie, bei der neben der Jungfrau Maria der heilige Josef ins Zentrum rückt. Über dem Bild erinnert Robert eine Inschrift an den eigentlichen Grund seines morgendlichen Ausflugs: „MORTEM MORIENDO DESTRUXIT“ – „Durch seinen Tod hat er den Tod vernichtet.“
Robert verlässt die Kapelle und biegt nach rechts zur mittleren Kapelle, die diesem Ort den Namen gegeben hat: Maria Loretto. Die Flur, auf der die Gotteshäuser gebaut wurden, soll der Überlieferung nach einer vornehmen Dame namens Loretha gehört haben.
„Hier bist du richtig!“, denkt sich Robert. Eine weiße Tafel vor dem Eingang bestätigt ihn. Sie verkündet allen Interessierten, dass in dieser Marienkapelle samstags um 9:00 Uhr und dienstags um 19:00 Uhr die Messe gelesen wird. Erwartungsfroh betritt er durch eine niedrige Seitentür einen Vorraum, von dem man eine stets geschlossene Tür zum Inneren der mittleren Kapelle aufdrücken kann.
Der Innenraum der 1657 errichteten Kapelle ist sonnendurchflutet durch die großen Fenster, deren Eisengitter ihre Schatten auf den Mittelgang werfen. Die Form eines regelmäßigen Achtecks ist gut zu erkennen. Rechts und links des Ganges stehen je acht Reihen Holzbänke; die insgesamt zirka hundert Gläubigen Platz bieten. Am Ende des Mittelganges versperrt ein massives und reich geschmiedetes Eisengitter den Zugang zum Altarraum. In der Mitte befindet sich eine Tür, die jetzt mit einem dicken Schloss gesichert, aber während einer Messe sicherlich geöffnet wird. Dahinter erstrahlt der prachtvolle Rokokohochaltar von 1741. Zentral ist das altehrwürdige Gnadenbild eingefügt, die bekleidete Madonnenfigur, die ursprünglich um 1500 entstand und auf dem Altar der benachbarten älteren Appachkapelle stand.
Schibulsky schaut sich anschließend intensiv im Zuhörerbereich um. Da die Kapelle seit dem Tod des Kaplans nicht mehr gereinigt worden zu sein scheint, hofft er, vielleicht noch etwas Verdächtiges zu finden. Trotz Einsatz von Taschenlampe und Handfeger, den der Kommissar im Vorraum gefunden hat, stellt sich als einzige Ausbeute einige unter die Bänke geklebte Kaugummis, eine wohl aus Versehen herausgerissene Ecke einer Gebetbuchseite 126/127 und ein grüner Schraubverschluss einer kleinen Flasche ein, die er in der rechten vorderen Ecke fand, über der auf einem Gemälde die seit 1665 stattfindende Wallfahrt aus dem Tiroler Lechtal dargestellt ist.
Der Kommissar füllt alle Fundstücke in kleine Plastiktüten, die er stets dabei hat, eine seiner Marotten, die er aus seiner aktiven Zeit wie eingebrannt übernommen hat, und steckt sie in seine Jackentasche.
Er schaut grimmig und schüttelt ungläubig den Kopf. Wenn sein alter Freund Endras mit seinem Mordverdacht Recht habe sollte, hätte er sich doch zum Beispiel Schleifspuren oder andere Indizien gewünscht. Fehlanzeige.
Enttäuscht verlässt Robert die Marienkapelle und stapft durch den Restschnee hinüber zur allein stehenden Appachkapelle, in der der tote Kaplan gefunden worden war. Der Name leitet sich vom Wort „Abbach“ ab. Der mittlere der drei Quellflüsse der Iller, also die Stillach, war im Mittelalter oft verheerend über ihr Flussbett getreten und hatte die Felder des Oberstdorfer Ösch und die Ernten zerstört. Da gelobten die Oberstdorfer eine Kapelle zu errichten, wenn der Fluss einen anderen Ablauf nehmen würde. Dies trat tatsächlich nach einem Bittgang mit Kreuz und Fahne ein.
Die Appachkapelle ist viel, viel kleiner als die beiden anderen. Sie wurde nachweislich bereits im Jahr 1493 geweiht. Ihr Grundriss ist ein unregelmäßiges Achteck mit Wandmalereien an drei ihrer Innenwände, die allerdings nach einigen Übertünchungen nur schwer erkennbar sind.
Zu Roberts Erstaunen ist die Eingangstür hier offen. Er betritt den nur ca. 6 m großen Raum, der in der Mitte durch drei Krippenbilder von ca. 1,50 m Höhe geteilt ist, die aus der Zeit um 1725 stammen und auf ganzer Breite den Durchgang zur barocken Holzskulptur eines Auferstehungschristus versperrt.
Direkt hinter den Stellwänden ragen drei Tannenbäume bis fast unter die Holzdecke. Robert versucht die Holzwände des Krippenbildes von der Mauer zu bewegen. Am rechten Bild, auf dem einer der drei heiligen Könige das neu geborene Jesuskind in Händen hält, hat er Erfolg. Diese Tafel lässt sich in die Mitte des Raumes drehen. Hinter der Wand hat ein einfacher Stuhl kaum Platz neben den Tannen und dem kleinen Altartisch mit einem gekreuzigten Christus am Holzkreuz.
Der Kommissar muss diese Skulptur noch einmal genau betrachten. Richtig, das ist ja der sogenannte „Auferstehungschristus“, der vor zwei Jahren gestohlen und dank seines Eingreifens wieder zurückgebracht worden war. Ein wenig Stolz steigt in ihm auf, dann setzt er seine Untersuchung fort.
Hinter dem Stuhl befindet sich ein riesiger Blutfleck, deren Spritzer sich bis hoch zum südöstlichen Fenster erstrecken. Dieser hat fast die Form eines Heiligenscheins, allerdings nicht golden wie auf fast allen Gemälden des Mittelalters. Hier muss zweifelsohne der tödliche Schuss erfolgt sein.
Robert sucht auch in dieser Kapelle nach Gegenständen, die mit dem Tod des Kaplans in Zusammenhang stehen könnten. Auf den braunen Bodenfliesen findet er genau auf der Kreuzabbildung ein ausgespucktes Kaugummi. An der rechten Stellwand hängt ein Stückchen Stoff. Beides verschwindet wieder in Roberts Folientütchen.
Das Licht seiner starken Taschenlampe zeigt auch vor den Krippenbildern leichte Blutspuren, die auf weggewischte Schuhabdrücke schließen lassen.
„So viel Arbeit hätten sich die Kripobeamten oder die Leichenträger wohl kaum gemacht“, sinniert die Spürnase und wischt das Blut in ein Papiertaschentuch.