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Abitur

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Relativ kurz vor dem Abitur häuften sich die Beitrittsanträge in die FDJ, was natürlich auch nach Karrierismus roch. Dennoch verwandte ich mich in einer Versammlung intensiv für „den Langen“, weil ich der Meinung war, dass eine politische Organisation nicht zu einseitig sein sollte, auch bekennende Katholiken aushalten und eventuelles Karrierestreben korrigieren könnte, ja sogar müsste. Ich wurde ziemlich heftig und deutete an, dass auch unser Direktor als Jugendlicher bei den Nazis war, wie ich im Ruderverein durch seinen Jugendfreund erfahren hatte. Nach der Versammlung eilte unsere Annemarie erwartungsgemäß ins Direktorzimmer. Am nächsten Tage warnte mich gleich beim Betreten der Schule ein Lehrer – ein älterer, standfester Kommunist, der in der Nazizeit gelitten hatte – unter vier Augen: „Wir haben im Lehrerkollegium über Sie gesprochen. Vermeiden Sie Äußerungen über die Vergangenheit des Direktors, die nicht zur Sache gehören“, könnte er noch hinzugefügt haben, falls ich mich richtig entsinne. Aber weiter kam nichts für mich Unangenehmes nach.

Allgemeine Aufregungen verursachte ein anderer Vorfall. Es gab eine pädagogische Regel – vielleicht war es nur eine Kann-Bestimmung, denn sie wurde von den Lehrern permanent gebrochen – wonach pro Tag nur eine große Klassenarbeit geschrieben werden sollte, um die Schüler nicht zu überlasten. Auf diese Regel beriefen wir Schüler uns und manche Lehrer verschoben dann auch ihr Vorhaben, andere setzten sich durch. Das blieb meist eine Angelegenheit zwischen diesem Lehrer und der betreffenden Klasse.

Eines Tages ging es um eine Russisch-Arbeit. Sie wurde gleich in mehreren Klassen abgelehnt. Unser Direktor erfuhr davon, interpretierte das als koordinierte Aktion gegen die Schuldisziplin und sogar gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion. Er lief zu großer Form auf, informierte die Schulbehörde und wer weiß wen, entschuldigte sich in aller Form für unsere Unwürdigkeit beim tschechoslowakischen Botschafter und ließ mehrere Schüler unserer Schule verweisen. Eine Schülerin wurde sogar von allen Oberschulen der DDR ausgeschlossen. Sie hat allerdings irgendwie dennoch in der DDR das Abitur abgelegt. Die Sache gelangte, vermutlich begünstigt durch ihre überflüssige Dramatisierung an den RIAS und wurde in der Kabarettsendung „Der Insulaner“ kurz behandelt. Über die Schüler hieß es, sie wurden „geschasst“. Vermutlich hat diese Sendung in einer als feindlich geltenden Rundfunkstation die Lage der Betroffenen zusätzlich erschwert, aber darauf nahmen die westlichen Medien selten Rücksicht.

Schließlich kam das Abitur und ich ging ihm mit ganz ordentlichen Zensuren entgegen. Nur die schlechte Sportzensur gefährdete den Gesamtdurchschnitt, denn sie wurde ohne Rücksicht auf körperliche Fähigkeiten oder Ungeschicklichkeiten mit ins Ergebnis eingerechnet und konnte bei undifferenzierter Betrachtung schaden. Angesichts knapper und heiß begehrter Studienplätze und eines de facto praktizierten Numerus clausus brauchte ich mindestens ein gutes, besser noch sehr gutes Abiturzeugnis, um Aussicht auf das von mir inzwischen erstrebte Medizinstudium zu haben. So richtete ich viele Anstrengungen auf den Schulsport, der nicht meine starke Seite war. Es wurden einige Fächer verbindlich geprüft, unter den mündlichen Prüfungen konnte man aber teilweise wählen. Der Biologielehrer empfahl mir, weil ich Medizin studieren wollte, mich in seinem Fach zu stellen. Das vermied ich tunlichst. Ich hatte in Biologie aus dem Unterricht sieben Einsen und eine Zwei zu Buche stehen. Als Vorzensur konnte nur die Eins herausgerechnet werden. Warum sollte ich die durch ein ungewisses Prüfungsergebnis riskieren, denn ohne Prüfung musste die Vorzensur unweigerlich zur Endzensur werden. Also meldete ich mich, sehr zum Verdruss des Biologielehrers, zur mündlichen Geografie-Prüfung an, denn deren Ergebnis konnte bei der Studienzulassung nicht sehr interessieren.

Dem Biologielehrer muss ich aber hier noch einige Zeilen widmen: Im Unterricht trichterte er uns die Irrlehren des sowjetischen Biologen Lyssenko ein, wonach erworbene Eigenschaften erblich sein sollten. Die weltweit anerkannte Mendelsche Vererbungslehre(8), die indessen durch die moderne Genetik detailliert bestätigt wird, lehnte er ab, wie das damals in der DDR politisch bedingte Mode war. Wenige Tage vor dem Abitur verschwand er nach Westberlin und überließ uns allen Zufälligkeiten eines Examens durch fremde Prüfer.

Damals gab es noch keine Prüfungen mit standardisierten Fragebögen und der Sachverstand derjenigen Lehrkräfte, die unterrichtet hatten, war trotz aller einheitlichen Lehrpläne bedeutsam. Bewusste Tricks zum Vorteil oder Nachteil einzelner Prüflinge traute ihnen niemand zu und ein Prüfungsergebnis juristisch anzufechten, lag jenseits aller Überlegungen.

Ich erreichte im Abitur die Gesamtnote „Gut“ mit einem Durchschnitt von 2,0. Ohne den leidigen Sport hätte es besser ausgesehen, aber ich war Zehnter meines Jahrganges von insgesamt 77 Schülern aller Parallelklassen. Das sah für die Uni ganz gut aus.

1 Dr. Dietrich Loeff: „1945 – Tag der Befreiung – persönliche Erinnerungen an ein historisches Ereignis“

2 Wer mit dem Auto oder der S-Bahn aus Richtung Südosten über Adlershof nach Berlin hereinfährt, sieht – halb verdeckt durch ein anderes Gebäude – kurz vor dem Bahnhof Berlin-Schöneweide rechts das neogotische, rote Backsteingebäude der heutigen Archenhold-Schule.

3 Das geschah damals massenhaft. Manfred v. Ardenne hat darüber berichtet und auch mein Onkel Walter – seit den dreißiger Jahren ein Fernsehspezialist – zog es deshalb jahrelang vor, in Jessen (Elster) unauffälligen Tätigkeiten (Radios und Schreibmaschinen reparieren) nachzugehen, als im exponierten Berlin wieder in seinen alten Betrieb einzutreten.

4 HO = Handelsorganisation, eine staatliche Handelsgesellschaft, die in anfänglich geringem Umfang Lebensmittel und andere Waren zu sehr hohen Preisen frei verkaufte.

5 Es gibt auch Darstellungen, zum Beispiel des Historikers Siegfried Prokop, die einen Anteil des Geheimdienstes der UdSSR an dieser Demo vermuten. Es war angeblich aufgefallen, wie neu die Bauarbeiterkleidung der ersten Demonstranten aussah. Nach Prokops Annahme (selbst gehörtes Interview mit ihm) wollte die UdSSR Alleingänge der DDR-Führung in Sachen Wiedervereinigung durch einen kleinen Aufstand diskreditieren, zu dessen Niederschlagung die DDR-Obrigkeit dann von sowjetischer Hilfe abhängig wurde. Ich will diese Hypothese hier weder werten noch unterschlagen. Auch sei erwähnt, dass immer wieder eine entscheidende westliche Einflussnahme behauptet wurde, natürlich schob die DDR-Regierung die Ereignisse insgesamt darauf.

6 Rundfunk im amerikanischen Sektor; an leitenden Stellen saßen in ihm US-Bürger, in der DDR wurde er als Organ des Geheimdienstes der USA bezeichnet.

7 In einer Sendung „Am Tage als“ des ORB, (jetzt rbb); das Datum kann ich nicht mehr angeben.

8 Gregor Mendel hat wissenschaftlich zwingend bewiesen, dass Eigenschaften hochgradig konstant vererbt werden. Siehe dazu auch im Kapitel über das Medizinstudium, Absatz über Prof. Rapoport.

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