Читать книгу Philosophische Grundbegriffe der Naturwissenschaften - Dieter Radaj - Страница 7
ОглавлениеEinführung
Erläuterung der Themenstellung
Die Naturwissenschaften bestimmen das Weltbild des heutigen Menschen, im Unterschied zu vergangenen Zeiten, in denen das religiöse Weltbild im Vordergrund stand. Die Naturwissenschaften sind außerdem die Basis moderner Technik und damit Grundlage des Lebensvollzugs des heutigen Menschen.
Die Naturwissenschaften erheben den Anspruch, die gesamte unbelebte und belebte Natur als ein einheitliches System zu beschreiben, in dem Naturgesetze herrschen: ohne Naturgesetze keine Naturerkenntnis, ohne Naturerkenntnis keine wissenschaftlich fundierte Technik.
Während die Stärken der Naturwissenschaften in Bezug auf Erkenntnis und deren technische Anwendung hinreichend bekannt sind, werden ihre Grenzen selten reflektiert. Nur eine in die allgemeinere Naturphilosophie eingebundene Naturwissenschaft steht im Einklang mit einer menschlichen Existenz, die alle Möglichkeiten der Erkenntnis nutzt. Bedenkt man die ursprünglich allgemeinere Bedeutung der Physik als Naturlehre (gr. physike episteme), dann wird deutlich, dass die frühen griechischen Naturphilosophen keine Physik ohne Metaphysik betrieben haben, denn sie suchten nach dem Urgrund des Seins. Aber genau dies, nämlich die Einbeziehung der Metaphysik, steht dem Selbstverständnis der klassischen und modernen Physik konträr entgegen.
Es ist demnach Aufgabe einer modernen Naturphilosophie, die sich als angewandte Metaphysik definieren kann, die Einbettung der Naturwissenschaften in die Naturphilosophie aufzuzeigen. Dadurch werden die Grenzen der naturwissenschaftlichen Theorien sichtbar. Dies geschieht am besten ausgehend von einigen Grundbegriffen der Naturwissenschaften, die der philosophischen Reflexion bedürfen.
Thematisch relevante Angaben zu den Naturwissenschaften
In der klassischen und modernen Physik werden die Grenzen einer Theorie erst dann sichtbar, wenn eine neue umfassendere Theorie aufgestellt wird. Der Physiker Werner Heisenberg spricht von »abgeschlossenen« alten Theorien. Aber auch die neue Theorie bedarf der Metaphysik, um nicht nur mathematisch, sondern auch physikalisch verständlich zu bleiben (Beispiel Quantentheorie).
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn führt den aus seiner Sicht revolutionären Wandel wissenschaftlicher Theorien auf wiederholte Paradigmenwechsel zurück. Unter Paradigma versteht er: »Eine Gesamtkonstellation von Überzeugungen, Werten, Verfahrensweisen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft geteilt werden«. Hier ist das metaphysische Element vordergründig durch ein kommunikatives Element ersetzt. Dabei wird aber die vom Wissenschaftler geforderte Orientierung an den beobachtbaren Fakten heruntergespielt und die Bedeutung der Theorie als Voraussetzung von Faktenbeobachtung überbetont.
Die erkenntnistheoretisch treibende Kraft hinter den physikalischen Theorien ist die Suche nach der Einheit in der (anorganischen) Natur, also ein ganz und gar metaphysisches Anliegen. Dies hat der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker wiederholt hervorgehoben. Die Mannigfaltigkeit der physikalischen Erscheinungen soll auf ein einziges Prinzip, mathematisch als »Weltformel« ausgedrückt, zurückgeführt werden (Werner Heisenbergs Bemühen in seinen letzten Jahren). Das bei der Formulierung physikalischer Theorien unerlässliche Verfahren der experimentellen Bestätigung bzw. Falsifikation verbürgt dabei eine zunehmende Verbesserung der Realitätsnähe.
So beeindruckend die Erfolge der Physik auch sind, sie betreffen nur den Bereich der anorganischen Natur, von deren evolutionärem Gewordensein im Rahmen der Physik abgesehen wird. Ganz anders verhält es sich mit der Biologie, deren Gegenstände nur unter Einbeziehung der evolutionären Komponenten hinreichend erklärt werden können. Während die Physik von orts- und zeitunabhängigen Elementen ausgehen kann (ein Wasserstoffatom verhält sich gleich auf Erden und in fernen Galaxien), variieren die Individuen einer Spezies aufgrund ihrer je eigenen Evolutionsgeschichte. Das gilt bereits für die einfachsten einzelligen Lebewesen. Im Bereich der organischen Natur kann ein Gleichgewicht nur als statistischer Mittelwert mit relativ großer Streuung festgestellt werden. Die Streuung ist Voraussetzung für die evolutionäre Wirksamkeit des von Charles Darwin hervorgehobenen Prinzips der natürlichen Auslese, das dem Bestangepassten die größten Überlebenschancen zuordnet. Dieses geradezu tautologisch anmutende Prinzip hat im Zusammenwirken von Zufall und Notwendigkeit die Gestalten- und Prozessfülle der organischen Natur hervorgebracht.
Zwischen den Theorien der unbelebten (anorganischen) und der belebten (organischen) Natur muss also grundsätzlich unterschieden werden. Dabei ist festzuhalten, dass die physikalischen Gesetze auch in der belebten Natur gültig bleiben, dass sie aber allein die Lebensprozesse nicht erklären können.
Mit den thematisch relevanten Angaben zur Physik und zur Biologie ist hinreichend begründet, dass die Naturwissenschaften jenseits ihrer Erkenntnisse und Anwendungserfolge eines philosophischen bzw. metaphysischen Rahmens bedürfen, um der Weltwirklichkeit ganzheitlich gerecht zu werden. Diesen Rahmen kann die Philosophie bzw. Metaphysik prinzipiell bieten. Allerdings hat sich die Philosophie seit den Anfängen der neuzeitlichen Naturwissenschaft wenig aufgeschlossen gezeigt, diese Herausforderung auch anzunehmen.
Thematisch relevante Angaben zur Naturphilosophie
Wie sich die Naturphilosophie zur Zeit der Naturwissenschaften im Einzelnen entwickelt hat, kann philosophischen Wörterbüchern entnommen werden (Stichwort »Naturphilosophie«). Hier seien nur die für die angesprochene Einbettung der Naturwissenschaften besonders wichtigen Angaben zusammengestellt. Die Philosophen der deutschen Aufklärung, Christian Wolff und Immanuel Kant, haben unter Naturphilosophie eine »Metaphysik der Natur« verstanden, die von den Prinzipien und Gesetzen der Naturwissenschaft handelt. Allerdings schränkt Kant die Metaphysik auf die Voraussetzung von Erfahrung ein. Die der rationalen Naturphilosophie von Kant folgende spekulative Naturphilosophie von Schelling und Hegel hat den Realitätsbezug der Naturwissenschaften durch ein geistiges Prinzip ersetzt, was die anzustrebende Einbettung der Naturwissenschaften unmöglich machte. Die spätere Naturphilosophie hat sich die Aufgabe gestellt, die naturwissenschaftlichen Begriffe zu klären und die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem ganzheitlichen Bild der Natur zu vereinen.
Eine umfassende Philosophie der Natur hat in neuerer Zeit der Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) vorgelegt. Ausgehend von einer allgemeinen Kategorienlehre, die den Aufbau der realen Welt wiedergibt, wird eine spezielle Kategorienlehre entwickelt, die die Philosophie der Natur begründet. Die Verstandeskategorien sind zugleich Seinskategorien. Damit ist die Basis für eine allgemeine bzw. spezielle Seinslehre (»Ontologie«) gelegt. Die reale Welt zeigt sich in vier Seinsschichten, der anorganischen, organischen, seelischen und geistigen Schicht. Alle Seinsschichten werden von den elementaren Gegensatzkategorien durchdrungen. Jede Schicht besitzt darüber hinaus ihre besonderen Seinskategorien. Zwischen den Schichten herrschen ontologisch und kategorial wirksame Dependenzgesetze. In das Hartmannsche Konzept der Seinsschichten lassen sich die Vorgehensweisen und Ergebnisse der Naturwissenschaften zwanglos einfügen.
Die Hartmannsche Ontologie hat zwar unter Philosophen die angemessene Beachtung gefunden, ist aber den Naturwissenschaftlern weitgehend unbekannt geblieben. Eine Ausnahme ist der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der in seinem umfassend angelegten Werk Die Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens auf Hartmanns Konzept der Schichten des realen Seins ausführlich eingeht. In den Darstellungen des vorliegenden Buches sind Teile der Hartmannschen Ontologie integriert.
Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie
Naturwissenschaft und Naturphilosophie sind über das begriffliche Denken miteinander verbunden. Begriffe vermitteln geistige Vorstellungen, die über die sinnliche Anschauung weit hinausgehen. Sie ermöglichen das abstrakte Denken, das in den Naturwissenschaften zu den mathematischen Theorien hinführt, während in der Naturphilosophie die sprachliche Ebene nicht verlassen wird.
Die gemeinsamen Begriffe sind daher das eigentliche Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Sie werden einerseits philosophisch gedeutet und andererseits wissenschaftlich definiert. Die Ausführungen des vorliegenden Buches sind daher nach Grundbegriffen gegliedert, die in beiden Bereichen zur Naturbeschreibung verwendet werden. Weitere gemeinsame Begriffe sind in den Ausführungen selbst angesprochen. Zu den Begriffen wird der Stand der philosophischen Reflexion und naturwissenschaftlichen Erkenntnis mitgeteilt. Nicht nur die Naturwissenschaft findet Grenzen in der Naturphilosophie, auch die Naturphilosophie muss sich von den Naturwissenschaften korrigieren lassen.
Die Darstellungsweise des vorliegenden Buches lässt sich als Brückenbauwerk veranschaulichen. Die Brücke verbindet Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Sie führt über einen Abgrund von Nichtwissen und Fehldeutung. Der Baugrund auf beiden Seiten erlaubt solide Brückenpfeiler, von denen aus die Brückenträger auskragend vorangetrieben werden. Sie treffen sich nicht genau in der Mitte des Bauwerks, sondern laufen nach der Begegnung eng nebeneinander her, ohne allerdings das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Aber die beiden Kragbalken sind belastbar, und wer die Mühe des Wechsels der Balken nicht scheut, kann das andere Ufer erreichen.