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Selbstversuch

Ich habe

an mir selbst

ausprobiert,

welche Möglichkeiten

es heute schon gibt,

ein neuer Mensch

zu sein.

Obwohl diese Wunden

nur langsam

vernarben,

bin ich nicht

ohne Hoffnung.

Nur

für den einzelnen

ist das einfach

zu viel.

Heinz Kahlau

Vorwort

Dies ist ein Bericht über meine Erfahrungen in zwei Gesellschaftssystemen; in der sowjetischen Besatzungszeit und der DDR einerseits und im neu vereinigten Deutschland andererseits. Damit möchte ich Verständnis wecken, Verständnis, dass man auch anders leben kann, als es in etlichen Zeitungen einseitig suggeriert wird, anders als eine Mehrheit gegenwärtig lebt und vielleicht auch leben will. Wir Bürgerinnen und Bürger der DDR versuchten, mit anderen und doch sehr menschlichen Zielen zu leben, der Öffentlichkeit nützlich und nur so egoistisch zu sein, wie es das eigene Dasein ausreichend sichert.

Beim Niederschreiben des Textes habe ich besonders an all jene gedacht, die das Leben in der DDR nur aus der Schule oder aus Berichten kennen. Die Schule kann ja nicht alles behandeln, und vermag kaum lebendige Vorstellungen zu vermitteln, selbst wenn sie gut ist. Auch jenen Leserinnen und Lesern(1) ist das Buch gewidmet, denen als Bürger der alten Bundesländer so krasse gesellschaftliche Veränderungen erspart blieben. Weil ich also nicht bei allen Lesern Detailkenntnisse voraussetzen kann, sind viele Erklärungen beigegeben.

Ich habe mehrere geschichtliche Augenblicke aus nächster Nähe miterlebt. Das war nicht immer ein ungetrübtes Vergnügen. Zwischen Elbe und Rhein blieb nach 1945 trotz aller entsetzlichen Kriegsfolgen der Grundaufbau der Gesellschaft erhalten, das Privateigentum spielte weiter seine bestimmende, geachtete Rolle und die Wertvorstellungen wurden wie eh und je vom Bildungsbürgertum geprägt. Der Gedanke, dass etwas im Leben anders sein könnte, als das Altbekannte, war nicht verwurzelt. Viele Benennungen, Gewohnheiten und Denkweisen aus der Vergangenheit existierten wie selbstverständlich weiter. Der Zweite Weltkrieg hatte nicht allen Bürgerinnen und Bürgern Anlass zu tiefem Nachdenken und Schlussfolgerungen gegeben.

Ganz anders in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Ab 1945 vollzogen sich hier grundsätzliche gesellschaftliche Umbrüche in fast allen Lebensbereichen. Das war nur anfangs von der sowjetischen Besatzungsmacht direkt bewirkt. Mit den Jahren erlangten die neuen Verhältnisse eine gewisse Stabilität und wurden zeitweise von vielen Bürgern anerkannt und gefördert, von anderen zu ihrem persönlichen Vorteil genutzt.

Sensationen sind auf den folgenden Seiten nicht zu erwarten. Mir geht es um das alltägliche Leben und seine Verbindung zur großen Politik. Ich möchte erklären, wie wir gelebt, gearbeitet, uns gefreut und auch geärgert haben. Ich möchte an charakteristischen Vorgängen und Episoden zeigen, dass der größte Teil des Lebens eben nicht aus Jammern und Leiden wegen der Repressionen bestand, sondern aus Alltagsbegebenheiten, wenngleich diese – und besonders der Kalte Krieg – fast alle Lebensbereiche berührten.

Auch war ich in meiner DDR-Vergangenheit nie ein Widerstandskämpfer gegen den Sozialismus, selbst wenn der Leser diesen Eindruck gewinnen könnte, weil ich an mehreren Stellen darüber berichte, dass ich unzufrieden war, widersprochen oder mich nicht konform verhalten habe. Aber das habe ich meist als nötige Auseinandersetzungen, auch über den weiteren Weg der DDR betrachtet. Nur selten und zeitweise habe ich das Ende der DDR gewünscht. Fast nie habe ich westliche Rundfunk- und Fernsehsender eingeschaltet, obwohl ich das öfter hätte tun können – und vielleicht auch tun sollen. Gelegentlich habe ich auch meine Meinung zu politischen und anderen Fragen geändert. Das tue ich auch heute noch. Wer das nicht kann, ist wohl unbelehrbar. Mir scheint aber, es melden sich heute mehr angebliche Rebellen gegen die DDR-Führung zu Wort, als es tatsächlich damals gab. Vielleicht ist das bequem für das eigene Selbstverständnis sowie auch für die Karriere und sicher ist das Ende der DDR nicht das einzige historische Ereignis mit solchen Begleiterscheinungen. Übrigens schwankte die Zahl der kritischen DDR-Bürger erheblich, weil viele Menschen ehrlich nach der Wahrheit suchten.

Längst nicht über alle Ereignisse kann ich schriftliche oder sachliche Unterlagen beibringen. Persönliche Erinnerungen – der Historiker weiß es – haben für die Geschichtswissenschaft einen geringeren Beweiswert als Dokumente, die zeitnah zum Ereignis selbst entstanden und als Verträge oder Urkunden auch sorgfältig ausformuliert sind. Ein Tagebuch habe ich nie geführt. Und natürlich ist es weder möglich, noch sinnvoll, jede Einzelheit zu berichten. Wozu auch? Über Patienten, manche Privatangelegenheiten und über Einzelheiten der Dienstdurchführung ist Schweigen aus menschlicher Rücksicht geboten oder gesetzlich bis über das Dienstverhältnis hinaus vorgeschrieben. Auch nicht jeder Klarname kann hier stehen, sondern nur die echten Namen prominenter Persönlichkeiten und derjenigen, die ich nicht kritisieren muss. Andere Personen tragen veränderte Namen oder sind nur nach ihren Eigenschaften beschrieben. Soviel Persönlichkeitsschutz muss sein, schließlich bin ich nicht die Gauck-Birthler-Behörde. Mir geht es nicht um persönliche Schuldzuweisungen oder späte Rache an Widersachern. Nachtragende Mitmenschen gibt es mehr als zu viele und zur verbreiteten Unsitte, dass Verleumdete ihre Unschuld beweisen müssen, werde ich nicht beitragen.

Hygieniker haben ein breites Spektrum von Kontrollaufgaben. Dazu lernen sie von vielen Fachgebieten etwas. Sie können zwar beruflich weder für eine Gaststätte kochen, noch eine Schule leiten, noch Trinkwasser aufbereiten. Aber denjenigen, die diese Berufe ausüben, können sie mindestens erfolgreich dreinreden. So werde auch ich auf den folgenden Seiten hier und dort Halbwissen anzubieten haben. Die Leserin und der Leser mögen das verzeihen, vielleicht ist Halbwissen ja besser als Unwissenheit, wenn man sich der eigenen Grenzen stets bewusst ist.

Geschichte ist, wie alles in der Welt, gesetzmäßig voller Widersprüche. Widersprüche aber können Entwicklungen vorantreiben. Dazu muss man sie kennen und deshalb werden einige davon hier beschrieben.

Ich überlasse der Leserin und dem Leser das Urteil. Für Hinweise bin ich jederzeit dankbar. Wenn ihn meine Berichte und anschließenden Überlegungen interessieren oder gar fesseln sollten, wäre das gut und könnte ihn zu meinem Ziel begleiten:

scheinbare Gewissheiten überprüfen,

mehr in Alternativen denken,

mehr selbstlose Anteilnahme an öffentlichen Aufgaben,

mehr Solidarität.

Cottbus, im Juli 2009

Dr. med. Dietrich Loeff

1 Im weiteren Text ist zur Erleichterung der Lesbarkeit meist die männliche Sprachform verwendet, die weibliche Sprachform jedoch gleichwertig gemeint.

Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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