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3 Die Rezeption der Charismenlehre in der Oikodomik 3.1 Vorbemerkungen 3.1.1 Zu den Anfängen der modernen Oikodomik und ihren Verbindungen zur Charismenlehre

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Die Kirche Jesu Christi steht als ecclesia semper reformanda zu jeder Zeit in der Verantwortung, die gegenwärtige und zukünftige Gestalt ihrer Praxis vom Evangelium Jesu Christi her kritisch-reflexiv zu bedenken und konstruktiv-prospektiv zu entwerfen. Insofern sie das Evangelium als Befreiung des Menschen zu einer neuen Gemeinschaft mit Gott und Mensch versteht – eine Gemeinschaft, die keine abstrakte Idee bleiben, sondern konkrete Gestalt in der Wirklichkeit des Lebens annehmen will –, kommt den Fragen nach Ordnung und Aufbau, Entwicklung und Wachstum von Kirche und Gemeinde eine besondere Bedeutung zu. Dennoch gehört die Oikodomik als wissenschaftlich-theologische Reflexion dieser Fragen zu den jüngeren praktisch-theologischen Disziplinen, die die klassische Trias von Homiletik, Poimenik und Katechetik ergänzen.[336]

Als «Vater des modernen Gemeindedenkens» gilt der neuprotestantische Dresdner Pfarrer Emil Sulze (1832–1914).[337] Er sah in den übergroßen Parochien das Haupthindernis für ein lebendiges Gemeindeleben und forderte die Schaffung von überschaubaren «Seelsorgegemeinden» mit nicht mehr als 3000–4000 Gemeindegliedern.[338] Der Begriff «Gemeindeaufbau» erhielt allerdings erst durch den Afrikamissionar Bruno Gutmann (1876–1966) Eingang in die theologische Fachsprache.[339] Gutmann beschreibt in seinem Buch «Gemeindeaufbau aus dem Evangelium» (1925) die Grundsätze, nach denen er unter den Dschagga am Kilimandscharo christliche Gemeinde baute, und die er «für Mission und Heimatgemeinde»[340] für bedeutsam hält.

Weder Bruno Gutmann noch Emil Sulze nehmen in ihren Ausführungen explizit Bezug auf die Charismenlehre, obwohl beide Konzeptionen eine gewisse Nähe zum paulinischen Bild der charismatischen Gemeinde aufweisen. So kommt es Gutmann darauf an, «das Bewußtsein der inneren Bezogenheit aller Glieder aufeinander zu erwecken»[341]. Dazu stärkt er die Verwurzelung der Menschen in den natürlichen Bindungen von Sippe, Nachbarschaft und Altersklassen und integriert sie in den Gemeindeaufbau. Er richtet zum Beispiel Nachbarschaftsversammlungen nach dem Gottesdienst ein, die ihre internen Probleme selbst lösen sollen. Weiterhin fügt er zwei, später auch vier Konfirmierte zu einer «Schildschaft» zusammen, die lebenslang besteht und sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Ziel des Gemeindeaufbaus ist für Gutmann die «Selbstwirksamkeit der Gemeinde» als dienender Organismus.[342] Dabei kreist sein Denken nach Christian Möllers Darstellung «unermüdlich um die paulinische Rede vom Leib und den Gliedern»[343]. Diese wird von ihm allerdings ausschließlich schöpfungstheologisch ausgelegt, während die christologische und pneumatologische Dimension in den Hintergrund tritt. Folglich wird auch die Charismenlehre von Gutmann nicht weiter bedacht.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Emil Sulze. Er tritt nicht nur für eine Aufteilung der übergroßen Großstadtparochien in «Seelsorgegemeinden» ein, sondern auch für deren Untergliederung in weitere Unterbezirke von etwa 200 Gemeindegliedern. Jeweils ein Laien-Mitarbeiter, von Sulze «Presbyter» genannt, ist für einen Bezirk zuständig. Die Laien-Mitarbeiter verantworten zusammen mit den tüchtigsten Hausvätern (wobei auch Frauen nicht ausgeschlossen sind) die seelsorgliche und diakonische Arbeit des Bezirks. Auf diese Weise soll die «Selbsttätigkeit der Gemeinden»[344] wieder angeregt werden:

«Es muß […] das Ziel unseres Strebens sein, daß in der Gemeinde eine Arbeit aller an allen geschieht.»[345] «Dann regt sich in den Gemeinden ein selbständiges Leben, das die Geistlichen nur im Gange zu erhalten und zu leiten haben. Eine über das Maß der Kraft […] hinausgehende Produktivität braucht dann nicht mehr von ihnen gefordert zu werden. Ihre Arbeit wird bescheidener und doch reicher an Inhalt und Erfolg.»[346]

Sulze tritt demnach für eine Aktivierung der Laien zu gegenseitigem Dienst in Seelsorge und Diakonie ein – «ein revolutionärer Gedanke in einer Zeit, in der ausschließlich das geordnete Amt der Kirche dafür zuständig war»[347]. Ob man Sulze mit Gottfried Knospe «den Wiederentdecker der Gemeinde»[348] nennen sollte, ist im Blick auf Hinrich Wichern und andere Befürworter des Gemeindeprinzips fraglich (→ 2.2.2). Jedenfalls nimmt er das reformatorische Prinzip des allgemeinen Priestertums in seiner ekklesiologischen Bedeutung ernst und bedenkt seine Konsequenzen für die Gestaltung von Gemeinde und Kirche intensiver als viele zeitgenössischen Theologen. Die Begründung seiner Reformvorschläge bleibt allerdings vorwiegend pragmatisch und wird nicht durch Rekurs auf die paulinische Charismenlehre pneumatologisch fundiert.

Darin unterscheidet er sich von seinem Zeitgenossen Ernst Christian Achelis, der sich in seinem umfang- und einflussreichen «Lehrbuch der Praktischen Theologie» ([31911) mehrfach auf die «praktisch so sehr vernachlässigte Lehre des Neuen Testaments von den Charismen» bezieht.[349] Achelis kommt Sulzes Reformvorschlägen in vielen Punkten nahe. Seine «pia desideria»[350] richten sich ebenfalls auf lebendige Ortsgemeinden, in denen das allgemeine Priestertum von der instituierten Presbyterialordnung bis hin zur Laienpredigt durch begabte Gemeindeglieder praktiziert wird.[351] Dieses Ziel eines «Gemeindeleben[s], in dem kein Glied nur empfangend, kein Glied nur gebend ist»[352], verbindet Achelis nun aber mit der Charismenlehre:

«Die Durchführung aber der Idee des Allgemeinen Priestertums heißt nichts anderes, als die Gaben, die Gott reichlich in der Gemeinde ausgeteilt hat, und die Kräfte, die zum großen Teil müßig am Markt stehen und für das Gemeindeleben unfruchtbar bleiben, für dieses unter der Leitung des Geistlichen Amtes und der geordneten Gemeindeorgane zu verwerten. Die Charismen sind nicht ausgestorben in der Gemeinde Christi, sie harren nur der Erweckung und Inanspruchnahme.»[353]

Das Ziel, «lebendige Gemeinden»[354] mit Beteiligung möglichst vieler Gemeindeglieder zu schaffen, vereint am Ende des 19. Jahrhunderts Sulze und Achelis mit vielen zeitgenössischen Verantwortungsträgern in Kirche und Theologie.[355] Es bleibt ein zentrales Motiv in der Diskussion um den Gemeindeaufbau bis heute.[356] Seit den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wird dabei der von Achelis vorgezeichneten Spur vermehrt nachgegangen und die Charismenlehre als zentrales Theorieelement in die oikodomische Reflexion eingebracht.

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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