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2.2.4.1 Rudolph Sohms Charismabegriff, seine Rezeption und Umprägung durch Max Weber

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Max Weber führte mit «Charisma» einen Begriff in die Soziologie ein, der zuvor nur in der innertheologischen Diskussion gebräuchlich war: «Der Begriff ‹Charisma› (‹Gnadengabe›) ist altchristlicher Terminologie entnommen […]. Er ist also nichts Neues.»[198] Als Quelle gibt Weber u.a. die theologischen Arbeiten des Rechtshistorikers Rudolph Sohm an.[199] Es sei sein Verdienst, «für einen geschichtlich wichtigen Spezialfall […] die soziologische Eigenart dieser Kategorie von Gewaltstruktur gedanklich konsequent […] herausgearbeitet zu haben»[200]. Tatsächlich nimmt die paulinische Charismenlehre eine zentrale argumentative Funktion in Sohms historischer Rekonstruktion der urchristlichen Organisation und ihrer späteren Deformation ein. Die Geschichte der Kirche stellt sich ihm als die Geschichte ihres Abfalls vom eigentlichen Wesen dar.[201] Durch rechtlich-amtliche Reglementierungen sei die essentielle pneumatisch-charismatische Dimension zunehmend überdeckt und verdrängt worden.

«Die aus dem göttlichen Wort geschöpfte, in Wahrheit apostolische Lehre von der Verfassung der Ekklesia ist die, daß die Organisation der Christenheit nicht rechtliche, sondern charismatische Organisation ist […]. Die Christenheit ist organisiert durch die Verteilung der Gnadengaben (Charismen), welche die einzelnen Christen zu verschiedener Thätigkeit in der Christenheit zugleich befähigt und beruft.»[202]

Die These vom rein charismatischen Ursprung der Kirche löste eine kontroverse theologische Debatte aus. Adolf von Harnack trat Sohm mit der historischen Rekonstruktion einer doppelten bzw. dreifachen Gemeindeorganisation entgegen, die außer den charismatischen Diensten (Lehrer, Propheten) noch patriarchalische (Älteste) bzw. administrative Ämter (Bischöfe, Diakone) umfasste.[[203] In ihrer Breitenwirkung verschaffte die Debatte dem «Charisma» eine bisher unbekannte Aufmerksamkeit über den binnentheologischen Raum hinaus. Max Weber rezipierte den Begriff und prägte ihn in eine soziologische Grundkategorie um. Dabei führte er einerseits einseitige Gewichtungen weiter, die die Charismenlehre bereits bei in der Rezeption durch Rudolph Sohm erfuhr. Andererseits gingen durch den Transfer in eine ihrem Anspruch nach «wertfreie» Wissenschaft theologisch konstitutive Gehalte verloren. Die Bedeutungsveränderungen, ohne deren (Auf-)Klärung in der Gegenwart nicht theologisch verantwortlich von Charisma geredet werden kann, lassen sich im Vergleich von Sohms Charismenverständnis und seiner Rezeption durch Weber aufzeigen:

1. Charisma als universelle soziologische Kategorie – die methodische Ausklammerung der vertikalen Dimension: Weber sieht in der von Sohm skizzierten historischen Entwicklung einen «geschichtlich wichtigen Spezialfall»[204] eines gesellschaftlichen Prozesses von allgemeingültiger Bedeutung: die Verrechtlichung und Traditionalisierung von charismatischer Herrschaft.[205] Der «prinzipiell gleiche Sachverhalt kehrt, obwohl auf religiösem Gebiet oft am reinsten ausgeprägt, sehr universell wieder»[206]. Entsprechend löst Weber das «Charisma» aus seinem spezifisch theologischen und historischen Kontext und schreibt ihm synchrone und diachrone Universalität («Transepochalität»[207]) zu. Es sei auf jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe präsent, wenn auch meist in einer je besonderen Gestalt.[208] Der Charismabegriff eignet sich daher zur idealtypischen Beschreibung einer spezifischen gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehung: der «charismatischen Herrschaft».[209] Während die «legale Herrschaft» ihre Legitimitätsgeltung auf dem «Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen», die «traditionale Herrschaft» auf dem «Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen» gründet, beruht die «charismatische Herrschaft» auf der «außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen»[210]. Sie legitimiert sich nicht durch objektive Traditionen oder Institutionen, sondern allein durch den aktuellen subjektiven Einfluss seiner besonderen persönlichen Ausstrahlungskraft – eben durch das «Charisma».

In der Weber’schen Rezeption des theologischen Charismabegriffs spiegeln sich zwei methodische Prämissen der «verstehenden Soziologie» wider: das Konzept des Idealtypus und das Postulat der Wertneutralität.[211] Ein Begriff wird seiner spezifischen geschichtlichen Bedeutungsgehalte entleert, auf idealtypische Merkmale reduziert und in der Abstraktion für das Verständnis unterschiedlichster gesellschaftlicher Prozesse relevant.[212] Die Soziologie hat sich als verstehende Wissenschaft dabei jedes Werturteils zu enthalten und sich mit der «Feststellung empirischer Tatsachen»[213] zu begnügen. Als «wertfreie Soziologie»[214] fragt sie nicht nach der «objektiven» Beurteilung der charismatischen Qualität.

«Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‹objektiv› richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‹Anhängern›, bewertet wird, kommt es an […]. Das Charisma eines ‹Berserkers› […] eines ‹Schamanen› […], oder etwa des […] Mormonenstifters […] werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung ‹größten› Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichrangig behandelt.»[215]

Die Anwendung beider methodischer Prinzipien auf das Phänomen des Charismas führt zu einer entscheidenden Variation seines Sinngehalts. Für Sohm war der explizit geistliche Charakter des Charismas konstitutiv: «Das Charisma ist von Gott.»[216] Als Wirkung des Heiligen Geistes ist es eine geschenkte Befähigung und Berufung zum Dienst an der Kirche. Dieser explizite Rekurs auf das Wirken des Geistes geht als geschichtlich bedingtes religiöses Werturteil in der soziologischen Rezeption einerseits durch die idealtypische Abstraktion und andererseits durch das Postulat der Wertneutralität verloren. Der Gottes-Bezug des Charismas, seine vertikale Dimension, ist von der Soziologie als «voraussetzungsloser Wissenschaft» «methodisch ein- bzw. auszuklammern».[217] Empirisch verifizierbar ist daher nur die horizontale Dimension: das subjektives Werturteil der charismatisch Beherrschten, denen das Charisma als das «Außeralltägliche»[218], «noch nie Dagewesene, absolut Einzigartige» und «deshalb» als das «Göttliche» erscheint.[219]

2. Charisma als personale Kategorie: Durch die Prämisse der Wertneutralität und die aus ihr methodisch notwendig folgende Ausklammerung des Gottes-Bezuges, wird das Charisma in Webers Typologie von einer verliehenen Gabe zu einer Qualität der Persönlichkeit.

«‹Charisma› soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‹Führer› gewertet wird.»[220]

Die personale Strukturierung des Charismas spiegelt sich in neuen Begrifflichkeiten, die in Sohms Verständnis keinen Raum hatten, z.B. «persönliches Charisma», «charismatische Qualifikation», «charismatische Qualität».[221] Das Charisma wird zu einer habituell verfügbaren Größe, entweder angeboren oder «durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft»[222].

3. Charisma als Herrschaftsbegriff: Weber interpretiert den theologischen Charismabegriff als Herrschaftsbegriff. Sohms Arbeit versteht er als gedanklich konsequente Herausarbeitung der «soziologischen Eigenart dieser Kategorie von Gewaltstruktur»[223] für die «christliche Hierokratie»[224]. Tatsächlich reflektiert Sohm in seinen Darlegungen immer wieder auf das Problem der Autorität des Charismas: Das Charisma begründe «Überordnung und Unterordnung»[225] und fordere Gehorsam. Der Gehorsam sei aber nicht rechtlich gesichert. Er habe vielmehr die nur «freie Anerkennung des Charismas […] zur Voraussetzung»[226] und sei «aus der Überzeugung geboren…, daß wirklich Gottes Wille durch das Mittel dieses Begabten Gehorsam fordert»[227]. Gehorsam gegenüber dem Charisma sei somit «Liebespflicht nicht Rechtspflicht»[228]. In Webers Darlegungen zur Autorität des Charismas finden sich fast alle genannten Stichworte wieder.[229] Das Weber’sche und die Sohm’sche Verständnis der charismatischen Autorität kommen sich sachlich und sprachlich recht nahe, differieren aber in einem entscheidenden Punkt:[230] Nach Sohm kommt dem charismatisch Begabten nur mittelbare Autorität zu. Die Ekklesia ist streng theokratisch organisiert: Sie wird durch «das Walten des göttlichen Geistes geführt, regiert»[231], jede Form menschlicher Herrschaft ist zunächst ausgeschlossen. Das Regiment Gottes vollzieht sich konkret durch die Verteilung der Charismen und durch sein Wirken in ihnen.[232] Der charismatisch Begabte hat keine andere Autorität als die des in ihm und durch ihn wirkenden Geistes. Sein Handeln ist deshalb ein «Dienst», der persönliche Herrschaft gerade ausschließt.[233] Mit der Umprägung des Charismabegriffs von einer unverfügbaren göttlichen Gabe zur verfügbaren personalen Qualität wandelt sich bei Max Weber auch der Charakter der charismatischen Autorität. Sie ist nicht mehr verliehene, mittelbare Autorität, sondern die persönliche, unmittelbare Autorität des charismatisch Qualifizierten. Der geforderte Gehorsam gilt ihm als Person. Er gründet sich auf der «emotionalen Überzeugung»[234] der Beherrschten, die der Herrscher durch den Erfolg seines Wirkens sichern muss.

4. Charisma als das Anti-Institutionelle: In stereotyper Eindringlichkeit hebt bereits Rudolph Sohm die charismatische Organisation der Ekklesia von jeder formalen Institutionalisierung ab. Das geistliche Wesen der Kirche entziehe sich gänzlich rechtlich-weltlicher Organisationsformen. Die Tragik der Geschichte liege gerade darin, dass die Kirche sich zunehmend rechtlich organisierte und dadurch von ihrem wahren pneumatisch-charismatischen Wesen entfernt habe. Diesen «Sündenfall der Kirche»[235] sieht Sohm in der Entstehung des römischen Episkopats und in der Einrichtung des landesherrlichen Kirchenregiments erfolgt.[236] Max Weber setzt in analoger Weise das Charisma in Widerspruch zu allem Institutionellen und Alltäglichen: Das «genuine Charisma» ist «seinem Wesen nach […] kein stetiges ‹institutionelles› Gebilde, sondern […] gerade das Gegenteil»[237]. Aus diesem Gegensatz heraus bestimmt Weber die Eigenart des Charismas vor allem durch negative Abgrenzung: Das Charisma ist «irrational»[238], «alles umwertend»[239], «außeralltäglich», «wirtschaftsfremd»[240]; es ist das «Außerordentliche und Unerhörte, aller Regel und Tradition Fremde»[241], die «Ablehnung der Bindung an alle äußerliche Ordnung»[242], die «revolutionäre Macht der Geschichte»[243]. Dennoch versuche sich die charismatische Herrschaft durch Institutionalisierung zu sichern. Dadurch wandle sie aber ihr ursprüngliches Wesen: Das genuin persönliche Charisma wird veralltäglicht bzw. versachlicht und büßt seine revolutionäre geschichtsbildende Macht ein. Weber verbindet, wie sein theologischer Vordenker Sohm, in dialektischer Weise die idealtypische Trennung beider Größen mit der geschichtlichen Dynamik ihrer Vermengung.

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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