Читать книгу Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff - Страница 22

Die akademischen Lehrer, Anton Waldeyer

Оглавление

Nach einigen Wochen wurden die ersten anatomischen Präparate vom Menschen gezeigt, zuerst ein sauber abpräpariertes, einzelnes Bein. Wer nicht Medizin studiert hat, macht sich manchmal gruselige Vorstellungen von diesem Lehrabschnitt. Soweit ich sehen konnte, fiel niemand in Ohnmacht. Die meisten von uns erfasste aber eine bis dahin ungekannte Traurigkeit. „Das war also einmal ein Mensch“, dachten und fühlten wir.

Absolut nicht geduldet wurden auf den Präpariersälen auch nur die mindesten Ansätze unpassenden Benehmens. Als eine Studentin dort mit grell lackierten Fingernägeln arbeitete, war beim Direktor der Anatomie, Prof. Anton Waldeyer, das Maß voll. Die junge Dame musste die Gummihandschuhe ausziehen, eine Nagelfeile wurde herbeigeholt und Waldeyer selbst feilte ihr unter dem Beifall der Mitstudenten den nach seiner und unserer Meinung absolut ungehörigen Fingerschmuck herunter. Damit waren die strengen Maßstäbe klargestellt, an denen ich bis heute festhalte.

Es gab keine Wiederholungen. Kein Mensch hätte auch nur entfernt an Widerspruch gedacht. Viele unserer Professoren und Dozenten waren aus Westberlin und äußerten sich kaum zu politischen Themen. Sie orientierten sich offenbar am Leitbild des unpolitischen Arztes. Dem DDR-Regime gegenüber waren sie vermutlich distanziert, gaben aber für ihre wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit alle Kraft. Die DDR konnte froh sein, diese teils international bekannten Kapazitäten als Lehrstuhlinhaber gewonnen zu haben. Keine Universitätsleitung hätte einem Studenten Recht gegeben, der sich über zu strenge Behandlung durch eine Lehrkraft beschwert hätte. Auch die große Mehrzahl von uns selbst, begrüßte klare Regeln, die auch eingehalten wurden. Unbeständigkeit konnten wir nicht gebrauchen, denn das Medizinstudium ist in dieser Etappe in hohem Maße ein Fleiß- und Büffelstudium, das keine Verschwommenheiten verträgt. Und die akademischen Lehrer aus Westberlin waren tatsächlich oft eindrucksvolle Vorbilder und genossen den Respekt ihres Auditoriums mit vollem Recht.

Ein Problem verursachte allerdings die westliche Herkunft von Waldeyer. Wir brauchten das von ihm verfasste Anatomie-Lehrbuch. Das war natürlich beim westdeutschen Verlag de Gruyter erschienen, kostete daher Westgeld, das wir nicht hatten. Das Buch musste – sicher gegen Devisen – in die DDR importiert werden, um es für uns erreichbar zu machen. Jedes Jahr musste Waldeyer einen monatelangen Kampf mit den DDR-Behörden um den Import seines Werkes ausfechten. Das kostete Zeit, aber er gewann ihn immer. Waldeyer war übrigens absolut kein Kind von Traurigkeit. Als gebürtiger Rheinländer, war der Karneval für ihn der Jahreshöhepunkt. Er wurde von uns Studenten zweimal zum Karnevalsprinzen gekürt und mit den Namen „Anton der Erste“ und im Folgejahr „Prinz Antonius Waldivarius – der Gleiche“ beehrt. Natürlich konnten wir nicht drei tolle Tage feiern, aber er plädierte dafür, das Zeitdefizit durch Intensität in acht vergnügten Stunden hereinzuholen. Er präsidierte der abendlichen Tanzveranstaltung mit einer großen Tafel, an der seine ungefähr 30 Assistenten saßen. Dort wurde stramm getafelt und Waldeyer bezahlte die Zeche allein. Das war noch nicht alles: Fand sich in seinem näheren Blickfeld im Laufe des Abends ein Pärchen zusammen, brachte der Ober bald eine Flasche Sekt auf Rechnung unseres Karnevalsprinzen. Natürlich setzte sich manches Pärchen absichtlich in sein Blickfeld, aber ob er die Absicht bemerkte oder nicht, seine Börse stand Verliebten offen.

Hygienearzt in zwei Gesellschaften

Подняться наверх