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3.3.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung

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Die bisherige Darstellung zeigte, dass Bäumlers Entwurf einer kommunikativen Gemeindepraxis Konvergenzen zum paulinischen Leitbild der charismatischen Gemeinde aufweist und die Charismenlehre im theologischen Begründungszusammenhang der Gemeindepraxis rezipiert wird. In Bäumlers Gesamtkonzeption kommt der Charismenlehre oikodomische Relevanz zu:

1. Die kommunikativen Regeln, die Bäumler in Anlehnung an das Habermas’sche Diskursmodell aufstellt (Offenheit, Herrschaftsfreiheit, Partizipation und Solidarität), stehen in enger Verbindung zu den Prinzipien, die sich aus der paulinischen Charismenlehre ableiten lassen: freier Dienst aneinander, Füreinander statt Konkurrenz, Teilnahmemöglichkeit jedes Gemeindegliedes. Die paulinische Charismenlehre enthält ein strukturkritisches Moment. Nicht nur die pastorale Grundstruktur mit ihrer Dominanz der Ein-Weg-Kommunikation, sondern jede andere Struktur, die die Entstehung einer kommunikativen Gemeindepraxis hindert, die Gemeindeglieder in einer passiven Konsumentenrolle belässt und nicht in die Mündigkeit als selbstverantwortliche Subjekte führt, kann und muss vom normativen Kriterium der «Gemeinde der Befreiten» und das heißt zugleich von den Prinzipien der charismatischen Gemeinde kritisch analysiert und verändert werden. Das bedeutet aber auch, dass gerade die charismatische Gemeinde immer wieder ihre eigenen regulativen Prinzipien kritisch auf sich selbst anwenden muss. Denn gerade der autoritäre Missbrauch der Charismen kann in die Unfreiheit und Abhängigkeit statt in die Freiheit der mündigen Selbstverantwortung führen.

2. Bäumlers Intention, die Gemeinde nicht als Adressatin eines «von oben» initiierten Programms von Gemeindeaufbau, sondern als Subjekt desselben zu gewinnen, entspricht dem paulinischen Zeugnis, nach dem die Auferbauung der Gemeinde nicht die Sache einzelner leitender Personenkreise ist. Vielmehr wird die ganze Gemeinde in die Verantwortung genommen (vgl. z.B. 1Kor 14,12.26; 1Thess 5,11). Problematisch ist allerdings die Dominanz des modernen Subjektbegriffs und dessen Implikation menschlicher Autonomie. Der anscheinend bestehende Widerspruch zwischen der Forderung, dass alle Getauften als «die befreiten Subjekte der Gemeindepraxis»[480] anzuerkennen sind, und der Aussage, dass «der dreieinige Gott als Subjekt der Gemeinde»[481] verstanden werden muss, wird von Bäumler durch einen Hinweis auf den kenotischen Verzicht Gottes auf unmittelbare Selbstdurchsetzung zu lösen versucht:

«Der dreieinige Gott ist nämlich insofern Schöpfer menschlicher Freiheit […], daß er sich in dem Menschen Jesus von Nazareth bis zum Tode am Kreuz entäußert und Menschen in die freie Nachfolge des Gekreuzigten beruft.»[482]

Diese Generalisierung des Kenosisgedankens steht allerdings in der Gefahr deistisch missverstanden zu werden, wenn das Wirken des dreieinigen Gottes auf die Herstellung der Möglichkeit menschlicher Freiheit eingeschränkt gedacht wird. Die Rezeption der paulinischen Charismenlehre hätte zwischen dem menschlichen und göttlichen Subjekt vermitteln können (→ 6.1). Denn gerade sie macht deutlich, dass der dreieinige Gott als souveränes Subjekt des Gemeindeaufbaus den Glaubenden Charismen schenkt, die diese aber nicht zu willenlosen Instrumenten macht (1Kor 14,32), sondern zu verantwortlichem Handeln beruft und befähigt (→ 5.5).

3. In einem weiteren Punkt könnte das Konzept der kommunikativen Gemeindepraxis eine Vertiefung und Korrektur durch die paulinische Charismenlehre erfahren. Bäumler erkennt die Notwendigkeit, «den theologischen Begründungszusammenhang der Gemeindepraxis in der Pneumatologie zu verankern»[483]. Da er aber in der paulinischen Charismenlehre vor allem eine christologische Begründung der herrschaftsfreien kommunikativen Praxis sieht, geht sein eigener Versuch nicht von ihr, sondern vom Begriff der «Freiheit» aus. Sie ist für ihn das zentrale Stichwort des neutestamentlichen Kerygmas. Der Geist ist der Geist der Freiheit, die Gemeinde ist das «Instrument des Geistes der Freiheit»[484], der Leitbegriff der Gemeindepraxis daher die «Gemeinde der Befreiten». Es ist allerdings zu fragen, ob dieser Versuch nicht zu formal bleibt und eine weiterführende Rezeption der paulinischen Charismenlehre zur pneumatologischen Begründung kommunikativer Gemeindepraxis hätte beitragen können. Damit wäre einerseits die kreative Rolle des Geistes deutlicher zum Ausdruck gekommen, anderseits die «Gefahr einer einseitigen Intellektualisierung und Verbalisierung»[485] vermieden. Bäumler hat diese Gefahr selbst gesehen und versucht sie durch die Einbeziehung von Symbol und Ritual zu umgehen. Solange aber der offene Diskurs das Grundmodell der Gemeindepraxis bildet, wird die Kommunikation des Evangeliums vor allem auf verbaler Ebene stattfinden. Es ist zu fragen, ob diese Einseitigkeit nicht ihrerseits zur Benachteiligung von intellektuell bzw. rhetorisch weniger begabten Gemeindegliedern führen könnte und ob nicht eine Orientierung an der Vielfältigkeit der neutestamentlichen Charismenlisten die Vielfältigkeit und Gleichwertigkeit verbaler und nonverbaler Gaben eher verdeutlichen könnte. In jedem Charisma manifestiert sich der Geist der Freiheit (vgl. 1Kor 12,7), nicht nur und nicht vor allem in den Charismen, die sich in diskursiven Prozessen Gehör zu verschaffen wissen.

4. In ähnlicher Weise wie Werner Krusche verortet Christof Bäumler die Gemeindepraxis in der spannungsvollen Dialektik von Charisma und Institution. Sie erscheint bei ihm in anderer Terminologie: Als Unterscheidung und kritische Zuordnung der tatsächlichen und wünschenswerten Funktion der Gemeinde. Während die tatsächliche Funktion in der Sinnvermittlung und Lebenshilfe besteht und durch den Pfarrer als Repräsentanten der Institution Kirche garantiert wird, besteht die wünschenswerte Funktion in der «Realisierung der Gemeinschaft der Befreiten»[486] in Kerygma, Koinonia und Diakonia, die in der paulinischen Charismenlehre ihr historisches Paradigma hat.[487] Tatsächliche und wünschenswerte Funktionen sind kritisch zu vermitteln, nicht indem die wünschenswerte Funktion der faktischen als abstrakte Norm oder gesetzlich zu erfüllendes Ideal gegenübergestellt wird, sondern indem die Spielregeln der wünschenswerten Funktion als regulative Prinzipien der faktischen bestimmt werden. Das heißt, die faktischen Funktionen sind so zu gestalten, dass die Elemente der wünschenswerten Funktionen (Offenheit, Herrschaftsfreiheit, Partizipation und Solidarität) zur Geltung kommen. Die «Maßstäbe einer möglichen Praxis der Freiheit» können sich «auf dem engen Feld alltäglicher Gemeindewirklichkeit bewähren».[488] In den Worten Krusches ausgedrückt: Das Charisma wird zum «strukturierenden Prinzip der Institution»[489].

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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