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Physikalische Sicht von Sein und Werden

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Die auf Sprache und Begriffen fußende philosophische Analyse von Sein und Werden umfasst einerseits den uneingeschränkten Lebensbezug, beinhaltet jedoch andererseits ein hohes Maß an Unschärfe bei fehlender Quantifizierung. Demgegenüber wird in den thematisch enger eingegrenzten Naturwissenschaften scharf definiert und logisch argumentiert, wobei mathematische Modelle, Klassifikationsschemata, Quantifizierungen und der Vergleich mit Messergebnissen eine zentrale Rolle spielen. Das gilt in besonderer Weise für die Physik als Leitdisziplin der Naturwissenschaften. Was kann aus Sicht der Physik zum Verhältnis von Sein und Werden ausgesagt werden?

Die nachfolgenden Ausführungen in Anlehnung an Ilya Prigogine beziehen sich einerseits auf die klassische Dynamik und die Quantenmechanik – diese Bereiche sind einer »Physik des Seins« zuzuordnen – und andererseits auf die Thermodynamik der Gleichgewichts- bzw. Nichtgleichgewichtsprozesse, die sich als eine »Physik des Werdens« erweist.5 Im Rahmen der klassischen Physik war die Zeit ein Parameter zur Beschreibung von reversiblen Vorgängen, die das Entstehen von Leben nicht erklären konnten. In der modernen Physik ist die Frage nach dem Wesen der Zeit zu einem physikalischen Problem erhoben, das mit der Irreversibilität von komplexen Vorgängen in Verbindung steht.6

Zur Physik des Seins: Nach der klassischen Dynamik, deren Grundlagen von Galilei und Newton gelegt wurden, lässt sich die Bewegung eines Körpers im Raum als »Trajektorie« eindeutig angeben, wenn der Anfangszustand und die im Raum wirkenden Kräfte (nach Newton die universal wirksame Schwerkraft) bekannt sind. Eine Differentialgleichung ist über die Zeit zu integrieren. Die Trajektorie ist streng determiniert, die Körperbewegung auf der Trajektorie zu jedem Zeitpunkt reversibel. Zukunft und Vergangenheit sind durch den Anfangszustand festgelegt. Der »Laplacesche Dämon«, der den gegenwärtigen Bewegungszustand aller Atome im Kosmos kennt, wäre in der Lage, Zukunft und Vergangenheit des Weltgeschehens exakt anzugeben.

Bei den komplexeren Mehrkörpersystemen, deren dynamisches Verhalten ausgehend von der Hamilton-Funktion berechnet werden kann, ist der Anfangszustand nur mit begrenzter Genauigkeit angebbar, was eine statistische Beschreibung erforderlich macht. Ensembles von Trajektorien sind zu betrachten, deren strenge Determiniertheit zugunsten von statistischen Verteilungsfunktionen aufgehoben ist (Hamilton-Operator). Außerdem ist die Messung des Anfangszustands ein irreversibler Vorgang. Das Messergebnis hängt von den Bedingungen der Messung ab. Diese Phänomene treten besonders ausgeprägt in der Quantenmechanik auf, die neben der Determiniertheit auch die Kontinuität der Trajektorien aufgibt, jedoch an deren Reversibilität festhält. Anstelle der Hamilton-Funktion tritt in der Quantenmechanik die Schrödinger-Wellengleichung mit Hamilton-Operator. In der Relativitätstheorie sind irreversible Vorgänge nicht angesprochen. Albert Einstein beharrte darauf, dass die beobachtete Indeterminiertheit nur scheinbar auftritt: »Gott würfelt nicht«.

Zur Physik des Werdens: Thermodynamische und chemische Prozesse lassen sich nicht nach den Bewegungsgesetzen der klassischen Dynamik erklären. Bei diesen Prozessen spielen irreversible Vorgänge und die damit verbundene Vorzugsrichtung der Zeit eine maßgebende Rolle. Das reicht von dem relativ einfachen Vorgang der Wärmeleitung bis zu den komplexeren chemischen Prozessen. Das Maß an Nichtumkehrbarkeit dieser Prozesse wird durch die thermodynamische Zustandsgröße »Entropie« gekennzeichnet.

Die dabei betrachteten energetisch und materiell abgeschlossenen Systeme stellen einen Sonderfall dar, der so in der Natur nicht auftritt. Zu seiner Realisierung im Experiment bedarf es besonderer äußerer Maßnahmen, die im Unterschied zum experimentell isolierten Vorgang irreversibel sind, in die Systembetrachtung aber nicht einbezogen werden. Alle realen Natursysteme sind jedoch offene Systeme, es findet Energie- und Materieaustausch mit der Umgebung statt. Es ist dies das Gebiet der Nichtgleichgewichtsthermodynamik. Im gleichgewichtsnahen Bereich ist eine lineare Theorie anwendbar, über die gezeigt werden kann, dass sich ein stationärer thermodynamischer Zustand mit geringstmöglicher Dissipation einstellt. Das Entropiemaß bleibt anwendbar. Im statistischen Mittel gibt es eine zeitliche Vorzugsrichtung, nämlich die zum Fließgleichgewicht hin.

Ein gänzlich andersartiges Verhalten tritt in großer Entfernung vom Gleichgewicht auf. Aus dem fluktuierenden Nichtgleichgewichtszustand entstehen in »Selbstorganisation« ganz neue strukturelle Gebilde und funktionale Ordnungen, im anorganischen hydrodynamischen Bereich beispielsweise die Konvektionszellen bei einseitiger Erhitzung einer horizontalen Schicht (Bénard-Instabilität), im organischen chemischen Bereich beispielsweise die Proteinsynthese unter katalytischer Mitwirkung der Enzyme.

Bei den vorstehend erwähnten katalytischen Reaktionen spielen Rückkopplungsschleifen eine entscheidende Rolle. Von Autokatalyse wird gesprochen, wenn das Vorhandensein des Produkts die Voraussetzung für die eigene Synthese ist. Bei gegenseitiger Katalyse ist ein Zweitprodukt als Reaktionspartner rückkoppelnd eingeschaltet. Die Rückkopplung kann auch über weitere Reaktionspartner erfolgen (Hyperzyklen).

Die der mathematischen Beschreibung von Selbstorganisationsprozessen zugrunde liegenden Differentialgleichungen sind nichtlinear. Es treten in den Lösungen thermodynamische Instabilitäts- oder Verzweigungspunkte auf, in denen Fluktuationen darüber entscheiden, welcher thermodynamische Ast (bis zur nächsten Verzweigung) weiterverfolgt wird. Instabilitätspunkte und stabile Bereiche wechseln sich ab.

Damit erhalten die entsprechenden thermodynamischen und chemischen Prozesse eine irreversible Richtung in der Zeit. Jeder Entwicklungsvorgang ist einzigartig und nicht wiederholbar. Zu den neu entstehenden Ordnungsformen gehören die Musterbildungen unterschiedlicher Art oder auch die periodischen Veränderungen chemischer Konzentrationen, die als »biochemische Uhren« wirken. Das ursprüngliche Entropiemaß ist nicht mehr anwendbar. Bifurkations- und Chaostheorie sind zugehörige mathematische Beschreibungsweisen.

Zwischen der Physik des Seins, also der reversiblen Welt der Trajektorien, und der Physik des Werdens, also der irreversiblen Welt der Prozesse, scheint eine unüberbrückbare Divergenz zu bestehen. Der vormals häufig vorgebrachte Einwand, die Irreversibilität sei nur ein scheinbares Phänomen, drücke nur die Unwissenheit des Beobachters über die Mikrovorgänge aus (subjektivistische Interpretation der Irreversibilität), wird nicht mehr vertreten, nachdem in den Phänomenen der dynamischen Instabilität die Wirkung des Zufalls aufweisbar ist. Zwei Brückenschläge zwischen den zwei Physikbereichen werden in Erwägung gezogen.5 Zum einen wird in der kinetischen Gastheorie zwischen reversibel frei sich bewegenden und irreversibel zusammenstoßenden Teilchen unterschieden, wobei letzterer Vorgang als Markov-Prozess beschrieben wird. Zum anderen kann eine mikroskopische Theorie irreversibler Prozesse konzipiert werden, die in Umkehrung der bisherigen Vorgehensweise das Sein aus dem Werden erschließt. An die Stelle der Elementarteilchen treten dann Elementarereignisse, wie es Phänomene in der Kernphysik nahelegen.

In der klassischen Physik erscheint die Zeit als reversible Größe, die zu eliminieren ist, um das eigentliche Sein in Erscheinung treten zu lassen. Die Irreversibilität zeitlicher Vorgänge gilt als Illusion, die Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als subjektive Täuschung. Auch in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie wird an der Symmetrie der Zeit festgehalten. Einstein glaubte an den Gott Spinozas, einen mit Natur und Rationalität gleichgesetzten Gott, der keine Schöpfung, keine Kontingenz (Zufälligkeit im Sinne von fehlender Notwendigkeit) und keine Freiheit zulässt.

Die heutige Physik sieht in der Zeit eine anfänglich mit der Entropieerzeugung gleichgerichtete irreversible Größe, über der sich Zustandsverzweigungen an Instabilitätspunkten ausbilden, was die Vielfalt der Erscheinungen in der Natur hervorruft. Irreversibilität der Zeit bedeutet Brechung der Zeitsymmetrie, Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Auch der Beobachter oder Experimentator, aufgefasst als Teil des Systems, wirkt als irreversibler Prozess in der Zeit.

Aus den vorstehenden Ausführungen geht hervor, dass der klassischen Physik des Seins eine umfassendere Physik des Werdens gegenübersteht. In den Naturvorgängen drückt sich die Irreversibilität als Vorzugsrichtung der Zeit aus, die Symmetrie der Zeit ist gebrochen. Abgeschlossene Systeme streben auf einen Gleichgewichtszustand mit maximaler Entropie zu. Gleichgewichtsnahe offene Systeme nähern sich einem Zustand geringstmöglicher Dissipation. Gleichgewichtsferne offene Systeme ermöglichen die aufstrebende Selbstorganisation im Zusammenwirken von Zufall und Notwendigkeit. Die angesprochene Einbeziehung des Beobachters oder Experimentators in das physikalische System wirft allerdings das Problem auf, wie dann systemunabhängige Erkenntnis möglich sein soll (das »Münchhausen-Dilemma«).

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