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Nicolai Hartmanns Philosophie des Geistes
ОглавлениеWährend die kategoriale Ordnung der niederen Seinsschicht der anorganischen Natur in Kapitel III unter der Überschrift »Kausalität und Wechselwirkung« behandelt wird, geschieht dies für die aufliegende Seinsschicht der organischen Natur in Kapitel IV unter der Überschrift »Determination des Lebendigen«. Die nächsthöhere Seinsschicht des Psychischen wird von N. Hartmann mit Ausnahme der vorstehenden Angaben zu Bewusstsein und Willensfreiheit nicht behandelt. Zur obersten Seinsschicht des Geistigen liegen Ausführungen des frühen Hartmann vor, die nachfolgend zusammengefasst werden.12
Die geistige Welt ist die oberste Seinsschicht des Realen. In der Geschichte der Philosophie hat das zu ungerechtfertigten metaphysischen Spekulationen geführt, etwa der Art, der Geist sei das einzig Reale und allem Irdischen übergeordnet. Demgegenüber haben wir es nach Hartmann nur mit dem Geist »in den Grenzen unseres Erfahrungsfeldes« zu tun.10 Der Geist als Bewusstseinsvorgang und Denkakt ist zeitlich bestimmt und individuell gebunden. Der geistige Gehalt des Denkens ist hingegen vom Individuum ablösbar und auf andere Individuen übertragbar. »Das Bewusstsein trennt die Menschen, der Geist verbindet sie«.10
Hartmann unterscheidet die drei »klassischen« Seinsformen des Geistes: den personalen Geist eines Einzelnen, den objektiven Geist einer Geistesgemeinschaft (Gemeingeist) und den objektivierten Geist, der sich in den abgeschlossenen geistigen Schöpfungen manifestiert. Diese Seinsformen stellen keine Fortsetzung der Schichtenstruktur dar, sie überformen oder überbauen sich nicht, sondern sie stehen im Verhältnis gegenseitigen Tragens und Getragenwerdens.
Der personale Geist ist an die individuelle Person gebunden. Er wird er selbst durch das Hineinwachsen des Individuums in die Sphäre des objektiven Geistes. Dabei wird der Mensch als ein geistiges Wesen verstanden, das von der unmittelbaren Herrschaft der Triebe frei geworden ist und durch seine Distanziertheit von den Ereignissen und Dingen Objektivierungen ermöglicht. Der personale Geist spiegelt die reale und ideale Welt. Er lebt die geistige Gemeinschaft. Er ist Mitträger des objektiven Geistes.
Der objektive Geist einer Gemeinschaft (Gemeingeist), beispielsweise eines Volkes, tritt als gemeinsamer geistiger Besitz in Erscheinung. Nach Hartmann gehört dazu vor allem die Sprache. Mit erheblichem Abstand folgen: Produktion und Technik, bestehende Sitte, geltendes Recht, vorherrschende Wertungen, herrschende Moral, herkömmliche Form der Erziehung und Bildung, vorherrschender Typus der Gesinnung, Richtung der Kunst, Stand der Wissenschaft, herrschende Weltanschauung (Religion, Mythos, Philosophie). Besonders fassbar ist der objektive Geist in den zugehörigen Denknormen, in den Begriffen und Urteilen.
Das dargestellte Konzept des subjektiven (personalen) und objektiven Geistes ist von Hegel übernommen, der den von jedem irdischen Träger unabhängigen absoluten Geist hinzufügt, den als ideales Ganzes betrachteten göttlichen Geist. Hartmann löst das Hegelsche Konzept aus der idealistischen Philosophie, indem er zwölf Gegenthesen aufstellt. Zu den Gegenthesen gehört, dass der Geist als das ontologisch Sekundäre auf dem materiellen Sein ruht. Der objektive Geist ist daher nicht Träger des Geschichtsprozesses, und sein Wandel ist nicht von Zwecken geleitet. Hartmann sieht einen Grundirrtum Hegels darin, dass im geistigen Leben für wahr und wesentlich gehalten wird, was allgemeine Geltung hat. Es wird verkannt, dass es auch Verirrungen des objektiven Geistes gibt. Nur die Wissenschaft gilt Hartmann als »Reich reiner Echtheit«.
Als dritte Seinsform neben personalem und objektivem Geist benennt Hartmann den objektivierten Geist. Dieser umfasst die vom Geist »aus sich herausgestellten« Objektivationen: das kodifizierte Gesetz, die festgeschriebene wissenschaftliche Erkenntnis, das vollendete Kunstwerk. Der lebendige Geist dessen, der das Werk des objektiven Geistes schuf, wird von der das Werk aufnehmenden Person wiedererweckt.