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Eintritt ins Studentenleben
ОглавлениеIn jeder Hinsicht eindrucksvoll war die Immatrikulationsfeier der Universität im September 1955. An Selbstständigkeit wurden wir dabei auch gleich gewöhnt: Es war durch Aushang bekannt gegeben: „Anatomie, Hannoversche Straße, neuer Hörsaal“. Wo der genau war, sagte uns Neulingen kein Mensch dazu! So suchten Hunderte von Studenten ziemlich lange auf dem weiträumigen Gelände und die Mehrzahl fand sich nur langsam am Ort ein.
Die Festansprache hielt der bekannte Berliner Gynäkologe Prof. Helmut Kraatz(2), der gleichzeitig ein brillanter Redner war und besonders die große Geste beherrschte. Er beschrieb uns die akademische Freiheit als „die Freiheit, alles zu lernen“ und als Fähigkeit zur Verantwortung ohne Zucht- und Zügellosigkeit. Von einem ausschweifenden Studentenleben konnte also keine Rede sein und die Berliner Uni war immer dafür bekannt, viel zu arbeiten und wenig zu feiern. Den Arztberuf verband Kraatz mit hohen moralischen Anforderungen und gestaltete unsere Verpflichtung auf den Eid des Hippokrates zum Höhepunkt der Veranstaltung.
Dieser Eid, der tatsächlich nie so unverrückbar war, wie man ihn darstellte, und der auch heute einem gewissen Wandel unterliegt, wurde zeitweise belächelt und manche Ärzte gerieten in das schiefe Licht, Moralapostel zu sein und sich hinter dem hippokratischen Eid vor unbequemen Entscheidungen zu verstecken.
Ich bin dennoch bis heute dankbar, damals zuerst in meinem Leben meine zukünftigen Verpflichtungen so einprägsam erfahren zu haben. Besonders berührte mich der Satz: „Ich werde unterlassen alle Werke der Wollust an den Leibern meiner Patienten, Freien wie Sklaven.“ Dass selbst Sklaven, über deren Körper und sogar Leben der Besitzer in der Antike sonst willkürlich bestimmen konnte, vor lüsternen Begierden des Arztes geschützt sein sollten, fand und finde ich eine beachtliche humane Haltung. Sie respektiert doch wenigstens bei der medizinischen Behandlung den Sklaven als Menschen. Obwohl Moral auch heute nicht hoch im Kurs steht, wünschte ich mir für unsere Zeit mindestens, dass über ihre Forderungen nicht gespottet würde, weil ohne sie menschliches Zusammenleben unmöglich ist. Immerhin hat Brecht (im „Leben des Galilei“) einen analogen Eid für Physiker vorgeschlagen.
Wir bewunderten die Größe und Ausstattung der Hörsäle. Der bis 1955 neu erbaute Anatomie-Hörsaal hatte ungefähr 650 Plätze, alle damals moderne Darstellungstechnik, wie große Glastafeln, die aufklappbar waren und mit Schemata und Folien sowie weißer Grundierung hinterlegt werden konnten. Die Glastafeln waren angeraut und so konnte man auf ihnen mit allen Farben schreiben und malen, auch mit Schwarz, im Unterschied zu den uns bis dahin geläufigen, gewöhnlichen Schultafeln. Natürlich fuhren diese riesigen Platten elektrisch auf und ab, natürlich gab es einen Saaldiener, der sie sorgfältig, Streifen für Streifen säuberte und trocknete. Hörsaalverdunklung, Leinwand, Diaprojektion und die damals relativ neue episkopische Projektion waren selbstverständlich. Auch einen Polylux-Projektor (damals auch Belsazar-Gerät, heute meist Overheadprojektor genannt) sahen wir hier erstmalig.
Anatomie heißt Formen und Strukturen kennen und wiedererkennen. Die optische Ausstattung des Auditoriums war daher wichtig, ebenso exzellente Abbildungen in den Lehrbüchern und anatomischen Atlanten, die daher entsprechend teuer waren. Deswegen kaufte man gern bei höheren Semestern zu ermäßigten Preisen und sah über Gebrauchsspuren hinweg.