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ZWISCHEN „GLOBALISIERUNG“ UND AUSBEUTUNG: DIE NEUE ORDNUNG DER MITTELMEERWELT
ОглавлениеSchon in der Antike wurde die beinahe gleichzeitige Zerstörung von Karthago und Korinth im Jahr 146 v. Chr. als sinnbildlich für den Beginn der endgültigen Herrschaft Roms über den Mittelmeerraum angesehen. Eine kurze abschließende Übersicht über die von Rom kurz nach der Mitte des 2. Jh.s v. Chr. dominierten Gebiete mag genügen, um diese Einschätzung als richtig zu erweisen. In Nordafrika hatte man unmittelbar nach dem Sieg über Karthago die neue Provinz Africa mit der Hauptstadt Utica eingerichtet. Die landwirtschaftlich reichen und für ihre Getreideproduktion berühmten Gebiete im Norden des heutigen Tunesien standen somit unter direkter römischer Verwaltung, und die von Roms traditionellem Erzfeind Karthago ausgehende Bedrohung war damit endgültig gebannt. In Spanien hingegen herrschte seit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges ein annähernd permanenter Kriegszustand, durch den die Grenzen der beiden römischen Provinzen Hispania Citerior und Ulterior stetig erweitert wurden. Die siegreichen Befehlshaber brachten große Mengen an Beute nach Rom und Italien, einheimische Siedlungen wurden entweder vernichtet oder durch Verträge in Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen. Zugleich gründeten die Sieger neue Städte nach römischem Muster, und italische Händler und publicani nahmen die Ausbeutung der spanischen Ressourcen, insbesondere der Silberminen, in großem Maßstab in Angriff. Noch in der ersten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. gelangten große Mengen römischer und italischer Importwaren an die französische Mittelmeerküste. Funde von in Mittelitalien produzierten Weinamphoren zeigen, dass die Handelskontakte zwischen Galliern und Römern sich keineswegs auf die mit Rom verbündete griechische Stadt Massalia beschränkten, sondern im Gegenteil über die große Nord-Süd-Achse der Rhône bis in die zentralen Gebiete des heutigen Frankreich und darüber hinaus bis in die Bretagne reichten. Diese wirtschaftliche Expansion ging, anders als in Spanien, der militärischen voraus, denn erst ab der Mitte des 2. Jh.s v. Chr. tauchten römische Heere häufiger im Umfeld von Massalia auf, um der verbündeten Stadt gegen die benachbarten ligurischen Stämme beizustehen. Zum Zeitpunkt der Zerstörung von Karthago und Korinth standen in Südgallien also nicht nur Weinimporte, sondern auch Bestrafungs- und Vernichtungsfeldzüge an der Tagesordnung. Die Einrichtung der Provinz Gallia Narbonensis lag in einer noch kaum absehbaren Zukunft.
Nachfolgende Doppelseite: Rom und der Mittelmeerraum im 2. und 1. Jh. v. Chr.
Auch östlich der Apenninenhalbinsel sind um 146 v. Chr. ähnliche Muster und Konstellationen zu beobachten. Die östliche Adriaküste war nach den Illyrischen Kriegen zu römischem Einflussgebiet geworden. In regelmäßigen Abständen wurden Feldzüge unternommen, um den römischen Anspruch auf Vorherrschaft zu untermauern. Die Aktivitäten römischer und italischer Händler bewirkten auch hier eine Transformation bestehender Gesellschaften und Produktionslandschaften. Die verstärkte römische Präsenz rund um die Städte Apollonia und Dyrrhachium sowie auf den Ionischen Inseln hatte schließlich zu massiven Veränderungen in der Machtkonstellation der griechischen Stadt- und Bundesstaaten geführt. Nachdem das im Anschluss an die Schlacht von Pydna eingerichtete System mit den vier makedonischen Teilstaaten gescheitert war, wurden Makedonien, Epirus und die illyrischen Gebiete im Jahr 146 v. Chr. zur römischen Provinz. Die Präsenz römischer Truppen unter dem Kommando des Quintus Caecilius Metellus, des Siegers über Andriskos, erleichterte die praktische Durchführung dieser Maßnahme. Ebenso verfuhr man mit den Gebieten des Achäischen Bundes, dessen Macht von Metellus und Lucius Mummius gebrochen worden war. Das seit dem 3. Jh. v. Chr. auf Sizilien, Sardinien, Korsika und in Spanien erprobte Modell der Provinzverwaltung wurde damit nun erstmals auch im Osten des Mittelmeerraums angewendet.103 Etwa zeitgleich mit der Einrichtung der makedonischen und griechischen Provinzen, also ebenfalls um 146 v. Chr., begann der Bau der Via Egnatia, um die illyrischen und epirotischen Gebiete im Westen auch auf dem Landweg mit Makedonien zu verbinden. Trotz dieser neuen Straße stellte aber nach wie vor der Seeweg die wichtigste Route in den griechischsprachigen Osten dar. Mit der Einrichtung des Freihafens von Delos reagierte Rom auf die Notwendigkeit einer von den traditionellen griechischen Handelsstädten unabhängigen Relaisstation zwischen Makedonien und der Adria. Diese Maßnahme schwächte zugleich die Rolle von Rhodos und Korinth als freie Handelszentren. Ungehemmt und mit großer Intensität strömten römische und italische Händler und Produkte seit den Sechzigerjahren des 2. Jh.s v. Chr. in die neu erschlossene Gewinnzone der Ägäis.
Doch nicht nur dort, sondern im gesamten Mittelmeerraum hatten sich mit dem Jahr 146 v. Chr. die Handelsnetzwerke endgültig neu ausgerichtet. Durch die beinahe gleichzeitige Vernichtung von Karthago und Korinth rückten nun die West- und Ostküste der Apenninenhalbinsel und das römisch kontrollierte Sizilien auch wirtschaftlich endgültig in das Zentrum der mediterranen Welt. Diese Neuorientierung kam keineswegs als abrupter Einschnitt, sondern war das Ergebnis der vorangegangenen 50 Jahre: Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen war die Aktivität der aus Italien stammenden negotiatores seit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges schwunghaft angestiegen. Vor allem die Handelsrouten zwischen Mittelitalien, Spanien und Südfrankreich hatten in der ersten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. enorm an Bedeutung gewonnen. Insbesondere die Nachfrage in Gallien stimulierte ihrerseits die Produktion von Wein und Keramik in Latium und Kampanien. Die Routen zwischen Italien und der nördlichen Ägäis trafen sich in Delos, der Transport von Sklaven und Rohstoffen aus dem thrakischen und bosporanischen Raum erfolgte wiederum gegen den Import von Wein, öl und Keramik aus Mittelitalien. Doch auch für den Handel mit Kleinasien und der Levante war Delos nach 146 v. Chr. von zentraler Bedeutung, und dies vor allem nach dem Jahr 133 v. Chr., als der letzte König von Pergamon, Attalos III., ohne Erben starb und sein Reich dem römischen Senat vermachte. Schon seit dem Ersten Makedonischen Krieg war Pergamon stets ein loyaler Verbündeter Roms gewesen. Durch das Testament des Attalos und die 129 v. Chr. erfolgte Überführung der pergamenischen Besitzungen in die neu geschaffene Provinz Asia hatte sich nun die römische Territorialherrschaft auch auf die Ostküste der Ägäis und das westliche Kleinasien ausgeweitet. Erst nach der Zerstörung von Korinth und der Einrichtung der Provinz Asia wurde Delos, wie Strabon berichtet, endgültig zur berühmtesten „Boomtown“ des späten Hellenismus, dem von Festus besungenen „maximum emporium totius orbis terrarum“.104
Aus diesem Rundblick wird klar, dass sich hinter der oft bemühten Phrase „Roms Aufstieg zur Herrschaft über den Mittelmeerraum“ ein dichtes Geflecht von machtpolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozessen verbirgt. Dieses Geflecht weist nicht nur starke zeitliche, sondern auch geographische Eigenheiten auf. Es ist deshalb weder möglich noch sinnvoll, hinter diesem gesamten Prozess ein wie auch immer geartetes langfristiges Kalkül oder gar eine große geopolitische Strategie des römischen Senats zu vermuten. Vielmehr zeigt sich sowohl im westlichen als auch im östlichen Mittelmeerraum, dass das oft pauschal vorausgesetzte Phänomen der römischen „Expansion“ im 2. Jh. v. Chr. auf einer Vielzahl von nicht unbedingt linear ablaufenden Voraussetzungen beruhte. Grundlegend war die bis heute zu beobachtende räumliche und rechtliche Unbestimmtheit von Grenzgebieten. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich ein extrem dynamisches Geschehen: Das Interesse der römischen und italischen Eliten an militärischem Ruhm und wirtschaftlichem Profit prallte auf traditionelle einheimische Gesellschafts- und Herrschaftsformen.
Im Stil einer betont politisch korrekten Kulturgeschichte könnte man diese Situation nun ganz neutral als „Kontaktsituation“ bezeichnen, durch die alle beteiligten Parteien ihrerseits einem Veränderungsprozess unterworfen worden seien. Doch sowohl die historischen Quellen als auch das archäologische Material sprechen eine andere, viel drastischere Sprache: Die römischen Feldzüge in Spanien und Südfrankreich führten zur systematischen Vernichtung einer Vielzahl von alten Kulturlandschaften. Siedlungen wurden erobert und zerstört, die Bevölkerung massakriert, versklavt oder deportiert. In weniger stark betroffenen Regionen war der Verlust an Menschenleben zwar vermutlich geringer, doch auch hier können die Worte „Kontakt“ oder „Austausch“ letzten Endes nicht beschreiben, wie radikal sich in dieser Zeit die althergebrachte Welt der keltiberischen, ligurischen und südgallischen oppidum-Bewohner, aber auch der illyrischen und makedonischen Bevölkerung oder der polis-Bürger des griechischsprachigen Ostens verändert haben muss: Römische Tributforderungen erzwangen neue Formen der Siedlungsorganisation, römische und italische Importe überformten bestehende Konsumgewohnheiten, Gebräuche und Werte, und über mehrere Generationen hinweg mussten lokale Eliten in einem existenziellen Drahtseilakt das Gleichgewicht zwischen ständig drohender Vernichtung und eigener sozialer Legitimierung zu halten versuchen. Es wäre folglich verfehlt, für das 2. Jh. v. Chr. eine immer stärker voranschreitende „Romanisierung“ der mediterranen Welt zu behaupten, ebenso wie es ganz offensichtlich keine auf lange Sicht angelegte römische Welteroberungsstrategie gegeben hat. Prägend für alle in den römischen Machtbereich gezogenen Regionen waren in erster Linie drei Konstanten: Die fortgesetzte Erfahrung massiver Gewalt, die über einen längeren Zeitraum andauernde politische und gesellschaftliche Instabilität und die in verschiedenen Formen auftretende Veränderung des Alltagslebens.
Die seit dem Ersten Punischen Krieg in stetiger Folge neu gewonnenen Gebiete lieferten den Römern und Italikern nicht nur die in der Forschung vielbeachtete Kriegsbeute, sondern sie stellten auch eine Fülle höchst wertvoller Ressourcen wie Gold, Silber, Eisen, Holz, Getreide und Sklaven zur dauerhaften und nachhaltigen Ausbeutung bereit.105 Zugleich stieg der Handel mit römischen und italischen Produkten schwunghaft an, insbesondere seit der Einführung einer neuen Silbermünze, des Denars, im Jahr 212 oder 211 v. Chr.106 Mit Händlern und vor allem mit Soldaten verbreiteten sich römische Denare in unterschiedlicher Intensität von Spanien bis in den griechischsprachigen Osten. Auf der Apenninenhalbinsel wurde das neue Silbergeld vor allem ab dem späten 2. Jh. v. Chr. in vielen Regionen zum Motor von Urbanisierung und Konsum. Diese verlockenden wirtschaftlichen Möglichkeiten nutzten nicht nur die bereits erwähnten negotiatores, sondern auch die häufig in Gruppen und Gesellschaften organisierten Pächter staatlicher Aufgaben, die publicani. Häufig dem Ritterstand entstammend, aber ebenso oft auch mit großen senatorischen Familien durch Heirat oder Freundschaftsverhältnisse verbunden, übernahmen die publicani zentrale Aufgaben für die Republik. Ihre Tätigkeiten reichten von der Eintreibung von Steuern und Zöllen über die Abwicklung der großen öffentlichen Bauprojekte bis hin zum Betrieb von Bergwerken, Rüstungsunternehmen oder Steinbrüchen.107 Seit dem Jahr 215 v. Chr. nahmen die Aktivitäten der publicani deutlich zu. Der durch den Zweiten Punischen Krieg in eine akute Krise gestürzte Staat übertrug ihnen immer weiter reichende logistische Kompetenzen, die mit der Ausweitung der römischen Macht im Laufe des 2. Jh.s v. Chr. eine ständig wachsende Profitspanne versprachen. Zugleich wurden aber bereits am Ende des 3. Jh.s v. Chr. auch die latenten Probleme dieses Systems sichtbar, als eine ganze Reihe von Betrugsfällen und Unterschlagungen zu öffentlichen Skandalen und Unruhen führte.108
Der in der Forschung seit dem späten 19. Jh. vieldiskutierte „römische Imperialismus“ ist also, im Gesamten gesehen, ein Phänomen, das sich nicht nur in staatsrechtlichen oder politikwissenschaftlichen Kategorien formulieren und auf diese beschränken lässt. Ebenso deutlich fassbar ist es auf der Ebene der materiellen Kultur, hier allerdings auf durchaus jeweils eigenständige Art und Weise in verschiedenen Regionen des Mittelmeerraums und in unterschiedlichen zeitlichen Verlaufskurven. Schon Polybios zeichnete in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. das Bild eines regelrecht „globalisierten“ Mittelmeerraums, der von einem hohen Grad an Internationalisierung geprägt war. Diese Entwicklung, die er zeitlich mit dem Zweiten Punischen Krieg zusammenfallen lässt, beschreibt Polybios folgendermaßen: „Von diesem Zeitpunkt an aber wird die Geschichte ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper, es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Afrika mit denen in Asien und Griechenland, und alles richtet sich auf ein einziges Ziel aus.“109
Diese Feststellung spiegelt sich auch in den materiellen Hinterlassenschaften, von der monumentalen Architektur bis zu den unscheinbarsten Alltagsobjekten.110 Doch hinter dieser mediterranen „Globalisierung“ stand keineswegs ein autonomer Prozess friedlicher Multikulturalität, im Gegenteil: Die von Rom geführten Kriege und die handfesten Interessen der römischen Senatselite sowie der römischen und italischen Wirtschaftstreibenden, der Händler und publicani, führten im Mittelmeerraum nicht zu gleichmäßiger Prosperität und kultureller Blüte, sondern zu einer Mischung aus territorialer Integration und bewusster Peripheriebildung. Das bedeutete ganz konkret die kontinuierliche Bewegung gewaltiger Mengen von Menschen. Die großen Deportationen ganzer Völkerschaften in Norditalien, die Versklavung von 150.000 Epiroten nach dem Dritten Makedonischen oder von 50.000 Karthagern nach dem Dritten Punischen Krieg sind dabei nur die besonders spektakulären Fälle, die seit der Antike das Interesse der Geschichtsschreibung auf sich gezogen haben.111 Ein wesentlich unauffälligerer, aber über lange Zeit ohne Unterbrechung betriebener Sklavenhandel spielte sich hingegen in Südgallien, Illyrien, an der Nordgrenze von Makedonien und in der gesamten Levante ab. Er war eingebunden in einen alltäglichen Rhythmus von Angebot und Nachfrage, von Tauschgütern wie italischem Wein oder von der Kaufkraft der römischen Denare. Der jährliche Bedarf für Sklaven in Rom und Mittelitalien wurde für das spätere 2. Jh. v. Chr. selbst in konservativen Berechnungsmodellen auf 50.000 bis 70.000 Menschen geschätzt.112 Diese Zahl konnte unmöglich allein durch die in Maßstab und Erfolg zwangsläufig fluktuierenden Kriege gedeckt werden. Das Funktionieren der römischen Gesellschaft sowie der gesamten römischen und italischen Elitenkultur war von der Existenz einer barbarischen Peripherie in maßgeblicher Weise abhängig.
Wie Emmanuele Curti betonte, hatte Rom also spätestens ab dem ausgehenden 3. Jh. v. Chr. durch seine Eroberungen in Italien und darüber hinaus eine dominante Rolle in der Kontrolle und Schaffung von Absatzmärkten errungen.113 Diese Feststellung trifft mit Sicherheit zu, muss jedoch weiter differenziert und auf die Ebene der individuellen Akteure heruntergebrochen werden. Die zentralen Fragen dabei lauten: Wo lagen die Vorteile und die Risiken für die handelnden Personen, und in welchem Verhältnis standen politische und wirtschaftliche Motive zueinander? Im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh.s hatte in der Forschung die Vorstellung eines „defensiven Imperialismus“ weite Verbreitung gefunden. In diesem Modell stand hinter der Ausweitung des römischen Herrschaftsbereichs ein Gefühl der ständigen Bedrohung durch äußere Feinde, der es durch eigene Expansion möglichst zuvorzukommen galt. Wirtschaftliche Interessen spielten dabei keine wesentliche Rolle. Doch spätestens seit den bahnbrechenden Untersuchungen von William V. Harris nahm man seit den späten 1970er-Jahren wieder verstärkt die aktive Rolle der römischen Elite hinter dem Expansionsprozess in den Blick. Gerade eine außergewöhnlich hohe Gewaltbereitschaft, gepaart mit der Ruhm- und Gewinnsucht der senatorischen Oberschicht, habe gleichsam zwangsläufig zu immer neuen Eroberungsfeldzügen geführt. Verschiedene Studien betonten darüber hinaus die prägende Rolle der annähernd rechtsfreien Räume an der Peripherie des Imperiums: Gerade die Grenzzonen in Spanien, Südfrankreich, Norditalien und Illyrien seien durch die faktisch kaum begrenzte Hoheitsgewalt römischer Befehlshaber zu Experimentierfeldern für außenpolitische und militärische Verhaltensmuster geworden.114
Allerdings gehen sowohl die Idee eines „defensiven Imperialismus“, deren Blüte von den nationalistischen Strömungen des späten 19. Jh.s und dem politischen Klima der Zwischenkriegszeit geprägt war, als auch die eines hemmungslos „aggressiven Imperialismus“, den Harris nicht zufälligerweise gerade zur Zeit des Vietnamkrieges betonte, an der Vielschichtigkeit der historischen und archäologischen Überlieferung vorbei.115 Vor dem Hintergrund der bereits nachgezeichneten politischen und wirtschaftlichen Entwicklung bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr. wird nämlich hinter dem Prozess des „römischen Imperialismus“ eine ganze Reihe von verschiedenen Motiven und zeitlichen wie geographischen Abstufungen erkennbar. Sowohl defensive als auch offensive Tendenzen waren dabei jeweils starken regionalen Unterschieden unterworfen. Während etwa in Regionen wie Spanien oder Norditalien seit dem frühen 2. Jh. v. Chr. ein kontinuierliches Muster von Gewalt, Unterwerfung und territorialer Kontrolle erkennbar ist, wechselten sich im östlichen Mittelmeerraum und in Südgallien militärische Interventionen mit Phasen schwacher oder bloß indirekter Einflussnahme ab.
Angesichts dieses heterogenen Gesamtbildes betonten jüngst sowohl Arthur Eckstein als auch Nathan Rosenstein, dass man von einer übergreifenden oder gar globalen Strategie des Senats im 3. und 2. Jh. v. Chr. zu keiner Zeit sprechen kann. Ebenso fehlen Hinweise auf einen planvollen Imperialismus im Sinne der Staatstheorie des 19. und 20. Jh.s oder auf einen römischen Sonderweg, der, wie von Harris postuliert, von übermäßiger Gewaltbereitschaft oder Aggression geprägt gewesen wäre. Stattdessen war Rom zur Zeit seiner Konflikte mit Karthago und den östlichen Königreichen in die generell aggressiven internationalen Beziehungen eines auf anarchischen Grundlagen beruhenden Staatensystems eingebettet. In diesem Klima entstanden nicht nur die Punischen Kriege, sondern auch die mit unvermittelter Heftigkeit begonnenen Konflikte im Osten. Befördert wurden sie durch die Krise der ptolemäischen Dynastie zu Beginn des 2. Jh.s v. Chr. und durch das damit einhergehende Machtvakuum. Die Strategie in Norditalien gegen Kelten und Ligurer hingegen entstand im Kontext des Hannibalischen Krieges; die Situation in Spanien schließlich wurde zunächst improvisiert gelöst, und auch die sukzessive Einrichtung der Provinzen ist angesichts der schwachen militärischen Ausgangsposition zu Beginn eher nicht als bewusst expansionistisch zu bewerten. Allerdings veränderte sich das römische Vorgehen in allen genannten Gebieten bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr. dann doch auf recht dynamische Art und Weise. So folgte etwa die römische Präsenz in den spanischen Provinzen bis zur letztendlichen Vernichtung von Numantia einem gnadenlosen Prinzip der gewaltsamen Befriedung, das auch in territorialer Hinsicht auf Ausdehnung und Bereicherung ausgelegt war.
Die Ursachen für diese Heterogenität haben insbesondere John Rich und Nathan Rosenstein mit guten Gründen in erster Linie im Handeln der römischen Senatselite ausgemacht: So spielte der Erwerb von Reichtum und militärischem Ruhm mit Sicherheit während des gesamten 2. Jh.s v. Chr. eine zentrale Rolle als Antrieb für die römischen Befehlshaber an der Peripherie des Imperiums. Doch zugleich war die innere Struktur des Senats mit seinen verschiedenen rivalisierenden Familien ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die ungehemmte Entfaltung solcher Interessen. Letzten Endes gab der Senat als höchstes Gremium in Fragen von Krieg und Frieden durch seine kollektiven Entscheidungen den Rahmen vor, in dem sich auch die ambitioniertesten Feldherren im 2. Jh. v. Chr. zu bewegen hatten.116 Dramatische Gesten wie jene des Scipio Africanus, der im Unterschlagungsprozess gegen seinen Bruder vor den Augen der Senatoren die Rechnungsbücher des Feldzugs gegen Antiochos III. vernichtete und Dankbarkeit für die militärischen Leistungen seiner Familie einforderte, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kontrolle des Senats über seine militärischen Befehlshaber bis in das frühe 1. Jh. v. Chr. hinein weitestgehend intakt geblieben war.117
Letztlich sind, abseits vom Postulat eines entfesselten, in erster Linie von Gier getriebenen Imperialismus, aber auch die ideellen und moralischen Grundlagen ernst zu nehmen, nach denen sich die römische Nobilität des 2. Jh.s v. Chr. in den Fragen von Krieg und Frieden richtete. So diente etwa der Begriff der Bündnistreue, der fides, nicht nur als zynischer Vorwand für das Eingreifen in die Angelegenheiten fremder Völker, sondern verkörperte ein ernst zu nehmendes Prinzip im Wertekanon der römischen Elite. Auch der Grundsatz, dass Kriege durch belastbare Gründe zu rechtfertigen seien, blieb bis in die Spätphase der Republik hinein eine nicht zu vernachlässigende Konstante römischer Außenpolitik. Dazu kommt schließlich noch die sprachliche Ebene, in deren Wortwahl sich die Innensicht der römischen Senatselite erkennen lässt. Bis weit in das 1. Jh. v. Chr. hinein definierte die Nobilität das Römische Reich in erster Linie als die Kontrolle über andere durch die Ausübung von Macht: Die Macht der römischen Bürgerschaft, vertreten durch ihre Armeen und ihre Befehlshaber; eine Macht, die ständig zwischen physischer Gewalt und moralischer Überlegenheit oszillierte. Eine deutlich geringere Bedeutung kam in diesem Konzept offenbar der Eroberung oder dauerhaften Besiedelung von fremdem Territorium zu. Auch im Sprachgebrauch zeigt sich also letztlich das bereits immer wieder beschriebene, bemerkenswert breite Spektrum zwischen Eroberung und indirekter Kontrolle, das die Außenbeziehungen Roms während des gesamten 2. Jh.s v. Chr. maßgeblich prägte.118 Es ist folglich keine Übertreibung, wenn Cicero über Marcus Aemilius Scaurus, einen der bedeutendsten Senatoren an der Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. und Konsul des Jahres 115 v. Chr., knapp eine Generation nach dessen Tod feststellen konnte: „Durch sein Kopfnicken wurde beinahe der ganze Erdkreis gelenkt.“119