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Philosophische Sicht von Sein und Werden
ОглавлениеDie Frage nach dem Verhältnis von Sein und Werden steht am Anfang der abendländischen Philosophie. Parmenides erhob das Sein zur eigentlichen Realität, während das Werden nur ein Schein sei. Dem ist Platon weitgehend gefolgt. Die Gegenposition vertrat Heraklit. Alles sei im Fluss, ein beständiges Sein sei nicht auszumachen. Aristoteles gelang es, den Gegensatz der Auffassungen aufzulösen. Alles Werden sei notwendigerweise verursacht, die Kausalität verbinde Sein und Werden. Aristoteles bestimmte zwei innere und zwei äußere Ursachen. Als innere Ursachen gelten causa materialis und causa formalis, Stoffursache und Formursache, als äußere Ursachen dagegen causa efficiens und causa finalis, Wirkursache und Zieloder Zweckursache. Werden ist Verwirklichung des Möglichen: »Das der Wirklichkeit nach Seiende ist immer früher als das der Möglichkeit nach Seiende« (Metaphysik Θ,8). Das Seinsprinzip des Werdens setzt sich zusammen aus dem schon verwirklichten »Akt« und der noch nicht verwirklichten »Potenz«. Mit der Differenzierung zwischen aktuellem (früherem) und potenziellem (späterem) Sein ist die Brücke zwischen Sein und Werden gefunden. Das aktuell Seiende hat die Möglichkeit der Veränderung. So sind Wirklichkeit und Möglichkeit in der erfahrbaren Welt immer miteinander verflochten. Nur im Überschritt vom Endlichen zum Unendlichen ist Wirklichkeit in absoluter Reinheit (actus purus) darstellbar, Bewegung ohne bewegende Kraft, unabhängiges Sein. Ausgehend von diesem Gedankengang gilt Gott als der unbewegte Beweger, als stofflose Substanz, als reine Form, als Ursache seiner selbst (causa sui). Die Vollkommenheit Gottes bedingt Unwandelbarkeit und zeitlose Ewigkeit.
Dieses aristotelische Weltbild wurde zur Zeit der Scholastik von christlichen Theologen, insbesondere von Thomas von Aquin, zusammen mit neuplatonischen Elementen Bestandteil der christlichen Heilslehre. Die mit der Renaissance aufblühende moderne Naturwissenschaft wandte sich gegen das aristotelische Weltbild, dessen Kausalitätsbegriff sie dennoch in der auf die causa efficiens eingeschränkte Form übernahm, während anstelle der causa finalis im Naturgeschehen das Naturgesetz trat.
In der Philosophie der jüngeren Vergangenheit wurde das dem Sein und Werden inhärente Verhältnis von Sein und Zeit durch Martin Heidegger existenzial gedeutet.1 Das Geworfensein des Menschen in die zeitliche Existenz sei begleitet von der Sorge. Eine an den Phänomenen der Realwelt orientierte umfassende Seinslehre (Ontologie) hat Nicolai Hartmann vorgelegt.2 Eine bedeutsame, ebenfalls an der Realwelt sich ausrichtende spekulative Alternative wurde von Alfred N. Whitehead entwickelt (»Prozessphilosophie« oder »organismische Philosophie«).3 Der Prozess, das kreative Werden, wird zum Kern der Realität erklärt, die aus unzähligen Einzelereignissen bzw. Einzelwesen (actual entities) gebildet wird. In der neueren Philosophie wird somit das Werden zum Seinsmodus des Realen erklärt, dem Trend der Zeit zu einem evolutionistischen Weltbild entsprechend.
Lange vor Heidegger, Hartmann und Whitehead hat der japanische Zen-Meister Dogen Zenji (1200–1253) den Begriff »Sein-Zeit« zum Schlüsselbegriff seiner Philosophie erhoben.4 Sein-Zeit ist die gesamte Seinswirklichkeit in ihrem Werdecharakter.