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2.3.2 Ernst Käsemann und Georg Eichholz: Exegetische Erinnerung an die paulinische Ekklesiologie

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Den theologischen Ausgangspunkt von Käsemanns Ausführungen zur paulinischen Charismenlehre bildet sein dynamisch-aktuales Verständnis der göttlichen Gnade, der Charis. Sie werde von Paulus «konstitutiv als Macht verstanden»[268]. Auf dem Hintergrund des Grundsatzes, dass Gabe und Geber nicht voneinander zu trennen sind, «hat» man diese Gnade nie als «ruhende[n] Besitz und totes Kapital», sondern nur indem «sie von uns Besitz ergreift und in ihr die Herrschaft Christi uns zum Dienen bringt».[269] Das Charisma versteht Käsemann nun als «Konkretion und Individuation der Gnade»[270]. Es unterstellt jedes einzelne Glied des Leibes Christi der Herrschaft Christi und beruft, begabt und bevollmächtigt es zu einem jeweils spezifischen Dienst.

«Charisma [ist] der spezifische Anteil des einzelnen an der Herrschaft und Herrlichkeit Christi […] und dieser spezifische Anteil am Herrn [erweist] sich in einem spezifischen Dienst und einer spezifischen Berufung. Denn es gibt keine göttliche Gabe, die nicht Aufgabe wäre, keine Gnade, die nicht aktivierte.»[271]

Das Feld des Charismatischen wird von Käsemann bis ins Ethische und Soziale ausgeweitet. Nicht nur das Wunderhafte, sondern «die gesamte Wirklichkeit unseres Lebens»[272] ist mit erfasst und «steht unter charismatischer Möglichkeit»[273], sofern sie im Glaubensgehorsam der Herrschaft Christi unterstellt wird. Paulus habe «seine gesamte Paränese vom Charisma her begründet»[274]. Die Charismenlehre sei «die konkrete Darstellung der Lehre vom neuen Gehorsam» und «nichts anderes als die Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein».[275]

Weiterhin entfaltet Käsemann das kritisches Potential des Charismabegriffs gegenüber jeder Form von Gemeindeordnung, die auf «Ämtern, Institutionen, Ständen und Würden aufgebaut»[276] ist. Bereits das Fehlen eines neutestamentlichen Terminus für den heutigen kirchlichen Amtsbegriff deute darauf hin, dass «ein Herrschaftsverhältnis […] in der Ordnung der Kirche keinen Platz hat»[277]. Stattdessen sei allein Charisma «ein Begriff, der Wesen und Aufgabe aller kirchlicher Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt»[278]. Aus der Universalität des Charismas – jeder ist Charismatiker, da jeder Anteil am Geist und an der Gnade hat – folge, dass es nach Paulus im Leib Christi weder «passive Mitgliedschaft»[279], noch ein «Privileg eines einzelnen Charismatikers gegenüber dem Christusleibe»[280] geben könne, ohne sich «an der ihr [d.h. der Kirche] von Gott gegebenen Ordnung»[281] zu vergreifen. Da das Charisma «nicht mehr Auszeichnung einzelner Auserwählter [ist], sondern das, was allen zuteil geworden ist»[282], seien «Amtsträger […] hier alle Getauften»[283] und zum Dienst entsprechend der ihnen verliehenen Gabe ermächtigt und verpflichtet. Des «Widerspruch[es] zum neulutherischen Amtsverständnis» und der «Spannung mindestens zum Wortlaut vieler reformatorischer Aussagen»[284] ist sich Käsemann hierbei bewusst, denn nach Paulus sei auch das ministerium verbi divini «jedem Christen übertragen und geboten»[285].

Käsemanns Ausweitung und anti-institutionelle Akzentuierung des Charismabegriffs wurde zu Recht immer wieder kritisch hinterfragt (→ 5.6.3). Es bleibt aber sein Verdienst, durch die konsequente Lösung des Charismas vom «fascinosum des Übernatürlichen»[286] den Charismabegriff von der Peripherie des Wunderhaften wieder ins Zentrum des paulinischen Evangeliums gerückt und seine grundsätzliche ekklesiologische Bedeutung erhoben zu haben. Am Ende seiner Ausführungen wird deutlich, dass Käsemanns Interesse von Anfang an nicht der rein historischen Rekonstruktion der neutestamentlichen Anschauungen, sondern ihrer theologischen Relevanz für die gegenwärtige kirchliche Gestaltung gilt. Eine «direkte Antwort […] für unsere Nöte» finde man freilich im Neuen Testament «nur, wenn man die eigenen Lösungen in die Vergangenheit zurückprojiziere».[287] Dennoch werden der Blick und das Gewissen geschärft, «daß es keiner Zeit erspart bleibt, neu anzufangen, kritisch und zugleich demütig die Geister auch des Vergangenen zu prüfen».[288] So nimmt er den Hörer bzw. Leser[289] in die ihn bedrängende Frage mit hinein:

«Warum [hat] selbst der Protestantismus nie ernsthaft versucht […], eine Gemeindeordnung unter dem Aspekt der paulinischen Charismenlehre zu schaffen, sondern das den Sekten überlassen»?[290]

Noch deutlicher als Käsemann lässt Georg Eichholz das paulinische Gemeindeverständnis «zur kritischen Anfrage»[291] an die gegenwärtige kirchliche Wirklichkeit werden. Diese habe durch das weithin herrschende «Einmannsystem» bestenfalls zu einer Degradierung der Gemeinde zum Helferdienst, meist aber zu ihrer Dispensierung von jeglichem Dienst geführt. Die von Paulus in 1Kor 12 skizzierte «charismatische Gemeinde», in der die vom Geist verliehenen Gaben wie in einem reich besetzten Orchester zusammenspielen, sei kein unwiederholbarer und unübertragbarer Sonderfall, sondern «Gemeinde schlechthin»[292]. Sie ist für Eichholz keine «Utopie, die schon für ihn [Paulus] letztlich in unerreichbarer Ferne bleibt und höchstens gelegentlich am äußersten Rand des Horizontes auftaucht», sondern «Ruf, Verkündigung, Angebot»[293]. Daher könne sie auch nicht als gesetzliche Forderung erhoben, sondern nur als «Angebot des Geistes»[294] verkündigt werden. Die entscheidende Frage sei daher, «ob wir uns als Christen […] nicht immer wieder gegen das wehren, was Gott von uns und mit uns will […]. Sind wir für dieses Angebot offen?»[295]

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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