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2.1.5 Martin Luther: Die Charismen als «Beigaben» des Glaubens

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Bereits die Wortstatistik zeigt, dass weder der Begriff Charisma noch die mit ihm verbundenen theologischen Zusammenhänge eine entscheidende Rolle in Luthers Denken spielen.[113] Der lateinische Terminus charisma erscheint nur selten,[114] und wenn Luther von «Gaben» (bzw. lat. dona) spricht, fasst er darunter fast ausschließlich allgemeine Heilsgaben Gottes, wie den Glauben oder das ewige Leben.[115] Oskar Föller urteilt zutreffend: «Luthers Hauptinteresse gilt nicht der Vielfalt der Charismata, sondern der einen heilsnotwendigen, Zeit und Ewigkeit umfassenden Charis.»[116] Ausführlichere Erörterungen finden sich nur in Luthers Schriftauslegung und Predigten über die entsprechenden neutestamentlichen Stellen[117] – «und auch dort äußert er sich jeweils eher zurückhaltend»[118]. Dabei zeigen sich theologische Akzentuierungen, die für die Frage nach der aktuellen praktisch-theologischen Relevanz der Charismenlehre von Bedeutung sind.

1. Relativierung des Mirakulösen: Luther hat das überkommene Urteil vom Aufhören der (außergewöhnlichen) Charismen nicht unbesehen übernommen. So schränkt er in seinen Himmelfahrtspredigten die wunderhaften Zeichen aus Mk 16,17f nicht grundsätzlich auf die Apostelzeit ein, sondern hält die Möglichkeit eines gegenwärtigen Erscheinens für besondere Situationen offen, in denen die Lehre des Evangeliums durch Wunder verteidigt oder bestätigt werden muss.[119]

«Dann ain Christen mensch hat gleich gewalt mit Christo […] Darumb wa ain Crysten mensch ist, da ist noch der gewalt solch zaichen zu thun, wenn es von noeten ist. Es sol sich aber niemandts understeen die zu ueben, wenn es nicht von noeten ist oder nit erforderet […]. Seytemal aber das Euangelium nun außgebraitet und aller welt kund worden ist, ist nit von noeten zaichen zu thun als zu der Apostel zeiten. Wann es aber die not fordern wurde unnd sye das evangelium engsten und dringen woltten, so muessendt wir warlich dran und muessen auch zaichen thun, ee wir das Euangelium uns liessen schmehen und underdrucken. Aber ich hoff es werd nit von noeten sein und wirt dahyn nyt geraichen: also das ich mit newen zungen solt alhye reden, Ist doch nit von noeten […]. Wann mich got aber hin schickte da sy mich nit vernamen, da kund er mir wol jre zung oder sprach verleyhen, dadurch ich verstanden wurde. Hierumb sol sich niemant understeen on anligende noeten wunderzaichen zu thun.»[120]

Da diese Notwendigkeit aber gegenwärtig nicht gegeben sei, sind die wunderhaften Charismen für Luther ohne herausragende aktuelle Bedeutung.[121] Sie sind der Verkündigung des Evangeliums und dem Glauben als dem wahren und größten Wunder Gottes untergeordnet und verhalten sich zu ihm wie Blei zu Gold.[122] Aufgrund ihrer Zweideutigkeit sind sie wie alle anderen Gaben Gottes immer an der Lehre des Evangeliums zu prüfen.[123]

2. Betonung des Geschenkcharakters: Die rechtfertigungstheologische Prämisse des sola gratia kommt in Luthers Verständnis der geistlichen Gaben immer wieder zur Anwendung. Die Gaben sind «von oben her geschenkt» (e supernis datum)[124], «Gnadengaben»[125], nicht aufgrund eines eigenen Verdienstes verliehen. Sie sind Beigaben, die Gott zusammen mit dem Glauben als der ersten und wichtigsten Gabe schenkt.

«Aber ich acht […], Das der Glaube mit sich bringe als ein heupbt gutt die andern gaben […], das wyr solche gaben nicht verdienet haben, sondern wo glaube ist, da ehret Gott den selben glauben mit ettlichen gaben als zur mitgabe odder ubergabe,[126] wie viel er will […]. Eben darumb spricht er auch, es seyen mancherley gaben, nicht nach unserm verdienst, sondern nach der gnaden, die uns geben ist; das also die gnade gleich wie der glaube mit sich bringe solch edle kleynot und geschencke, eym iglichen seyne mas.»[127]

Die Gaben dienen daher auch nicht dazu «fur Gott frum, selig odder besser denn der andre»[128] zu werden. Es ist eine Verkehrung von «Gottis warheyt […] ynn eyne lugen», wenn die Glaubenden «aus den gaben Gottis eynen dienst fur Gott [machen], die doch zum dienst des nehisten geben sind»[129].

3. Hervorhebung des Ordnungsgedankens: Auf dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit radikalen Reformbestrebungen legt Luther besonderes Gewicht auf die paulinische Mahnung zur Selbstgenügsamkeit und Ordnung. Wie die Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Geistes die Geringschätzung einer Gabe ausschließt,[130] so widerspricht die Verschiedenheit des nach Gottes Willen je individuell zugeteilten Charismas der geistlichen Selbstüberschätzung. Es sei kennzeichnend für die Schwärmer, sich in einen Dienst zu drängen, zu dem sie weder Gabe noch Verständnis haben.[131] In der Schrift «Von den Schleichern und Winkelpredigern» (1532) wird die Frontstellung gegenüber den Spiritualisten des linken Flügels der Reformation exemplarisch greifbar. Luther polemisiert gegen Prediger, die ohne Berufung öffentlich auftreten und «jnn ein frembd ampt greiffen und fallen»[132] Sie legitimieren ihr Rederecht mit einem Verweis auf die Charismenlehre, besonders auf 1Kor 14,30f. Luther widerspricht, indem er in problematischer Umdeutung der paulinischen Aussagen behauptet, die Stelle habe nur die (amtlich eingesetzten) Propheten und Lehrer im Blick, nicht den «pobel, der da zu hoeret»[133]. Luther ermahnt daher, dass sich niemand als «hans ynn allen gassen»[134] zu allem berufen fühlen und in Aufgabe und Dienst der anderen eingreifen dürfe, sondern bei seinem «Amt» bleiben solle.[135] Durch die Verbindung der Leib-Christi-Metapher mit der mittelalterlichen Standes- und Berufsethik geht Luther aber über die paulinische Ermahnung zur τάξις (1Kor 14,40) hinaus.[136] Die Dynamik der paulinischen Charismenlehre geht verloren, wenn das Charisma zu einer statischen Ortzuweisung wird.[137]

4. Fokussierung auf das kirchliche Amt: Die statische Auffassung der Charismen als angelegte oder erworbene Begabung begünstigt ihre Fokussierung auf den kirchlichen Amtsträger.[138] Er wurde von Gott mit der Gabe des Weissagung, interpretiert als die Gabe der Verkündigung ausgestattet,[139] bzw. hat sich durch sein Studium die Gabe der Auslegung der Sprachen, d.h. in Luthers Verständnis die Kenntnis der biblischen Ursprachen und die Fähigkeit der Übersetzung, angeeignet.[140] In der Fastenpostille von 1525 bezieht Luther ausdrücklich die ersten sechs in Röm 12,6–8 genannten Charismen auf das «gemeyn regiment der Christenheyt, wilchs man nu heysst den geystlichen stand»[141], und hält die Begabung einer einzigen Amtsperson mit mehreren Gaben für die Regel.[142] Zu den «stücke, die yderman angehen ynn der Christenheyt»[143] zählt er neben den in Röm 12,9–16 folgenden Tugenden und Wohltaten nur das Charisma der Barmherzigkeit. Für die Gemeinde hat die paulinische Charismenlehre nur wenig Bedeutung. So beginnt Luther eine Predigt über 1Kor 12,1–11 mit den Worten: «Haec Epistola ist nicht fast von noten pro gmeinen man.»[144]

Luthers Charismenverständnis bietet somit bedeutsame Einsichten, überwindet aber letztlich nicht die überkommene Fokussierung der Charismen auf die kirchlichen Amtsträger. Dies ist umso bedauerlicher, als Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum in der neutestamentlichen Charismenlehre eine wichtige pneumatologische Vertiefung erfahren hätte. Damit wäre sie eventuell nachhaltiger gegen die Gefahr gewappnet gewesen, auf den Bereich der persönlichen Gottesbeziehung oder des privaten Lebensumfeldes beschränkt zu werden. Ihre reformerische Kraft konnte sie bisher jedenfalls nicht zur vollen Entfaltung bringen.[145]

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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