Читать книгу Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie - Dirk Kellner - Страница 10

2.1.3 Johannes Chrysostomus: Die Fokussierung des Charismas auf den begabten Lehrer

Оглавление

Ein Blick auf Johannes Chrysostomus zeigt, dass die Entwicklung des Charismenverständnisses nicht linear verläuft, sondern komplex bleibt. In der Frage nach der bleibenden Aktualität der Charismen bleibt Chrysostomus, wie es zunächst scheint, hinter Origenes und den Apostolischen Konstitutionen zurück. Die Charismen, die er an mehreren Stellen seines umfangreiches Werkes mit den Zeichen und Wundern der Urchristenheit identifiziert und als «Befähigung zu wunderhaften Auftreten und Wirken»[84] versteht, sind nicht mehr wie bei Origenes nur spurenhaft vorhanden, sondern «längst vergangen»[85]. Sie waren nur die zeitlich begrenzte Ergänzung und Bekräftigung der apostolischen Missionspredigt, die aufgrund der fehlenden Bildung der Apostel und der Verblendung der Hörer durch den heidnischen Götzendienst notwendig wurde – eine Erklärung, die in ähnlicher Weise schon im achten Buch der Apostolischen Konstitutionen begegnet und im Laufe der Theologiegeschichte immer wieder aufgegriffen werden wird.[86] Nun herrsche «Unkenntnis und Mangel an den Dingen, die sich zwar damals ereigneten, aber jetzt nicht mehr geschehen»[87]. Das Aufhören dieser Charismen ist für Chrysostomus aber nicht wie etwa bei Origenes Gegenstand des Bedauerns oder der Klage. Denn das Ziel, das die Charismen verfolgt haben, könne auch ohne sie erreicht werden.[88] Die Charismen sind entbehrlich geworden.

Scheint Chrysostomus zunächst ganz auf der Linie des sich allmählich einengenden Charismenverständnisses zu stehen, so zeigt sich doch immer wieder, dass der «eigentliche Bibelmann des 4. Jahrhunderts»[89] durch seine intensive Paulusexegese zumindest teilweise «zu einer stillschweigenden Revision seines Urteils»[90] geführt wurde. Denn neben den wunderhaften kennt Chrysostomus durchaus noch «andere Charismen»[91] und greift dabei paulinische Aussagen auf. So erschließt er aus Röm 8,26f das «Charisma des Gebetes», von dem heute noch die «Erinnerung» im liturgischen Fürbittgebet des Diakons für das ganze Volk erhalten sei.[92] Außerdem legt er immer wieder großen Wert auf die bleibende Aktualität des von ihm hochgeschätzten Charismas der Lehre.[93] Es ist nicht auf die kirchlichen Amtsträger beschränkt, sondern findet sich in abgeschwächter Form bei jedem Gemeindeglied.[94]

«Sage nicht, warum habe ich nicht das Lehrcharisma erhalten? Oder: wenn ich es besäße, so würde ich Unzählige erbauen. Du weißt nicht, wenn du es besäßest, ob es dir nicht zum Gericht sein würde, ob nicht Mißgunst oder Trägheit dich dahin bringen würden, das Talent zu vergraben […] Übrigens bist du auch jetzt nicht ganz ohne dies Charisma […]. Wenn du auch nicht in der Kirche einen großen Vortrag zu halten vermagst, so kannst du doch in deinem persönlichen Lebensbereich heilsame Mahnungen erteilen.»[95] «Darum ermahne ich euch: vernachlässigt nicht jeder dies Charisma. Jeder hat ja entweder ein Weib oder einen Freund, einen Diener oder einen Nachbarn. Diesen vermahne er, den ermuntere er […]. Und zum besseren Verständnis wisse: Der, der die fünf Talente empfing, ist der Lehrer, und der das eine empfing, der Schüler (der Laienchrist). Wenn nun der Schüler spräche: Ich bin Schüler und laufe keine Gefahr, und vergrübe (sein Talent, nämlich) das Redevermögen, das er von Gott erhielt, weil es ihn gewöhnlich und zu nichts nütze dünkte, und ermunterte weder, noch redete er frei heraus […], sondern vergrübe es in der Erde - denn Erde und Asche ist in Wahrheit ein Herz, das Gottes Charisma verbirgt -, sei es aus Faulheit und Böswilligkeit, so hülfe ihm die Ausrede nichts: Ich habe nur ein Talent empfangen.»[96]

Die Annäherung des Chrysostomus an die von Paulus betonte Universalität charismatischer Befähigung ist bemerkenswert.[97] Sie stellt eine kritische Stimme dar in einer Zeit, in der viele Dienste und Funktionen «im institutionellen Amt der Gemeindeleitung monopolisiert»[98] waren, zu denen Paulus alle Glaubenden durch das ihnen je individuell zukommende Charisma ermächtigt und berufen sah.[99] Dennoch kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kirchliche Klerus der eigentliche Charismenträger ist, während sich bei den Laienchristen nur schwache Abschattierungen der Geistesgaben finden und ihr Dienst auf den privaten Bereich beschränkt bleibt. Die erstmals bei Chrysostomus erscheinende bewusste Verbindung des Gleichnisses von den Talenten mit den paulinischen Charisma-Aussagen verfestigt zudem die schon bei 1Clem beobachtete Tendenz zu einem habituellen Charismenverständnis. Charisma wird zu einer einmal zugeteilten und verfügbaren Begabung. Die Souveränität des Geistes beschränkt sich auf einen initialen Akt, der nicht nur das Maß charismatischer Begabung, sondern auch den jedem zukommenden Platz in der Gemeinde bleibend festzulegen scheint.

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

Подняться наверх