Читать книгу Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie - Dirk Kellner - Страница 5
1 Einleitung 1.1 Problemstellung und Forschungsstand
Оглавление«Charisma» ist zu einem beliebten Modewort der Alltagssprache geworden. Mit ihm verbindet sich die Sehnsucht nach etwas Außergewöhnlichem, nach etwas Besonderem, das die Routine durchbricht und Farbe in das Grau des Alltags bringt. Wer eine Anleitung zur Verbesserung des persönlichen Charismas auf dem populären Buchmarkt veröffentlicht, kann mit einem guten Absatz rechnen. Wer möchte nicht mehr Charisma haben, mehr gewinnende Ausstrahlungskraft besitzen, mehr bewundernde Aufmerksamkeit erfahren? Charisma ist für viele eine Zauberformel, die privaten und beruflichen Erfolg zu garantieren scheint.
Äußerst divergente Reaktionen löst der Begriff im Kontext von Theologie und Kirche aus. Hoffnungen und Ängste werden wachgerufen, wenn das Charisma zum Thema wird. Während der eine seine Sehnsucht nach geistlicher Erneuerung des eigenen Glaubens und der gesamten Kirche auf das Charisma richtet, wittert der andere die Gefahr eines schwärmerischen Enthusiasmus. Beide ahnen: Im Charisma konkretisiert und manifestiert sich die Dynamis des Geistes, dessen Wirken Altes überholt, Neues schafft und sich dabei nicht immer nach unseren dogmatischen Prämissen und kirchlichen Institutionen richtet. «Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde», so dichtet Kurt Marti.[1]
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird der Charismenlehre eine zunehmende Beachtung in der wissenschaftlichen Theologie zuteil. Vor allem in der historischen, exegetischen und dogmatischen Forschung erschienen zahlreiche Untersuchungen. Doch kommt ihr auch in der Praktischen Theologie eine besondere Bedeutung zu? Konnte sich Charisma als praktisch-theologischer Grundbegriff etablieren? Wenn Ernst Käsemanns Feststellung zutrifft, dass der Begriff «Wesen und Aufgabe aller kirchlichen Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt»[2] und die Charismenlehre nichts anderes ist als eine «Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein»[3], dann müsste ihr eine praktisch-theologische Relevanz zukommen, die der systematisch-theologischen Bedeutung des articulus stantis et cadentis ecclesiae vergleichbar wäre.[4] Charisma müsste ein Grundbegriff der Praktischen Theologie sein.[5]
Praktisch-theologische Grundbegriffe sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie in Handbüchern und Enzyklopädien zum Thema eingehender Reflexionen werden. So wird man zum Beispiel in keinem dieser Werke ausführliche Erörterungen zu «Kirche» oder «Amt» vermissen müssen, bündeln sich in diesen Grundbegriffen doch zentrale theologische Fragen und Einsichten. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Begriff des Charismas? Konsultiert man die enzyklopädischen Werke der letzten Jahrzehnte, wird man nur selten fündig. Im «Wörterbuch des Christentums» (WdC) und in der vierten Auflage des Handwörterbuchs «Religion in Geschichte und Gegenwart» (RGG 4. Aufl.) fehlen praktisch-theologische Ausführungen zum Stichwort «Charisma». Es bleibt bei religionswissenschaftlichen, soziologischen, exegetischen und systematisch-theologischen Erörterungen.[6] Dem Charisma bzw. der Charismenlehre scheint keine praktisch-theologische Relevanz zuzukommen – ganz im Gegensatz zu «Amt» oder «Pfarrer», die beide explizit zum Gegenstand praktisch-theologischer Betrachtung werden.[7] Eine Ausnahme bildet Rudolf Landaus Artikel in der «Theologischen Realenzyklopädie» (TRE), der lakonisch mit der Bemerkung einsetzt: «Die Charismen waren kein zentrales Thema der Praktischen Theologie von ihren Anfängen bei Schleiermacher an.»[8] Die praktisch-theologischen Handbücher zeigen ein ähnliches Bild. Das Fehlen eines entsprechenden Artikels in den von Peter C. Bloth und Heinrich Ammer herausgegebenen mehrbändigen Werken lässt sich durch ihre spezielle Architektonik erklären. Auffallend ist allerdings, dass das von Birgit Weyel und Wilhelm Gräb herausgegebene «Handbuch Praktische Theologie» Charisma weder zu den «Grundbegriffen» zählt, die als «stets wiederkehrende elementare […] Begriffe einer Einführung bedürfen», noch zu den «Phänomenen» rechnet, die die Religionspraxis in ihren vielfältigen kulturellen und institutionellen Erscheinungsformen prägen.[9]
Wie ist das weitgehende Schweigen der Praktischen Theologie zu deuten? Kann man mit Cicero «cum tacent, clamant»[10] behaupten und in der geringen Berücksichtigung des Charismas einen Hinweis sehen, dass die Pneumatologie nur marginale Bedeutung für die Praktische Theologie hat und das überwunden geglaubte pastorale Paradigma weiterhin seinen verborgenen Einfluss ausübt? In dieser pauschalen Gestalt ist das Urteil sicherlich nicht angemessen, dennoch sollte es die Praktische Theologie mit Unbehagen erfüllen, dass ein biblisch-theologischer Zentralbegriff wie Charisma, bzw. die sich in ihm bündelnde Charismenlehre, bisher kaum Eingang in sie gefunden hat.
Dieses Unbehagen ist seit dem 19. Jahrhundert vereinzelt geäußert worden. David Schulz sieht in der Charismenlehre eine «tief eingreifende Grundlehre des Christentums», die unmittelbaren Einfluss «auf die Gestaltung des Lebens der Christgläubigen» hat.[11] Umso bedauerlicher sei daher, dass man «eine den wichtigen Gegenstand in dasjenige Licht setzende Arbeit, dessen derselbe […] wohl empfänglich scheint, fortdauernd vermisst»[12]. Hermann Cremer klagt in ähnlicher Weise, dass «dort, wo man eine eingehendere Behandlung erwarten sollte, in den Arbeiten zur praktischen Theologie, […] man dieselbe vergebens [suche]»[13]. Moritz Lauterburg schließt seine grundlegende Untersuchung mit dem Wunsch, dass «insbesondere in den Arbeiten zur praktischen Theologie […] der Begriff des Charisma nicht länger vermißt werden»[14] sollte. Wie bereits deutlich wurde, hat sich dieser Wunsch bisher nur zum Teil erfüllt. So bemerkt schließlich Rudolf Bohren im Blick auf die Arbeiten von Ernst Käsemann und Eduard Schweizer zum paulinischen Verständnis charismatischer Gemeinde, dass «die praktisch-theologische Relevanz der exegetischen Ergebnisse bis jetzt nicht annähernd ausgeschöpft worden» sei.[15]
Andererseits sind Versuche nicht zu übersehen, die Charismenlehre aus ihrem Schattendasein zu befreien und ihr die Relevanz, die ihr exegetisch und dogmatisch zugesprochen wird, auch in der praktisch-theologischen Reflexion zukommen zu lassen. So betonen z.B. einige Konzepte des missionarischen Gemeindeaufbaus die grundlegende Bedeutung, die den Charismen der Mitarbeitenden zukommt. Christian Möller regt an, den Begriff «Charisma» für die Pastoraltheologie wiederzugewinnen und könnte dabei auf August F. Chr. Vilmar oder Carl Immanuel Nitzsch verweisen.[16] Schließlich fragt Rudolf Bohren nach der Möglichkeit, die Praktische Theologie grundsätzlich «als Charismatik»[17] zu entwerfen.
Eine umfassende Übersicht und kritische Würdigung der vorhandenen Ansätze ist seit über einem Jahrhundert nicht mehr erarbeitet worden. Ebenso fehlt ein Versuch, die praktisch-theologische Relevanz der Charismenlehre in kritisch-konstruktiver Aufnahme der exegetischen und systematisch-theologischen Forschung prinzipiell zu begründen und zu entfalten. Beides stellt ein Desiderat praktisch-theologischen Arbeitens dar und umschreibt das Ziel der vorliegenden Untersuchung.
Im Jahre 1898 veröffentlichte der Berner Pfarrer Moritz Lauterburg mit seiner Dissertation die erste monographische Abhandlung, die die praktisch-theologische Rezeption der Charismenlehre nachzeichnet und grundsätzlich nach der Bedeutung des Begriffs Charisma für die Praktische Theologie fragt.[18] Er geht dabei von der Prämisse aus, dass es sich bei der paulinischen Charismenlehre nicht um eine «Illusion über vermeintliches Hineinragen höherer geistlicher Kräfte in diese Welt» handle, sondern sie auf der «Realität des durch den Glauben an Christum sich den Menschen mitteilenden Gottesgeistes» beruhe.[19] Daher komme ihr mehr als nur ein geschichtlicher Wert, sondern «ein stetsfort actuelles Interesse»[20] zu. Lauterburgs Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile:
Zunächst bietet er eine «Entwicklung des Begriffes Charisma im Anschluss an Paulus»[21]. Er hebt dabei vor allem seinen «transitiven Charakter» hervor: «Sein Ursprung und Inhalt ist die Gnade Gottes, welche einen einzelnen also zu ihrem Organe macht, daß er andern die göttliche Gabe vermittelt.»[22] Der pneumatische Ursprung und die Ausrichtung auf die Gemeinde sind die beiden konstitutiven Elemente.[23] Umgekehrt haben aber auch die Charismen eine zentrale ekklesiologische Bedeutung. Sie sind «Lebensbethätigungen der Gemeinde als solcher»[24]: «Was irgend der Gemeinde dienlich und förderlich ist, es geschehe nun durch das Mittel des Worts oder der That, kraft unmittelbaren oder überlegten Handelns, beruht auf einem Charisma.»[25]
Der zweite Hauptteil zeichnet die «geschichtliche Entwicklung des Begriffes Charisma» von den Apostolischen Vätern bis in die Neuzeit in groben Zügen nach. Bereits in den ersten Jahrhunderten sei das Charisma zunehmend auf das Gebiet des Wunderhaften verlegt worden, so dass der «für die Kirche fruchtbare Begriff»[26] weitgehend verloren gegangen sei. Erst im 19. Jahrhundert sei zu Bewusstsein gekommen, «daß dieser Begriff der Theologie und der Kirche wohl noch etwas mehr zu sagen hätte, als bisher geschehen ist»[27].
Im dritten Hauptteil erarbeitet Lauterburg schließlich «die Bedeutung des Begriffes Charisma für die praktische Theologie».[28] Er skizziert sie zunächst für die «principielle Lehre von Wesen und Erfordernissen des geistlichen Amtes» und entwickelt ein Verständnis der inneren Berufung zum kirchlichen Amt (vocatio interna ad ministerium), die sich vollständig durch die charismatische Ausrüstung konstituiert. Die Vocatio könne nicht das Produkt eigener Frömmigkeit oder Bildung, sondern müsse eine freie Gabe des Geistes sein, die zugleich eine besondere Aufforderung an den Menschen enthält. «Das ist aber eben das Charismatische.»[29] Weiterhin lässt Lauterburg von der Charismenlehre her «Licht auf die drei großen Principienfragen»[30] der Praktischen Theologie fallen. Sie kläre die Frage nach einem «echt reformatorischen […] und […] praktisch verwertbaren Kirchenbegriff»[31], nach der «Stellung des geistlichen Amtes»[32] und dem Verhältnis zur römisch-katholischen Theologie. Abschließend skizziert Lauterburg ein Verständnis von Praktischer Theologie als «Charismatik»[33], «als die Lehre von den durch die Charismen vermittelten Thätigkeiten zur Erbauung der Gemeinde Christi»[34].
Insgesamt geurteilt, bietet Lauterburgs Studie viele wertvolle Einsichten, die von der Praktischen Theologie bisher kaum wahrgenommen wurden.[35] Nach über 100 Jahren bedürfen sie allerdings einer kritischen Prüfung, Aktualisierung, Ergänzung und Bewährung im Kontext gegenwärtiger praktisch-theologischer Ansätze und Fragestellungen.[36]
Silke Obenauers Dissertation «Vielfältig begabt», die nach der Fertigstellung und Einreichung der eigenen Untersuchung erschien (2009), ist seit Lauterburgs Impuls die erste praktisch-theologische Monographie, die sich intensiver mit der Thematik befasst.[37] Sie entwickelt ausgehend von gemeindepraktischer Literatur eine Theorie der gabenorientierten Mitarbeit in der evangelischen Kirche. In diesem Zusammenhang rekurriert sie exegetisch und systematisch-theologisch auf die «Gaben»; der Begriff «Charisma» bzw. «Charismen» wird von Obenauer weitgehend gemieden. «Gabe» definiert sie als «eine vom dreieinigen Gott aus Gnade jedem Christen individuell gegebene Begabung…, die von Gott je aktuell und ereignishaft in Dienst genommen wird und derart vom Empfänger zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschen eingesetzt wird.»[38] Der Zielrichtung der Dissertation entsprechend konzentriert sich Obenauer auf gemeindepraktische und kirchentheoretische Fragen. Die Auswahl der Literatur und die Perspektive ihrer Bearbeitung orientiert sich an der zu entwerfenden Theorie der gabenorientierten Mitarbeit, so dass die grundlegende Bedeutung der «Gaben» für den untersuchten (oikodomischen) Teilbereich ersichtlich wird. Die vorliegende Arbeit öffnet einen breiteren Fragehorizont. Sie rekonstruiert die Rezeption der Charismenlehre in zwei Teildisziplinen der Praktischen Theologie und fragt grundsätzlich nach ihrer praktisch-theologische Relevanz. Obernauers Studie bietet aber anregende Impulse und wichtige Einsichten, die eine erfreuliche Kongruenz zur vorliegenden Arbeit aufweisen. Trotz jeweils unterschiedlicher Akzentuierung entsprechen sich nicht nur die Versuche einer trinitarischen Konzeption der Charismenlehre, sondern auch die Betonung des habituellen und dynamisch-ereignishaften Moments der Charismen.[39]