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Der Scharfrichter Physikum

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Der sogenannte vorklinische Teil des Medizinstudiums endete damals nach zwei Jahren mit dem Physikum, der ärztlichen Vorprüfung. In ihr waren naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sowie die gründliche Beherrschung von Anatomie, Physiologie und Biochemie des gesunden Menschen nachzuweisen. Das ist Vorbedingung, um Abweichungen von der Norm und Krankheiten zu verstehen, die im zweiten Studienabschnitt, den klinischen Fächern, behandelt werden.

Die Uni war trotz ihrer großen Hörsäle mit Studenten überbelegt. Im Anatomie-Hörsaal mussten auf 650 Sitzplätzen anfangs 800 Studenten Platz finden, sodass viele auf Treppenstufen saßen oder im Stehen zu schreiben versuchten. Die Uni war daher im eigenen Interesse und auch dem mancher Studenten selbst bestrebt, schwache, perspektivlose Hörer baldmöglichst aus dem Medizinstudium zu verabschieden. Das verkündete Professor Walter Kirsche (Anatomie der Nerven und des Gehirns) mit ironischer Deutlichkeit: „So viele von Ihnen sitzen und stehen unbequem. Das dauert nicht mehr lange. Wenn wir mit den Testaten [eine Art kurzer, scharfer Leistungskontrollen – d. A.] beginnen, werden bald alle einen guten Sitzplatz haben.“ Und Waldeyer wies vor unseren Ohren seine Assistenten an: „Bei den Testaten muss es Nullen [das heißt nicht bestanden – d. A.] hageln, damit wir endlich sieben.“ So geschah es, und im Hörsaal sah man bald leere Plätze. Die meisten Studenten kämpften bis zuletzt gegen die Schwierigkeiten des Lehrstoffes und der Prüfungen. Dennoch mussten in dieser Phase etwa 30 Prozent das Studium vorzeitig beenden, seltener durch definitiv unzureichende Zensuren, häufiger setzte schwere Erschöpfung den Endpunkt. Auch ich hatte im Fach Anatomie meine Schwierigkeiten, denn mein Handgeschick war fürs Präparieren etwas schwach ausgebildet und mein Formengedächtnis hätte auch besser sein müssen. So wusste ich rechtzeitig, dass chirurgische Fächer später für mich nicht in Frage kamen.

Wer es also bis zum Physikum und durch diese Prüfung geschafft hatte, war damals erst einmal ziemlich aus dem Gröbsten heraus. Bezeichnend ist, dass man im Hörsaal nach dem Physikum bei etwa der Hälfte der Studenten, die vor und unter einem saßen, vereinzelte graue Haare sah. Wir waren damals meist erst ungefähr 20 Jahre alt. Später verschwanden diese Anzeichen der hohen Belastung dann meist wieder.

Bei meiner Prüfung ging alles gut. Wegen meiner guten Prüfungsergebnisse erhielt ich weiter mein Leistungsstipendium, einen Zuschlag von 50.- Mark zum Grundstipendium. Da bei uns zu Hause stets Geldmangel herrschte, war ich auf diese Leistungszulage angewiesen, um überhaupt zu studieren. Meine Mutter bestand darauf, dass ich diesen Aufschlag gewinnen musste – wie schon erwähnt, war ich ihre lebende Altersversicherung. Von den Folgen dieser Bedrängnis berichte ich später.

Nach der Prüfung wollten wir feiern – so richtig einen drauf machen. Dann saßen wir uns beim billigen, extrem süßen bulgarischen Wein gegenüber und schwiegen uns an. So ging das nicht. Also Standortwechsel in eine billige Berliner Kaschemme – das gleiche Ergebnis. Wir waren einfach zu ausgebrannt, um froh zu sein. Zwei Wochen später lagen wir etwas erholt an der Ostsee, konnten nachholen und zusammen mit der bestandenen Prüfung erste Urlaubserlebnisse munter begießen.

Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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