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2.2.1 Friedrich D. E. Schleiermacher: Evangelische Gemeinde als Prozess gegenseitiger Begabung

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Der junge Schleiermacher wurde in seinen Gedanken zur Erneuerung der Kirche entscheidend vom Beispiel der Herrnhuter Brüdergemeine und ihren praktischen Ansätzen zur Wiedergewinnung der charismatischen Vielfalt geprägt. Seine berühmte Rede «Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum» kann als eigentümliche Reformulierung der paulinischen Charismenlehre gelesen werden – auch wenn Schleiermacher wie sonst in seinen «Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» biblische Begrifflichkeiten meidet und sich weder der Begriff «Charisma» noch ein entsprechendes Äquivalent («Gabe», «Geistesgabe» oder «Gnadengabe») finden lässt. Schleiermacher versteht die «wahre Kirche» als eine Gemeinschaft religiös affizierter Menschen, die auf «gegenseitige[r] Mitteilung» beruht und in der der Gegensatz zwischen Priestern und Laien überwunden ist.[158] Jeder ist Priester und bringt das «Feld» des Religiösen zur Darstellung, «welches er sich besonders zugeeignet hat, und wo er sich als Virtuose darstellen kann».[159] Jeder ist aber auch Laie, «indem er der Kunst und Weisung eines anderen dahin folgt, wo er selbst Fremder in der Religion ist»[160]. Die wahre Kirche ist eine «vollkommene Republik» ohne «tyrannische Aristokratie»[161], eine «Akademie von Priestern», in der jeder Einzelne «die reifsten Früchte seines Sinnes und Schauens, seines Ergreifens und Fühlens mit fröhlichem Herzen herbeibringt», je nachdem wie die «Religion […] aus ihrem unendlichen Reichtum […] einem jeden ein eigenes Los» erteilt hat.[162]

Das Bild, das Schleiermacher, «von dem reichen, schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes» zeichnet, nimmt sprachliche Anleihen und inhaltliche Impulse sowohl aus den paulinischen Anweisungen zur gottesdienstlichen Feier in 1Kor 14,26–33a, als auch aus der Charismenliste von 1Kor 12,8–10 auf.

«Wenn ihre Bürger zusammenkommen, [ist] jeder voll einer Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde, alles aufzufassen und sich anzueignen, was die anderen darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den übrigen, ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung, die ihn berechtigt […]: es ist freie Regung des Geistes […]. Er tritt hervor, um seine eigne Anschauung hinzustellen, als Objekt für die übrigen […]; er spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeinde seiner begeisterten Rede. Es sei nun, daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weissagender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe; es sei, daß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige oder daß seine feurige Phantasie in erhabenen Visionen ihn in andere Teile der Welt und eine andre Ordnung der Dinge entzücke.»[163]

Schleiermachers Relecture von 1Kor 12–14 stellt trotz einzelner fragwürdiger Implikationen[164] einen bemerkenswerten Versuch dar, die paulinische Charismenlehre aus ihrem mirakulösem Missverständnis zu befreien und ihr eine gegenwärtige Relevanz zuzuschreiben. Er verbindet zentrale Aspekte zu einem Bild von Gemeinde, das den Gegensatz von Priestern und Laien überwindet und «evangelische Gemeinde als Prozeß einer gegenseitiger Begabung»[165] versteht. Im Gegensatz zu seinen späteren Schriften hält er in den Reden von 1799 diese Art religiöser Kommunikation allerdings nur im Rahmen kleiner religiöser Hausgemeinschaften für realisierbar, während für die Amtskirche der Gegensatz von Priester und Laien notwendig ist[166] und die Mehrheit der Gemeindeglieder aufgrund ihrer fehlenden religiösen Ergriffenheit «völlig passiv» bleiben muss.[167]

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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