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20. An Karl und Paula Bonhoeffer
Оглавление5. September 1943
Liebe Eltern!
Von der vorletzten Nacht brauchen wir uns wohl gegenseitig nichts zu erzählen. Ich werde den Blick durch das Zellenfenster auf den grausigen Nachthimmel wohl nicht vergessen. Sehr froh war ich, schon am Morgen durch den Hauptmann zu hören, dass bei Euch alles gut gegangen ist. Dass Susi zum zweiten Mal Schaden hatte und nun ihre Wohnung räumen muss, tut mir sehr leid für sie. Sie hat auch einen Packen zu tragen. Wie gut, dass die Kinder nicht da waren! Dass Maria nicht in Berlin sein muss, ist mir eine ganz große Beruhigung. Aber wäre es nun nicht auch für Euch an der Zeit, wenigstens Euer Nachtquartier in Sakrow aufzuschlagen? Es ist merkwürdig, wie einen in solchen Nachtstunden ganz ausschließlich der Gedanke an diejenigen Menschen, ohne die man nicht leben möchte, bewegt und das Eigene völlig zurücktritt oder geradezu ausgelöscht ist. Man spürt dann erst, wie verwoben das eigene Leben mit dem Leben anderer Menschen ist, ja, wie das Zentrum des eigenen Lebens außerhalb seiner selbst liegt und wie wenig man ein Einzelner ist. Das „als wärs ein Stück von mir“ ist schon ganz richtig, und ich habe es bei Todesnachrichten von gefallenen Amtsbrüdern und Schülern oft empfunden. Ich glaube, das ist einfach eine Naturtatsache; das menschliche Leben greift weit über die eigene körperliche Existenz hinaus. Am stärksten empfindet das wahrscheinlich eine Mutter. – Darüber hinaus aber sind es zwei Worte der Bibel, in denen sich für mich immer wieder dieses Erlebnis zusammenfasst. Das eine aus Jeremia 45: „Siehe, was ich gebaut habe, das breche ich ab, und was ich gepflanzt habe, das reute ich aus und du begehrst dir große Dinge? Begehre es nicht! Aber deine Seele will ich dir zur Beute geben“, und das andre aus Psalm 60: „Gott, der du die Erde bewegt und zerrissen hast, heile ihre Brüche, die so zerschellt ist.“
Nun möchte ich Euch und allen Beteiligten wieder sehr für das letzte Paket danken. Ich vergesse es nie und mache es mir täglich bewusst, wie viel Gedanken, Mühe und Verzicht so ein Paket immer mit sich bringt. Aber es ist gerade darum auch immer wieder nicht nur eine äußere, sondern auch eine große innere Hilfe. Dass die Schleichermädels mir wieder von ihrem bisschen Konfekt, das sie kriegen, geschickt haben, ist wirklich sehr nett von ihnen, aber ich denke, sie könnten es wirklich selbst sehr brauchen. Auch Hans Walter danke ich für seine Tabakspenden sehr. Die Plätzchen von der Großmutter habe ich natürlich erkannt, und die Pätziger Grüße gehören schon ganz selbstverständlich dazu und lenken meine Gedanken täglich auf den Tag, auf den wir uns alle schon freuen. Dass ich mir Maria jetzt an der Aussteuer nähend und arbeitend vorstellen kann – also doch diesen Tag wirklich schon vorbereitend –, macht mich ganz glücklich. Ich kann ja hier gar nichts dazu tun als zu warten, zu hoffen und mich darauf zu freuen. – Schön wäre es, wenn die Briefe nicht so lange unterwegs wären. Da ist wohl irgendetwas in Unordnung geraten. Euer letzter Brief ist vom 11. 8.! Marias vom 16. Das ist wirklich zu lang. Ich möchte z.B. gern Marias Pläne wissen, auch wie es mit der großen Berliner Einquartierung bei ihnen geworden ist. Von Euch wüsste ich gern, ob der Splittergraben angelegt ist und ob Ihr nicht einen Durchbruch vom Keller zum Graben machen lassen könnt. Der Hauptmann Maetz hat sich das so machen lassen. Wie geht es Renate? Sind nicht für ihren Zustand diese Alarmnächte besonders ungünstig, auch wenn sie sie draußen in Sakrow erlebt?
Mir geht es weiter gut. Ich bin 2 Stock tiefer gelegt worden wegen der Luftgefahr. Nun sehe ich von meinem Fenster gerade auf die Kirchtürme; das ist sehr hübsch. In der vergangenen Woche konnte ich wieder ganz gut schreiben. Nur fehlt mir die Bewegung in der freien Luft, von der ich für produktives Arbeiten sehr abhängig bin. Aber nun ist es ja nicht mehr lange, und das ist die Hauptsache.
Grüßt doch bitte Maria sehr und sie soll noch ein bisschen Geduld haben und in Pätzig bleiben bzw. in Klein Reetz und sich nicht beunruhigen! Auch an alle Geschwister und Kinder viele Grüße. – Lasst Euch doch bitte durch die Alarme nicht zu sehr anstrengen, ruht Euch nachmittags aus und ernährt Euch so gut es eben möglich ist!
In Gedanken ist immer bei Euch allen
Euer dankbarer Dietrich