Читать книгу Philosophische Grundbegriffe der Naturwissenschaften - Dieter Radaj - Страница 14
Aufbau der realen Welt, Schichtenstruktur und Kategorien
ОглавлениеDas reale Sein zeigt die Struktur der Schichtung. In der neueren Philosophie kommt der Schichtungsgedanke vor allem in der Scheidung von Natur und Geist zum Ausdruck. Die niederen Gebilde der Natur stehen den höheren Gebilden des Geistes gegenüber. Zugehörig sind die Kategorien des realen und des idealen Seins, sowie die Kategorien der Erkenntnis.
»Kategorie« (griechisch) bedeutet dem Wortsinn nach »Aussage« oder »Prädikat« (lateinisch). Kategorien sind demnach ursprünglich dem Denken zugeordnet. Die Erkenntniskategorien müssen sich notwendigerweise an den Realkategorien des Seins ausrichten, sind jedoch mit ihnen nicht identisch. Die Unterscheidung der Realkategorien von den Erkenntniskategorien vermeidet die Einseitigkeit des Positivismus (nur Realkategorien) und des Idealismus (nur Erkenntniskategorien).
Der Schichtungsgedanke geht auf Platon zurück. Alles Sein ist hierarchisch geordnet. Höheres Sein, kulminierend im Absoluten, bestimmt niederes Sein. Platons Höhlengleichnis veranschaulicht diese Reflexion über Wirklichkeit und Wahrheit. Was die Gefangenen in der Höhle als Schatten sehen, sind nur die Abbilder der wirklichen räumlichen und zeitlichen Welt. Diese wiederum ist nur ein Abbild der wahrhaft seienden Welt der Ideen (Staat 514ff.).11 Der Schichtungsgedanke setzt sich weniger spekulativ in Platons Lehre von den drei Seelenteilen fort. Im unteren triebhaften Teil herrschen Lust und Unlust, im mittleren edleren Teil Eifer und Mut, im oberen geistigen Teil Vernunft und Einsicht (Politeia 435ff.). Aristoteles hat diese Vorstellung zur Seele als Stufenfolge fortgeführt. Auf unterer vegetativer Stufe herrschen Zeugung und Stoffwechsel, auf mittlerer sensueller Stufe Wahrnehmung und Begehrlichkeit, auf oberer rationaler Stufe Vernunft und Überlegung (De an B,2). Dem Sein ordnet er fünf Schichten zu: Stoff, Dinge, Lebewesen, Seele, Geist.
Der christliche Neuplatoniker Dionysius Areopagita (5./6. Jh.) sah alle Dinge und Ideen aus Gott hervorgehen, dabei eine Stufenfolge der Teilhabe an Gott bildend. Sein Strukturschema des Seins, wie es von der Scholastik übernommen wurde, stellt sich wie folgt dar (De caelesti hierarchia IV.1):11
– Seiendes geschieden in Lebloses (Steine) und Belebtes,
– Belebtes geschieden in Belebtes ohne Sinne (Pflanzen) und Belebtes mit Sinnen,
– Belebtes mit Sinnen geschieden in Vernunftloses (Tiere) und Vernunftbegabtes,
– Vernunftbegabtes geschieden in Körperloses (Intelligenzen) und Körperbehaftetes (Menschen).
Der Gedanke einer das Weltganze differenziert strukturierenden Seinsschichtung, die dem unmittelbaren Wahrnehmen und Begreifen zugängig ist, wurde jedoch in der neueren Philosophiegeschichte infolge des Einheitsbedürfnisses der spekulativen Systeme nicht fortgeführt.2 Die tatsächliche Mannigfaltigkeit der Schichten des Realen wurde in ein einheitliches Kategorienschema gezwängt. Die Grenzen der Schichten wurden verwischt, kategoriale Selbständigkeit der Schichten wurde nicht zugelassen. Die Kategorien der Gebilde höherer Ordnung wurden unzulässigerweise auf die Gebilde niederer Ordnung übertragen, etwa bei der Zuordnung eines geistigen Prinzips zur Materie in der Monadenlehre von Leibniz. Umgekehrt wurden die Kategorien der Gebilde niederer Ordnung unzulässigerweise auf die Gebilde höherer Ordnung angewendet, etwa im philosophischen Materialismus.
Gemäß der Hartmannschen Ontologie weist die reale Welt vier Hauptschichten auf, die durch drei unmittelbar einsichtige Einschnitte voneinander geschieden sind.2 Am deutlichsten wahrnehmbar ist die Scheidung von Natur und Geist. Die beiden Seinsbereiche sind nochmals je zweifach unterteilt. Die leblose anorganische Natur ist von der lebendigen organischen Natur geschieden. Die seelischen Akte heben sich vom eigentlichen geistigen Geschehen ab.
Die ontologisch vorauszusetzende Einheitlichkeit des Aufbaus der realen Welt besteht in der Einheitlichkeit des Schichtensystems und der zugehörigen kategorialen Gesetze.2 Die organische Natur erhebt sich über der anorganischen Natur. Die psychischen Akte setzen den tragenden Organismus voraus. Die Geschehnisse des Geisteslebens sind wiederum an das Seelenleben der Individuen als Träger gebunden. Die höhere Schicht ruht auf der jeweils niederen Schicht (Bedingtheit »von unten«), beinhaltet aber eine über die niedere Schicht hinausgehende Eigengesetzlichkeit und Eigenformung.
Den Schichten des Realen sind, wie nachfolgend erläutert, neben den gemeinsamen elementaren Gegensatzkategorien je eigene Kategorien zugeordnet. Ebenso wie höheres Reales auf niederem Realem ruht, sind in den Kategorien der höheren Schicht die Kategorien der niederen Schicht enthalten. Die Kategorien der niederen Schicht können unverändert oder überformt in die höhere Schicht ausgreifen, aber die weiteren, als Nova auftretenden Kategorien der höheren Schicht sind nicht in der niederen Schicht gültig. Die kategoriale Änderung an den Schichtgrenzen erfolgt nicht graduell, sondern sprunghaft. Diese Gegebenheiten entsprechen dem noch darzustellenden dritten kategorialen Gesetz. Gegen dieses Gesetz verstoßen Weltbilder, die die Kategorien der niederen Schicht bedenkenlos auf die höheren Schichten übertragen (etwa Materialismus und Psychismus), und ebenso die Weltbilder, die die Kategorien der höheren Schicht auch in den niederen Schichten wirksam sehen (etwa Panpsychismus und Monadenlehre).
Eine kontradiktorische Begriffsbildung (etwa Natur kontra Geist, Leib kontra Seele oder Tier kontra Mensch) wird der Schichtenstruktur der Wirklichkeit nicht gerecht, auch nicht Hegels Dialektik von Thesis-Antithesis- Synthesis.2 Das Gemeinsame sämtlicher Seinsschichten darf nicht übergangen werden. Der Geist bedarf der Natur, die Seele des Leibes und der Mensch des Animalischen als Basis. Die kontradiktorische, sich gegenseitig ausschließende Begriffsbildung ist aber in anderen Bereichen, etwa in der Logik oder in der Wertelehre, durchaus angemessen.
Die Fundamentalkategorien unterteilen sich in drei Gruppen.2 Die Gruppe der Modalkategorien unterscheidet die verschiedenen Seinsweisen (Seinsmodi), insbesondere Realität und Idealität sowie Möglichkeit und Wirklichkeit. Daneben steht die Gruppe der paarweise auftretenden elementaren Gegensatzkategorien, die strukturellen Charakter haben. Sie durchdringen alle Seinsschichten der realen Welt. Als dritte Gruppe lassen sich kategoriale Gesetze bestimmen, nach denen sich die Kategorien in der Schichtenstruktur ausbilden.
Die Hartmannsche Schichtenstruktur des realen Seins ist bei Naturwissenschaftlern nur unzureichend bekannt. Eine Ausnahme ist der Naturforscher Konrad Lorenz, der diese Struktur als Basis für ganzheitliche Naturerkenntnis hervorhebt.9