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„Cruyffismo“
Оглавление1988 übernimmt der ehemalige niederländische Weltklassespieler und dreimalige „Ballon d’Or“-Gewinner Johan Cruyff die 1. Mannschaft des FC Barcelona. La Masia wird reformiert, denn Cruyff bringt die niederländische Schule mit. Die technische Ausbildung spielt nun eine noch größere Rolle als bislang, und in deren Mittelpunkt steht der präzise Pass. Ausdauer und Kraft werden erst in den älteren Jahrgängen geschult. Außerdem schaut der neue Chefcoach nun verstärkt in der hauseigenen Akademie und dem B-Team nach Spielern für die 1. Mannschaft.* Die ersten Talente aus dem B-Team, die es unter Cruyff in die 1. Mannschaft schaffen, sind die Mittelfeldspieler Luis Milla und Guillermo Amor, die beide nur 1,73 Meter Körpergröße aufweisen. Milla hatte bereits am 2. Spieltag der Saison 1984/85 debütiert. Da die Vereinigung der Profispieler streikte, bot Barça gegen Real Saragossa ausschließlich Jugendspieler auf. Die folgenden Jahre verbrachte er im B-Team, bevor Cruyff den 22-Jährigen und den zwei Jahre jüngeren Amor zur Saison 1988/89 in die 1. Mannschaft beförderte. Amor, der am 3. September 1988 seinen Einstand in der Primera División gab, lief bis 1998 in 311 Liga-Spielen für die Blaugrana auf.
In seinen acht Jahren als Trainer des FC Barcelona wird Cruyff insgesamt 29 Spieler aus dem hauseigenen Nachwuchs in die 1. Mannschaft holen. Der Niederländer sucht seine Spieler in erster Linie „nach der fußballerischen, technischen Qualität“ aus. „Ich will 70 Prozent Technik, 30 Prozent Laufen. Heute wird aber zu viel gerannt, deshalb können kleine Mannschaften gegen große gewinnen, zumal den sogenannten Großen dann auch oft noch die Konzentration fehlt.“ Cruyff bevorzugt einen kleinen Kader, was der Trainer Pep Guardiola später übernehmen wird: „Sechs Spieler für drei Plätze sind zu viele, ideal sind vier, um damit den notwendigen Konkurrenzdruck aufzubauen.“ Guardiola wird in seiner Spielphilosophie nicht nur in diesem Punkt sehr stark von Cruyff geprägt werden, daher lohnt sich an dieser Stelle ein näherer Blick auf die Arbeit des niederländischen Trainers in Barcelona.
Zu einem Zeitpunkt, da noch viele ihre Defensivabteilung aus Haudegen zusammenstellen und die technisch versiertesten Akteure in den Sturm packen, sucht Cruyff auch in der hintersten Reihe Spieler, die mit dem Ball umgehen können. Cruyff: „99 Prozent der Trainer haben einen Arbeiter im Mittelfeld und einen Techniker vorne. Ich stelle einen Techniker ins Mittelfeld und einen technisch guten Läufer nach vorne. Weil man im Mittelfeld mehr Ballkontakte hat. Und in der Abwehr brauche ich Leute, die Fußball spielen und das Spiel aufbauen können.“
Cruyff lässt nicht klassisch verteidigen. Es geht nicht nur um die Abwehr eines Angriffs, sondern um Balleroberung und darum, umgehend einen Gegenangriff einzuleiten – nicht mittels wild nach vorne gekloppter Bälle, sondern durch eine Abfolge präziser und schnell gespielter kurzer Pässe. Wenn der Gegner früh und massiv presst, darf auch mal ein langer Pass in die Tiefe gespielt werden – aber präzise muss er sein.
Die beste Verteidigung ist für Cruyff der eigene Ballbesitz: „Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen.“ Als Barças Abwehrarbeit einmal kritisiert wird, entgegnet Cruyff: „Es heißt immer, unsere Abwehr sei schlecht. Aber wenn wir hinten ständig den Ball hin- und herspielen und die gegnerischen Stürmer dem Ball hinterherrennen müssen, werden sie müde. Das sieht so einfach aus, wenn die Spieler den Ball querspielen. Aber jeder Fehler kann ein großer Fehler sein. Und deshalb ist absolute Konzentration nötig. Mein größter Feind ist mangelnde Konzentration.“
Der Trainer verteilt die Rückennummern nach den Positionen, die die Spieler einnehmen sollen. Dies erleichtert es ihm, während des Spiels Anweisungen zu erteilen. Der Torwart, der bei Cruyff wie ein Libero agieren muss, erhält die Nummer 1, der rechte Außenverteidiger die 2, der Innenverteidiger die 3, der linke Außenverteidiger die 5. Im zentralen Mittelfeld trägt der defensive Spieler die 4 und der offensive die 6. Die Mittelfeld-Außen spielen rechts mit der 8 und links mit der 10, die Außenstürmer rechts mit der 7 und links mit der 11, der Mittelstürmer mit der 9.
Von besonderem Interesse sind die 3 und die 4. Die 3 spielt ohne konkrete Zuordnung (die Außenverteidiger lässt Cruyff manndecken) und muss in Cruyffs 3-4-3-System über große taktische und technische Qualitäten verfügen. Die 4 muss ein Schnelldenker sein, einfache Lösungen finden und über ein präzises Passspiel verfügen. Das Trikot mit der Rückennummer 3 wird der Niederländer Ronald Koeman überstreifen, das mit der Nummer 4 Pep Guardiola.
Cruyff lässt seine Spieler kaum Flanken schlagen. Die Außenpositionen bekleiden keine Dauerläufer, sondern technisch beschlagene Spieler wie etwa der Bulgare Hristo Stoichkov. Statt den Ball hoch in den Strafraum zu dreschen, sollen sie mit Dribblings oder Doppelpässen diagonal vorstoßen. Auch Standards interessieren den Niederländer nicht. Bei Ballbesitz ist der Zweikampf weitgehend zu vermeiden und der Gegner zu umspielen. Cruyff predigt einen Fußball, der den im europäischen Vergleich kleinen Spaniern auf den Leib geschneidert ist, denn in seinem System finden auch die schmächtigen und langsameren Spieler ihren Platz.
Als Spieler verfügte Cruyff über einen „Raketenantritt“, also jenen Antritt auf den ersten Metern, der beim Fußball enorm hilfreich ist. Zugleich aber war es Cruyff, der das Spiel häufig mit dem Ball statt mit den Beinen schneller machte, indem er im richtigen Moment schnelle und präzise Pässe spielte. „Der Ball wird nicht müde“, pflegt Cruyff zu sagen. Und schneller als die Spieler ist die Kugel auch. Dies bedeutet: Auch langsame Spieler können schnellen Fußball spielen und ihre physischen Schwächen kaschieren – sofern sie über gute Technik und hohe Spielintelligenz einschließlich Handlungsschnelligkeit verfügen. Technik und Spielintelligenz sind die zentralen Bausteine des „Cruyffismo“, wie man die Philosophie des Barça-Trainers später in Spanien tauft.
Für den Journalisten Ricard Torquemada, der den FC Barcelona für den Sender Catalunya Radio seit Jahren begleitet, ist aber „das Wichtigste, das der Holländer Barcelonas Spielphilosophie eingebrannt hat, sein fester Glaube, dass die Spieler nur dann wirklich gut sein können, wenn sie verstehen und verinnerlichen, was sie tun. Und das zu jeder Zeit. Er wollte, dass die Spieler selbst spüren, welchen Sinn eine gewisse Aktion in einem bestimmten Moment hat. Es war ihm wichtig, dass die Profis selbst Fehler analysieren konnten.“
So zog Cruyff fast automatisch nicht nur technisch und taktisch versierte Spieler heran, sondern auch die nächste Generation Trainer. Der Cruyff’sche Spieler musste fast zwangsläufig so denken wie ein Trainer.