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3.2.2.3 Gemeinde Jesu Christi als charismatische Gemeinschaft für andere

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Die Diskussion um die Struktur missionarischer Gemeinde ist für Werner Krusche von Anfang an verbunden mit der Wiederentdeckung der Gemeinde als einer charismatischen Gemeinschaft, in der sich alle Glieder des Leibes Christi nach dem Maß ihres verliehenen Charismas einbringen und so die Kirche für andere gestalten. Im Rückblick formuliert er:

«In den 60er Jahren haben wir in unseren Kirchen sehr intensiv nachgedacht über unseren künftigen Weg. Uns ist damals das paulinische Verständnis der Kirche als ‹charismatische Gemeinschaft› […] neu aufgegangen.»[408]

Ist das Missionarische das Strukturprinzip der Gemeinde, so müssen auch ihre Lebensformen der Teilnahme an der missio Dei dienen. Das heißt konkret: Sie müssen aufnahmefähig und ausstrahlungskräftig sein und die Glaubenden aussendungstüchtig machen.[409] Als das größte Hindernis sieht Krusche die «pastorale Betreuungsstruktur»[410] an. Aus der reformatorischen Erkenntnis des Priestertums aller Gläubigen seien «nie wirklich Konsequenzen gezogen worden»[411]. Anstatt des Bildes vom Leib Christi, in dem jedes Glied seine Funktion hat, habe sich das Bild von Hirte und Herde festgesetzt, das den Pfarrer als den «immer nur Gebenden» der Gemeinde als der «immer nur Empfangenden» gegenüber setzt.[412] Die Mehrheit bleibe rezeptiv, die wenigen mitarbeitenden Laien verstehen sich als «Handlanger des Pfarrers […], die das tun, was er als zu seinem allumfassenden Amte gehörend eigentlich selbst tun müßte, infolge seiner Überlastung aber leider nicht selbst tun kann»[413]. Die «Durchbrechung des ‹Einmannsystems›» werde aber nicht einfach durch eine Vergrößerung der «Arbeitsmannschaft» des Pfarrers erreicht, sondern nur dort, «wo die Gemeinde als Leib Christi, als ‹charismatische Gemeinschaft› wiederentdeckt ist, in der jeder, der seine Taufe im Glauben angenommen hat, den Heiligen Geist in einer bestimmten Konkretion als Charisma empfangen hat, in der also jeder etwas beizutragen hat, was für das Leben der Gemeinde unentbehrlich ist»[414]. Dazu bedürfe es aber einer «Neuorientierung an 1.Kor 12 und Eph.4»[415]. Gemeinde kann also nur missionarische Gemeinde werden, wenn sie zugleich auch charismatische Gemeinde ist.

Krusche fordert, das Amtsmonopol des Pfarrers aufzugeben und den Dienst der Versöhnung wieder als das eine der ganzen Gemeinde anvertraute Amt zu begreifen. Dieses eine Amt sei «funktional aufgegliedert und differenziert in verschiedene Gestalten»[416]. Die Glieder des Leibes seien an ihm «nach dem Maße ihres je besonderen Charisma oder kraft konkreter Berufung»[417] beteiligt. Im Einklang mit der ökumenischen Studie betont Krusche, dass ohne die Pluralität der Dienste und die Vielzahl der Begabungen das Evangelium in der modernen differenzierten Gesellschaft nicht mehr allen Menschen bezeugt werden könne: «Das eine Evangelium sucht alle und wird darum pluriform.»[418] Ist das Amt der Versöhnung der ganzen Gemeinde anvertraut, so könne das Pfarramt der Gemeinde nicht vor- oder übergeordnet sein, sondern nur eine spezifische Gestalt dieses einen Amtes. Seine Besonderheit liege vor allem in der Ausrichtung auf die Gesamtgemeinde. Sie konkretisiere sich in der Bewahrung der apostolischen Überlieferung und in der Zurüstung der «Heiligen» für das «Werk des Dienstes» (nach Eph 4,11f). Diese Zurüstung geschehe aber «sachgemäß nur unter der Voraussetzung der Gemeinde als einer charismatischen Gemeinschaft»[419] und bestehe in erster Linie in der Entdeckung der Charismen, ihrer Förderung und der Zuweisung zu bestimmten Aufgaben.[420] Im Gegensatz zur ökumenischen Studie sieht Krusche die verschiedenen Begabungen nicht in einem gegenseitigen Befähigungsprozess entstehen. Sie werden von Gott gegeben bzw. sind bereits gegeben worden, zum Teil aber wegen «Nicht-Inanspruchnahme»[421] verkümmert.

Die doppelte missionarische Ausrichtung der Gemeinde in Martyria und Diakonia, in Verkündigung des Evangeliums und Dienst in der Welt, bleibt auch für Krusches Charismenverständnis bestimmend: Die charismatische Gemeinschaft werde nämlich erst da «als Leib Christi ernst genommen», wo es «in wechselseitigem Geben und Empfangen» nicht nur um die Auferbauung des Leibes geht, sondern wo Christus als der gedacht wird, der durch seinen Leib sich der Welt und ihres Elends annimmt und sie «barmherzig angreif[t]», «wenn also auch mit Charismen für den Dienst in der Welt […] gerechnet wird».[422] Nicht nur in den «kirchlichen Innenfunktionen» sollen die verschiedenen Gaben ihren Einsatz finden, sondern «in den Sachbereichen der Welt»[423]. Die charismatische Gemeinde steht im Dienst der missio Dei. Gegenüber der Hochschätzung bestimmter auffälliger Charismen in der charismatischen Bewegung fragt Krusche, ob «heute nicht vielleicht ganz andere Charismen notwendig» seien – «nämlich die für die Weltverantwortung erforderlichen Charismen, wie die Sensibilität für die Leidenden in der Welt oder die Fähigkeit der Übersetzung von Inhalten des Evangeliums aus der biblischen Sprache in die politische Sprache».[424] Zusammenfassend formuliert Krusche: «Die Gemeinde Jesu Christi ist eine charismatische Gemeinschaft, die für ihren Dienst in der Welt die jeweils erforderlichen Gaben erhält.»[425]

Doch wie kann die Gemeinde als charismatische Gemeinschaft gestaltet werden? Welche Schritte sind konkret im Gemeindeaufbau zu gehen? Werner Krusche hat zu diesen Fragen keine umfassenden Antworten oder Programme entwickelt, doch treten in seinen Ausführungen zwei Aspekte hervor:

1. Zum einen stellt Krusche kritische Anfragen an die geistliche Haltung der Kirche. Eine «Erwartungslosigkeit» habe sich breitgemacht, die nicht mehr damit rechne, dass es «zu Erweckungen und zu verbindlicher Christusnachfolge kommen könnte, zu Bekehrungen von Menschen aus ganz unkirchlichem Milieu, zur Betätigung von Charismen, die bisher unentdeckt waren und sich nicht entfalten konnten».[426] In der charismatischen Bewegung mit ihrer zuversichtlichen Erwartung gegenwärtiger Wirkungen des Heiligen Geistes sieht Krusche zwar kein direktes Vorbild, das einfach zu kopieren wäre, aber eine wichtige Anregung und Herausforderung, den Geist nicht wie bisher nur «in seiner das Wort begleitenden und auf unser Denken und Wollen gerichteten Funktion» wahrzunehmen, sondern auch mit «ihm als dem Wandlungen und Wunder bewirkenden ‹Geist der Kraft› (2Tim 1,7; Mt 12,28)» zu rechnen.[427]

2. Zum anderen scheint es, als sehe Krusche die grundlegende Sozialgestalt charismatischer Gemeinschaft vor allem in der Hausgemeinde, wie sie Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe angedacht, aber noch nicht zu verwirklichen gewagt hat.[428] Sie sei die Gemeinde der Zukunft. Wenn die Reformation der Kirche weitergehen soll – und sie soll es, «weil das Evangelium weiter gehen will als bis zu den Grenzen der Kirche»[429], – dann wohl «in Richtung auf diese kleinen Gemeinschaften kommunikativen Lebens»[430]. Hier verwirkliche sich die charismatische Gemeinschaft in gegenseitiger Seelsorge, Stärkung, Ermahnung, Tröstung und finanzieller Hilfe. Insofern in ihr die Milieuverengung des Gottesdienstes und der üblichen Gemeindekreise überwunden werde, sei sie nicht introvertiert, sondern missionarisch. Hier geschehe die Zurüstung zum Dienst, da man «miteinander bedenkt, wie man das Evangelium am besten weitergibt durch Hand und Mund, durch Wort und Tat»[431]. Krusche kommt schließlich zu der kritischen Anfrage an die kirchliche Praxis, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen der Vernachlässigung derartiger «geistlicher Lebensangebote» und der fehlenden Entfaltung bzw. dem mangelndem Wirksamwerden der charismatischen Möglichkeiten gebe.[432]

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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