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Einige Mitschülerinnen und Mitschüler
ОглавлениеIch möchte den Leserinnen und Lesern nun einige meiner Klassenkameradinnen und -kameraden vorstellen. Um nicht zu viel Persönliches zu verraten, stehen in diesem gesamten Abschnitt keine oder nur veränderte Namen.
Eine Mitschülerin, nennen wir sie hier Annemarie, verschwand nach vielen Versammlungen der einzigen Jugendorganisation (Freie Deutsche Jugend = FDJ) oft eilig im Direktorzimmer und dieser erwies sich dann am nächsten Tage als wohlinformiert. Das war kein Geheimnis. Sie handelte aber aus fester Überzeugung und war sonst eine unauffällige, aber nicht allgemein beliebte Mitschülerin mit nur mäßigen schulischen Leistungen.
Ein anderer Mitschüler, Norbert, war findiger Organisator von Klassenfahrten, technisch begabt und hatte Geschick beim Anfertigen von Wandzeitungen. Da wir Fasermaler noch nicht hatten, malte und schrieb Norbert auf großen Flächen mit Tuschpinsel und Stempelfarbe oder Tinte. Norbert hatte auch eine tolle Methode fürs Abschreiben bei angekündigten Klassenarbeiten ersonnen. Unsere Bänke und Tische standen teilweise unmittelbar an der Fensterwand. Die Fensterbretter ragten handbreit in den Raum. Norbert spannte zu Hause ein Blatt Papier in die Schreibmaschine seiner Mutter, legte einen Kohlebogen verkehrt herum dahinter und tippte ohne Farbband einen Spickzettel. Dadurch erschien das Geschriebene auf der Rückseite des Zettels in Spiegelschrift. Das klebte er nun mit der Spiegelschrift nach außen unter das Fensterbrett und ließ auf seinem Tisch wie versehentlich einen Taschenspiegel liegen, in dem er natürlich seinen Spickzettel lesen konnte. So mancher Lehrer nahm ihm misstrauisch kurz den Spiegel ab und untersuchte ihn – ergebnislos, denn der Spickzettel erschien natürlich nur darin, wenn man genau auf Norberts Platz saß und der Spiegel entsprechend lag. Die heutige Pädagogik verurteilt übrigens Spickzettel nur noch bedingt, denn bei der Konzentration der Einträge auf einem kleinen Papierstück muss man den Stoff gut durcharbeiten, um auszuwählen. So tritt ein Lerneffekt ein und an manchen Volkshochschulen wurden die Kursteilnehmer schon aufgefordert, den erarbeiteten Stoff auf einem winzigen Papierstück zusammenzufassen.
Eine weitere Schülerin, ich nenne sie Sandra, die erst etwas später zu uns stieß, hatte eine bemerkenswerte Kindheit. Ihr Vater war Spezialist auf irgendeinem auch waffentechnisch brauchbaren Fachgebiet, ich weiß nicht auf welchem. Er wurde 1945 samt Familie in der UdSSR interniert(3), um ihn dort für die Bewaffnung der Sowjetunion auszunutzen. Sandra war in der Gegend von Suchumi (heute Georgien beziehungsweise Abchasien) untergebracht. Auf meine Frage, wo genau, antwortete sie mir: „Dietrich, so etwas hat keinen Namen.“ Ihr dortiges Schulzeugnis stellte die Schulbehörde vor Probleme: Sandra wies es in Russisch vor, und nach dortiger Systematik war die 5 die beste, die 1 die schlechteste Zensur. Auf die Frage, ob sie keine Übersetzung hätte, drehte sie es um: Auf der Rückseite war es in georgischer Schrift – wunderschön, jedoch für deutsche Leser nicht hilfreich. Aber es konnte dann doch festgestellt werden, dass ihre dortigen Schulkenntnisse einen nahtlosen Übergang in die DDR-Oberschule zuließen, was sich auch praktisch bestätigte. Auch Sandra war – ausgehend vom Antifaschismus – staatstreu. Kein Wunder, die Nazis hatten 27 Mitglieder ihrer weitläufigen Familie umgebracht. Wohl deshalb verlor sie in der Schule auch kein Wort der Kritik darüber, dass die Sowjetunion ihre Familie jahrelang festgehalten hatte.
Es war die Zeit des Korea-Krieges (1950–1953). Eines Tages erschien Sandra mit einem seidenen Kopftuch, darauf sah man eine genaue Karte Koreas. In dieser Form wurden den US-Piloten Landkarten des Kriegsgebietes mitgegeben – wetterfest, unempfindlich gegen Knautschen und sehr einfach in die Tasche zu stecken. Wer je bei Regen oder kräftigem Wind im Freien eine hier übliche, papierene Wanderkarte zusammenlegen musste, wäre für solch eine Ausführung dankbar. Sandras Tuch war einem über Nordkorea abgeschossenen, gefangenen US-Piloten abgenommen worden und als Trophäe bis zu ihr gelangt.
Einen Mitschüler nannten wir wegen seiner Körpergröße meist „der Lange“. Hochintelligent, mit sehr schnellem, kritischem und sicherem Urteil, konnte er es nicht lassen, gelegentlich andere Mitschüler, auch mich, seine geistige Überlegenheit unangenehm fühlen zu lassen. Er war gläubiger Katholik, wovon er aber kein Aufhebens machte.