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EINFÜHRUNG DIE ANATOMIE DER RÖMISCHEN BÜRGERKRIEGE
ОглавлениеI hate that drum’s discordant sound,/Parading round, and round, and round:/To me it talks of ravaged plains,/And burning towns and ruin’d swains,/And mangled limbs, and dying groans,/And widows’ tears, and orphans’ moans,/And all that Misery’s hand bestows,/To fill a catalogue of woes. SCOTT OF AMWELLL (1782)
Im Jahr 1931 beendete der deutsche Klassische Archäologe Friedrich Wilhelm Goethert die Arbeit an seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Zur Kunst der römischen Republik“. Goethert, geboren 1907, studierte ab 1926 drei Jahre lang in Berlin, bevor es ihn nach Leipzig und schließlich nach Köln zog. Es waren turbulente Zeiten: Goetherts Studien zur spätrepublikanischen Kunst entstanden auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Im Jahr 1929 gab es in Berlin 664 Konkurse und 450.000 Arbeitslose. Bis Dezember 1932 stieg die Arbeitslosenzahl sogar auf 630.000, knapp 15 % der Berliner Gesamtbevölkerung. Es kam zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Gewalt zwischen links- und rechtsextremen Gruppen war an der Tagesordnung. Allein der „Blutmai“ des Jahres 1929 forderte in Berlin über 30 Tote und Hunderte Verletzte. Im selben Jahr zog die NSDAP erstmals in das Berliner Stadtparlament ein. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 erreichte sie dann bereits 25,9 % der Stimmen. Zu dieser Realität stand Goetherts Doktorarbeit im denkbar größten Gegensatz. Obwohl er sich mit einer der massivsten Krisenzeiten der europäischen Geschichte beschäftigte, ging es ihm ausschließlich um künstlerischen Stil und um die Details römischer Tracht. Seine Betrachtungen zur Kunst der römischen Republik vermieden nicht nur alles Politische, sondern auch jeden konkreten Bezug zu gesellschaftlichen Problemfeldern.1
Ein solcher Ansatz wäre heute undenkbar. Sowohl Politik als auch Gesellschaft sind seit den späten Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts verstärkt in das Blickfeld der deutschsprachigen Klassischen Archäologie gerückt. Vor allem Paul Zanker und Tonio Hölscher widmeten sich der politischen Deutung von Bau- und Bildwerken und deren sozialer Funktion. Doch ihr besonderes Interesse galt dem Übergang zwischen der Republik und dem Zeitalter des Augustus mit seiner ebenso überbordend-überwältigenden wie konsensual-kalmierenden Bildsprache. Die Klassische Archäologie verliebte sich in die vielbeschworene Macht der Bilder.2 Zugleich entfernte sie sich von den fundamentalen Problemen der Geschichte: Hunger und Armut, Konflikt und Gewalt. Die Beschäftigung mit solchen Interessen konnte im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges problemlos in die verrufene Ecke marxistischer Ideologie gerückt werden, und auch der Niedergang des „real existierenden Sozialismus“ trug nicht dazu bei, ihre Popularität zu steigern.3 Die Interessen, stärker aber noch die Sprachregelung der Klassischen Archäologie waren stattdessen in erster Linie an der Konsens- und Konsumkultur der bürgerlichen Mitte orientiert. Nicht ohne Grund fiel die archäologische Erforschung der römischen Bürgerkriegszeit im deutschsprachigen Raum daher in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts in einen bis heute anhaltenden Dornröschenschlaf.
Außerhalb Deutschlands erfreuen sich archäologische Forschungen zur späten römischen Republik hingegen nach wie vor großer Beliebtheit. Gerade in Italien, Großbritannien und den Niederlanden stehen dabei wirtschaftliche und religiöse Themen im Vordergrund. Hier werden sie allerdings überschattet von dem alles dominierenden Begriff der „Romanisierung“, also der Herausbildung einer „römischen“ Kultur auf der Apenninenhalbinsel während des 2. und 1. Jh.s v. Chr. Auf diesem Feld hat sich seit den späten Sechzigerjahren des 20. Jh.s eine rege Forschungsdebatte entsponnen, die zur Zeit größtenteils außerhalb des deutschen Sprachraumes stattfindet und noch zu keinem verbindlichen Deutungsmodell geführt hat. So hatte man in den Siebziger- bis Neunzigerjahren zunächst vorrangig mit dem Konzept der „Akkulturation“ argumentiert, innerhalb dessen wiederum die beiden Prozesse „Romanisierung“ und „Hellenisierung“ voneinander unterschieden wurden. In den letzten 20 Jahren ist im englischsprachigen Raum ebenso wie in Italien und in den Niederlanden allerdings eine wahre Flut an archäologischen Publikationen entstanden, die diese Begriffe kritisch beleuchten: Stattdessen wurden und werden nun verstärkt kulturgeschichtliche Modelle für multiple und hybride Identitäten, Konzepte für lokale Innovation und Resistenz, aber auch Ansätze der Globalisierungstheorie, der Sprachwissenschaften, der Religionswissenschaften und der Soziologie auf das spätrepublikanische Italien angewendet. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die großen Erzählungen dekonstruieren und an deren Stelle eine dynamischere, aber auch wesentlich kleinteiligere Lesart vorschlagen. Sie arbeiten innerhalb Italiens vom 3. bis zum 1. Jh. v. Chr. Dutzende Mikroregionen heraus, die miteinander in mehr oder weniger starkem Kontakt standen, im Endeffekt aber von einer Vielzahl kultureller Ausdrucksformen gekennzeichnet waren.4
Aus diesen archäologischen Forschungen geht klar hervor, dass Rom und große Teile Italiens in den letzten zwei Jahrhunderten vor der Zeitenwende außergewöhnlich intensiven Veränderungsprozessen unterworfen waren, und zwar in wirtschaftlicher ebenso wie in sozialer und kultureller Hinsicht. Noch vor dem Zweiten Punischen Krieg war Rom zur stärksten Militärmacht in Italien geworden. Die Eroberung der Iberischen Halbinsel und der Sieg über mehrere hellenistische Königreiche weiteten diese Vormachtstellung ab dem Ende des 3. Jh.s v. Chr. innerhalb weniger Jahrzehnte auf den gesamten Mittelmeerraum aus. Eine Flut an Kriegsbeute und Sklaven erreichte Italien. Landwirtschaft, Rohstoffgewinnung und Handel nahmen einen dramatischen Aufschwung. Das städtische Leben pulsierte. Dieser Befund eines ständigen Aufschwungs im 2. und 1. Jh. v. Chr. stützt sich vor allem auf eine enorme Fülle an archäologischem Material. Trotz einiger erkennbarer Einschnitte hat es in dieser Zeit auf der Apenninenhalbinsel offenbar eine ungebrochene Entwicklung zu wachsendem und verbreitetem Wohlstand gegeben. Andererseits geht aber aus den Schriftquellen auch eindeutig hervor, dass von 133 v. Chr. bis zu Sullas Diktatur und danach wieder ab den Fünfzigerjahren bis zum Sieg des Octavian über Marc Anton und Kleopatra in Rom und Italien eine mehr oder minder bruchlose Zeit innerer Konflikte herrschte. In diesem Zeitraum muss ein großer Prozentsatz der Bevölkerung direkt und über mehrere Generationen hinweg massiv von innerer Gewalt betroffen gewesen sein.
Nun gibt es in der historischen und archäologischen Forschung Tendenzen, jeweils einen Teil des verfügbaren Quellenmaterials gegenüber dem anderen zu bevorzugen, also etwa entweder ganz besonders „krisenaffine“ Erzählungen vor dem Hintergrund der literarischen Quellen zu entwickeln oder aber sich mit Blick auf Kunstwerke und Konsumgüter auf die vorrangig positiven Aspekte einer „spätrepublikanischen Kulturrevolution“ zu konzentrieren.5 Keines der beiden Erklärungsmodelle berücksichtigt allerdings die Möglichkeit, dass in den verschiedenen Quellengattungen unterschiedliche Informationen über dieselben gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Prozesse eingelagert sein könnten.
Mit dem vorliegenden Buch möchte ich deshalb einen neuen Blick auf das spätrepublikanische Italien versuchen. Literarische Quellen und archäologisches Material stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Ihre vordergründigen Widersprüche sehe ich nicht als Problem, sondern vielmehr als Herausforderung zu einer möglichst ganzheitlichen Deutung. Zwei Begriffe dienen mir dabei als Orientierungspunkte: Erstens das Konzept der „Krisenzeit“, die ich nicht anhand von festen Jahreszahlen, sondern als Abfolge menschlicher Generationen verstehen möchte; und zweitens die Idee des „Bürgerkrieges“, den ich nicht bloß als politisches, sondern vor allem als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen begreife.
Mit wenigen Zeitabschnitten innerhalb der klassischen Antike ist der Begriff der Krise so einschlägig verknüpft wie mit der späten römischen Republik. Schon Cornelius Nepos, geboren um 110 v. Chr., sprach für die Zeit Ciceros von „Umwälzungen des Staatswesens“ (mutationes rei publicae).6 Der 20 Jahre jüngere Sallust war der Meinung, dass die Republik nach den Kriegen des späten 2. Jh.s v. Chr. in eine Phase des Niedergangs eingetreten sei. Dafür machte er in erster Linie das Fehlen äußerer Feinde und das damit verbundene Nachlassen der römischen virtus, einer kriegerischen wie politischen Kardinaltugend, verantwortlich. Luxus habe zu Neid, Neid zu Habsucht geführt, und an diesem Verfall der moralischen Werte sei die Republik letzten Endes zerbrochen.7 Krieg und Eroberung und die damit einhergehende Überdehnung des Römischen Reiches sah im 18. Jh. auch der französische Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu als Grund für die Krise und den Niedergang der Republik an.8
Knapp 100 Jahre später bewertete Theodor Mommsen die innere Krise Roms nach der Zeit der Gracchen als Vorstufe für eine politische „Revolution“ der Bürgerkriegsjahre; später folgte ihm Ronald Syme in dieser Ansicht. Christian Meier war hingegen der Meinung, dass die innere Struktur und Eigenlogik der römischen Politik weniger zu einer Revolution als letzten Endes zu einer „Krise ohne Alternative“ geführt habe. Der Ernst der Lage sei von führenden römischen Senatoren zwar erkannt worden, doch das traditionelle politische System habe wirkungsvolle Gegenmaßnahmen dauerhaft verhindert. Auch Jochen Bleicken identifizierte eine längerfristige Entwicklung als Ursache für die Bürgerkriege des 1. Jh.s v. Chr., nämlich die politisch-strukturelle Krise der aristokratischen Gesellschaft. In Karl Christs umfassender kulturgeschichtlicher Darstellung zu „Krise und Untergang der römischen Republik“ wurde der Krisenbegriff in erster Linie dazu verwendet, um den Revolutionsbegriff zu vermeiden. Ähnlich wie bei Meier und Bleicken diente er Christ stattdessen dazu, eine Reihe längerfristiger struktureller Probleme zu beschreiben, die er bis an den Beginn des 2. Jh.s v. Chr. zurückverfolgte. Erich Gruen hingegen bewertete die römische Republik bis in die Fünfzigerjahre des 1. Jh.s v. Chr. als ein überaus stabiles Staatswesen, das nur aufgrund einer Verkettung individueller Entscheidungen in einen Strudel innerer Gewalt geraten und letzten Endes daran zerbrochen sei. Eine gänzliche Abkehr vom Konzept der Krise einer als Einheit begriffenen späten Republik hat zuletzt Harriet Flower versucht. Stattdessen unterschied sie in der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Punischen Krieges und dem Jahr 49 v. Chr. nicht weniger als vier verschiedene „Römische Republiken“, die letzten Endes durch eine Kette von generationenübergreifenden Gewalterfahrungen in das Chaos der finalen Bürgerkriege gestürzt worden seien.9
Abgesehen von solchen Fragen der historischen Bewertung und Periodisierung haben sich in jüngster Zeit unter anderem Karl-Joachim Hölkeskamp, Egon Flaig und Uwe Walter erneut mit Struktur, Tradition und Dynamik der spätrepublikanischen Zeit beschäftigt.10 Dabei ging es nicht zuletzt um die Wahrnehmung und gesellschaftliche Verarbeitung von politischer und gesellschaftlicher Instabilität, etwa in Form von Ritualen, Festen oder Denkmälern. Diese Betrachtungsweise hat enormes Potenzial: Jenseits der reinen Ereignisgeschichte bietet sie eine Möglichkeit, die Mentalität der spätrepublikanischen Gesellschaft zu rekonstruieren. Doch das Hauptaugenmerk liegt dabei nach wie vor auf Rom und auf einem bloß vergleichsweise kleinen Teil der politisch aktiven Oberschicht, nämlich den Senatoren und ihren gruppenspezifischen Darstellungsformen und Verhaltensweisen. Der Rest von Italien wird dabei ebenso vernachlässigt wie scheinbar profanere Bereiche jenseits von Politik und Erinnerungskultur, allen voran jene Aspekte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, zu deren Kenntnis die Archäologie der letzten 50 Jahre einen wesentlichen Beitrag leisten konnte.11 Es stellt sich also die Frage, wie man Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Mentalität der späten Republik ganzheitlich betrachten kann, ohne die alten Konzepte einer „Revolution“ oder „Krise ohne Alternative“ wieder aufleben zu lassen. Ein Blick auf moderne Krisentheorien hilft hier weiter.
Seit einigen Jahren werden, nicht zuletzt dem modernen Zeitgeschehen verpflichtet, Krisen in den Geschichtswissenschaften generell wieder verstärkt diskutiert. Man versucht dabei, sich von älteren, zyklischen Krisenmodellen abzugrenzen und die gesellschaftlichen Ursachen von Krisen gegenüber ihrer vermeintlichen Unausweichlichkeit stärker zu betonen. Moderne Krisentheorien legen ihren Schwerpunkt nicht nur auf ökonomische und politische, sondern auch auf gesellschaftliche und im weiteren Sinne kulturelle Faktoren. Der Trend geht außerdem ganz klar weg von der Betonung der großen Krise schlechthin und hin zu Abfolgen von einzelnen krisenhaften Zeiträumen oder Ereignissen. Die Gefahr dabei besteht allerdings in der Atomisierung des Faktenwissens, die eine ganzheitliche Betrachtung und damit wiederum auch den klaren Befund einer historischen Krise verhindert – denn die Krise muss ja auch abgrenzbar bleiben von einer wie auch immer gearteten Normalität.12
Noch in der ersten Hälfte des 20. Jh.s war Krisentheorie vor allem eine Domäne der marxistischen ökonomie und Geschichtsschreibung. Der Schlüssel der marxistischen Krisentheorie war und ist immer die ökonomische Krise, die im Grunde eine Krise der kapitalistischen Produktionsweise ist und sich eigenlogisch aus dieser ergeben muss. Kulturelle, gesellschaftliche und politische Auswirkungen folgen der ökonomischen Krise, werden selbst jedoch nicht als deren Auslöser gesehen.13 Es wurde schon lange erkannt, dass diese Theorie der Krise nach Marx nicht ausreicht, um die Vorgänge in den letzten 100 Jahren der römischen Republik lückenlos zu erklären. Trotzdem kann die Idee einer fundamentalen Spannung zwischen sozialen Gruppen nach wie vor als ein brauchbares analytisches Konzept dienen. In allen frühen komplexen Gesellschaftsformen befanden sich die Angehörigen von Eliten und Unterschichten nämlich stets in einem direkten Konflikt, da zwar alle Gruppen von denselben Überschüssen lebten, die Eliten sich aber nicht körperlich an der Erwirtschaftung dieser Überschüsse beteiligten.14
Dieser grundsätzliche Konflikt prägte auch die Gesellschaft der römischen Republik: Er existierte zwischen Sklavenhaltern und Sklaven, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zwischen Patronen und Klienten, zwischen Vätern und ihren Familienmitgliedern.15 Ein Ansatz, der nach der ungleichen Verteilung von Wohlstand und Macht in einer solchen Gesellschaft fragt, ist also nach wie vor legitim. Allerdings muss er um zusätzliche Faktoren erweitert werden. Zu jeder Zeit gab es nämlich nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle und politische Regeln, Normen und Vorstellungen, die den Interessen einzelner Gruppen nutzten. Dieses Regelwerk wurde über die Generationen hinweg tradiert, war dabei jedoch niemals statisch. Durch soziale Spannungen und offene Gewalt konnte es sich verändern, wobei die Motivation für solche Konflikte nicht immer offen zutage trat. Bereits Marx war sich vollauf der Tatsache bewusst, dass der „Klassenkampf“ keineswegs zu jeder Zeit im Bewusstsein aller handelnden Akteure – mögen sie nun zur herrschenden Oberschicht oder zu den Beherrschten gehört haben – gegenwärtig war: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“16
Für eine neue Betrachtung der späten römischen Republik als Krisenzeit ist außerdem von Bedeutung, dass die klassische marxistische Krisentheorie seit den frühen Siebzigerjahren des 20. Jh.s in wesentlichen Bereichen modifiziert wurde. Besonders einflussreich war ein von Jürgen Habermas vertretenes Modell, das er in seinem Buch „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ eingehend begründet hat. Habermas unterschied darin grundlegend zwischen vier Formen der Krise: Erstens die ökonomische Krise, zweitens die Rationalitätenkrise, drittens die Legitimationskrise und viertens die Motivationskrise. Die ökonomische Krise und die Rationalitätenkrise sind Krisen auf Systemebene: Erstere betrifft das Wirtschaftssystem und bezeichnet einen Zustand der materiellen Stagnation oder sogar Rezession; zweitere äußert sich in einem zunehmenden Gegenwarts- und Zukunftspessimismus größerer sozialer Gruppen und beeinflusst somit die gesellschaftliche Mentalität. Im Gegensatz dazu betreffen Legitimations- und Motivationskrisen in erster Linie die Individuen eines Systems und erst auf zweiter Ebene das System selbst. Durch diese abgestufte Betrachtungsweise wird es möglich, auch soziale und kulturelle Faktoren in die vorrangig auf wirtschaftliche Zusammenhänge konzentrierte Krisentheorie zu integrieren. Die Krise ist nach Habermas eine Situation, in der der Legitimationsdruck auf die herrschende Elite so groß wird, dass er durch konventionelle Verfahren wie etwa Politik oder Rituale nicht mehr kompensiert werden kann.17 Wie wir noch sehen werden, war der Zeitraum der römischen Bürgerkriege nur äußerst bedingt von wirtschaftlichen Krisen geprägt, sehr wohl jedoch von verschiedenen, mehr oder weniger langlebigen Formen der Rationalitäten-, Motivations- und Legitimationskrise. Um diese zu erkennen und zu beschreiben, muss man auch das frühere 2. Jh. v. Chr. wieder stärker in den Blick nehmen.
Wie steht es nun aber mit der Nachweisbarkeit von Krisen in den archäologischen Wissenschaften? Krisen können mit archäologischer Methodik ja nur vor dem Spektrum der materiellen Kultur definiert und erkannt werden, und dies setzt voraus, dass es möglich ist, einen qualitativen Unterschied zwischen Krise und Stabilität aus den Überresten antiker Kulturen abzuleiten. In der Klassischen Archäologie verlässt man sich bei der Definition von Krisenzeiten traditionellerweise auf die Aussage der Schriftquellen. Beispielhaft für diese Tendenz können die Arbeiten von Paul Zanker, Eugenio La Rocca und Gilles Sauron genannt werden, in denen die Vielfalt von künstlerischen Ausdrucksformen in den letzten 100 Jahren der römischen Republik als das mehr oder minder exakte Spiegelbild einer politisch instabilen Zeit interpretiert wurden. Ähnliches gilt letzten Endes auch für die marxistisch unterfütterten Deutungsmodelle von Ranuccio Bianchi Bandinelli, Filippo Coarelli, Andrea Carandini und Mario Torelli. In all diesen Ansätzen diente das archäologische Material in erster Linie dazu, die Aussage der antiken Texte zu bestätigen.18
Wie problematisch eine solche Beurteilung jedoch sein kann, mag das Beispiel der Spätantike verdeutlichen. So hat man im Anschluss an die einflussreichen Arbeiten von Peter Brown und Walter Pohl die Zeit vom 4. bis zum 6. Jh. n. Chr. als eine Periode gesehen, die trotz aller Veränderungen doch im Wesentlichen von Stabilität und Prosperität geprägt gewesen sei. Das war allerdings vor allem auf den östlichen Mittelmeerraum und auf das Verhalten von sozialen Eliten bezogen, während zugleich Archäologen und Historiker wie Bryan Ward-Perkins und Peter Heather auf die eindeutig krisenhaften Züge der Spätantike im westlichen Teil des Römischen Reiches und in Teilen Italiens hinwiesen. Jeweils abhängig vom gewählten Blickwinkel und von der Auswahl des Quellenmaterials kann man die Spätantike also entweder als eine Periode weitgehender Stabilität oder aber als eine veritable Katastrophenzeit sehen. Regional und teilweise sogar lokal begrenzte Krisenphänomene spielen dabei eine zentrale Rolle und können zu stark voneinander abweichenden Deutungen führen.19
Auf deutlich breiterer methodischer Grundlage führt man die theoretische Diskussion um die archäologische Erkennbarkeit von Krisenzeiten seit bereits 50 Jahren in der Urund Frühgeschichte. Als einflussreich für die Rekonstruktion von Krise und Kollaps in prähistorischen Gesellschaften hat sich ein Modell von Colin Renfrew erwiesen. Grundsätzlich sah Renfrew den hohen Grad der Spezialisierung in frühen Hochkulturen als potenziell krisenfördernd an: Unter günstigen Bedingungen war es für diese Gesellschaften eine zielführende Strategie, die Spezialisierung und damit die Produktion qualitativ hochwertiger Güter zu maximieren. Daraus resultierten Bevölkerungswachstum und Wohlstand. Allerdings konnten soziale und wirtschaftliche Wandlungsprozesse eine solche Gesellschaft auch leichter in den Kollaps führen als eine weniger stark spezialisierte und im Erwirtschaften ihrer Lebensgrundlage flexiblere Gesellschaft. Die Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität bewirkte also generell eine höhere Anfälligkeit für Krisen. Ausgehend von dieser Grundannahme erstellte Renfrew eine umfangreiche Liste von archäologisch erkennbaren Krisenmerkmalen. Dabei unterschied er zwei Hauptkategorien, nämlich erstens den unmittelbaren Kollaps und zweitens die Zeit, die auf diesen Kollaps folgt. Renfrew stellte außerdem fest, dass ein sozialer, politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch sich durchaus über drei bis vier Generationen erstrecken kann, und dass man dabei auch verstärkt mit gewaltsamen Konflikten, Bevölkerungsverschiebungen, Zerstörungen und dem Legitimationsverlust alter Eliten zu rechnen hat.20
Wir müssen also die kurz- und langfristigen Muster im Handeln der geschichtlichen Akteure rekonstruieren, wenn wir Spuren der Krisenzeit in der materiellen Kultur der späten römischen Republik erkennen wollen. Hierzu gilt es, die archäologischen Reste wieder stärker als Produkte menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Vorgänge zu untersuchen. Denn obwohl uns im Gegensatz zur prähistorischen Archäologie auch eine reiche schriftliche Überlieferung zur Verfügung steht, verweist die materielle Kultur jener Zeit doch auch auf eine ganze Reihe von Prozessen, die entweder gar nicht oder zumindest nicht hinreichend von den Schriftquellen abgedeckt werden. Etliche Beispiele dafür werden in den folgenden Kapiteln behandelt: Wohnhäuser und Heiligtümer, Stadtkultur und Landwirtschaft, Grabdenkmäler und Staatsmonumente. Anders als die literarischen Quellen ist dieses archäologische Material jedoch in den meisten Fällen nicht erst im Nachhinein entstanden, sondern stellt ein unmittelbares Produkt seiner Zeit dar. Spätrepublikanische Kunstwerke, Gebäude, Siedlungen und Alltagsgegenstände dürfen deshalb nicht aus der Warte des modernen Beobachters in eine als unausweichlich erscheinende historische Entwicklung eingebettet werden. Sie waren wichtige Bestandteile jener Welt, in der die Betrachter, Bewohner und Produzenten lebten. Die wesentlichen Maßstäbe für diese Menschen und ihr Handeln bildeten die Erfahrungen der Vergangenheit und ihrer eigenen Gegenwart, nicht jedoch die dem antiken und modernen Historiker bereits bekannten Ereignisse der Zukunft.21
Aus diesem Grund untersucht dieses Buch die Krisenzeit der späten römischen Republik in einer generationenübergreifenden Perspektive. Diese Betrachtungsweise entspricht nun nicht nur dem stark auf die Bedeutung von Ahnenreihen ausgerichteten Selbstverständnis der zeitgenössischen römischen Oberschicht, sondern sie setzt auch früher ein als in den gängigen Darstellungen der späten Republik, die zumeist mit der Zeit der Gracchen beginnen. Meines Erachtens erhält diese Verschiebung ihre Berechtigung, wenn man sich etwa vor Augen führt, dass Publius Cornelius Scipio Nasica Serapio, der 133 v. Chr. als Pontifex Maximus den Kampf gegen Tiberius Gracchus anführte, um 180 v. Chr. geboren wurde; oder dass eben dieser Tiberius Gracchus nur 18 Jahre jünger war und seine Geburt dementsprechend ebenfalls noch in das zweite Viertel des 2. Jh.s v. Chr. fiel. Vergleichbares gilt für die bestimmenden Akteure des ausgehenden 2. und frühen 1. Jh.s v. Chr., so etwa für Gaius Marius, geboren 158/157 v. Chr., oder für seinen erbittertsten Widersacher, Lucius Cornelius Sulla, geboren 138 v. Chr. Diese Überlagerung von menschlichen Biographien und Erfahrungshorizonten definiert einen Zeitraum, der grob gesprochen die vier Generationen zwischen dem Ende des Dritten Punischen Krieges und dem Prinzipat des Augustus umfasst.22
Die dabei von mir verwendete Idee der „Generation“ folgt einer berühmten Studie des spanischen Soziologen Carmelo Lisón Tolosana. Am Beispiel eines Dorfes im Nordosten der Iberischen Halbinsel arbeitete Lisón Tolosana drei Typen von sich jeweils überlappenden Generationen heraus, die er in erster Linie nach sozialen und nicht nach biologischen Kriterien definierte: Nach seiner Deutung gab es innerhalb der Dorfgemeinschaft zu jeder Zeit eine „schwindende“, eine „lenkende“ und eine „aufstrebende“ Generation. Die Zugehörigkeit zu diesen Generationen definierte sich einerseits stark über Prestige und Besitz, andererseits aber auch über das kulturelle Vermächtnis vorangegangener Generationen, die gegenwärtige historische Situation und die Zukunftsvisionen einzelner Mitglieder. Zwischen den verschiedenen Generationen der Dorfgemeinschaft entspannen sich regelmäßig heftige Aushandlungsprozesse, insbesondere wenn es um die Einführung von Neuerungen, etwa in der Landwirtschaft und in der dörflichen Infrastruktur, oder um die Errichtung neuer Gebäude ging. Dominiert wurden diese Debatten immer von der „lenkenden“ Generation. In dem von Lisón Tolosana untersuchten Dorf war diese „lenkende“ Generation im Jahr 1961 zwischen 39 und 54 Jahre alt. Die öffentlichen Ämter des Dorfes wurden ausnahmslos von ihren Mitgliedern kontrolliert. Nicht weniger als 16 biologische Generationen waren 1936 bis 1939 im Spanischen Bürgerkrieg aktiv als Soldaten beteiligt gewesen – alle davon gehörten im Jahr 1961 zur „lenkenden“ Generation. Die Erfahrung des Bürgerkrieges schlug sich folglich im Selbstbild und im kollektiven Bewusstsein des Dorfes nieder und beeinflusste seine weitere Entwicklung selbst noch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Konfliktes.23
Die Abfolge der sozialen Generationen liegt allen weiteren Überlegungen in diesem Buch zugrunde. Einzelne außergewöhnliche Biographien bezeugen den historischen Wert einer solchen Betrachtungsweise. So begegnet etwa in einer Inschrift aus der etruskischen Nekropole von Tarquinia ein 106-Jähriger, der in seiner Jugend gegen Hannibal im Zweiten Punischen Krieg gekämpft hatte. Nehmen wir an, dass dieser Mann damals etwa 20 Jahre alt gewesen war, so wäre er gegen Ende der Dreißigerjahre des 2. Jh.s v. Chr. gestorben. Sein ungewöhnlich langes Leben schlug also einen bruchlosen Bogen zwischen dem späten 3. Jh. v. Chr. und den gewalttätigen Unruhen zur Zeit des Tiberius Gracchus. Ähnlich liegt der weitaus berühmtere Fall des römischen Ritters Titus Pomponius Atticus, der vor allem durch seine Freundschaft mit Cicero bekannt geworden ist. Atticus wurde im Jahr 110 v. Chr. am Beginn des Krieges gegen den numidischen König Jugurtha geboren und starb am 31. März des Jahres 32 v. Chr. Sein Leben umfasste also die gesamten letzten acht Dekaden der römischen Republik und endete nur ein Jahr vor dem Sieg des Octavian über Marc Anton bei Actium, beide ebenfalls Kinder einer Bürgerkriegsgeneration. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der etwa gleichaltrige Biograph Cornelius Nepos seine Lebensbeschreibung des Atticus als Sittenspiegel der späten Republik gestaltete. Der durch die Abfolge solcher Lebensgeschichten definierte Zeitraum – also grob gesprochen das verschobene Jahrhundert vom Ende des Dritten Punischen Krieges bis zur Schlacht von Actium – war geprägt von Erfahrungen, die sich über die entsprechenden Generationen hinweg fortsetzten, verdichteten und veränderten, jedenfalls aber immer voneinander abhängig waren. Menschliche Erfahrung und menschliches Handeln bilden somit die zentralen Maßstäbe der vorliegenden Untersuchung.24
Das führt mich schließlich zu der in diesem Buch vertretenen Idee des „Bürgerkrieges“. Darunter möchte ich, anders als in traditionellen Beschreibungen der späten Republik, nicht nur punktuelle Gewaltausbrüche verstehen, wie sie etwa in den Jahren von 88 bis 82 v. Chr. oder von 49 bis 45 v. Chr. stattfanden. Stattdessen geht es mir um die Charakterisierung eines längeren Zeitraumes, der zwar in den Dreißigerjahren des 2. Jh.s v. Chr. begann, doch aufgrund der genannten Generationenfolge auch noch unmittelbar mit der ersten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. verbunden war und ungebrochen bis in die Jahrzehnte nach Actium andauerte. Massive innere Gewalt war eine der prägenden Erfahrungen dieses verschobenen Jahrhunderts. Schon die Gracchen, Angehörige eines alten Adelsgeschlechts, wurden von ihresgleichen moralisch verurteilt und schließlich ermordet. öffentliche und private Gewalt blieben bis in die frühaugusteische Zeit prägend für die römische Innenpolitik und die gesamte politische Kultur. Im Vergleich mit anderen historischen Epochen – so etwa dem Dreißigjährigen Krieg oder dem Englischen Bürgerkrieg – ist davon auszugehen, dass eine solche Situation nicht ohne Auswirkung auf die geistige und materielle Kultur der betroffenen Zeit geblieben sein kann.25 Die Sicht der römischen Quellen lässt hier keine Zweifel offen. Spätrepublikanische und kaiserzeitliche Autoren, allen voran Tacitus, stellten die Unruhen der Gracchenzeit in eine Reihe mit dem Bundesgenossenkrieg, dem Kampf zwischen Marius und Sulla, dem Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Caesar und den Schlachten der Vierziger- und Dreißigerjahre des 1. Jh.s v. Chr. Die Beschreibung der „römischen Bürgerkriege“ als ein mehrere Generationen überspannendes Epochen- und Mentalitätsphänomen wird durch diese Betrachtungsweise gerechtfertigt.26
Auch die jüngsten Entwicklungen in der Bürgerkriegsforschung unterstützen einen solchen Perspektivwechsel. Hier gilt das Interesse von Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern seit einigen Jahren verstärkt der gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik von Bürgerkriegen.27 Dem Zeugnis der archäologischen Überreste kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da die Schriftquellen in Bürgerkriegssituationen immer bis zu einem gewissen Grad suspekt sind. Man misstraut der historischen Überlieferung und vermutet allenorts Übertreibungen. Scheinbar neutrale Berichte, wie sie nach dem Ende von Konflikten von Historikern oder politischen Gremien häufig verfasst werden, lassen diese Skepsis nicht schwinden, da im Anschluss an Bürgerkriege stets ein starkes Bedürfnis nach Relativierung und Revisionismus besteht. Moderne Debatten wie jene um den Völkermord an den Armeniern oder die Massenmorde während des Jugoslawien-Krieges führen diese Problematik klar vor Augen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Ausübung von Gewalt in Bürgerkriegssituationen für jede Gesellschaft mit der Überschreitung sozialer Normen verbunden ist. Es gibt unterschiedliche Mechanismen, um diese Überschreitung zu legitimieren: Religiöse und politische Rituale gehören ebenso dazu wie die Neuordnung von Besitzverhältnissen, das Entstehen neuer Eliten oder die Erfindung neuer Symbole und Ideen.28
Noch in Ronald Symes epochalem Werk „The Roman Revolution“, das im Jahr 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, erschien, spielten solche Überlegungen zu Kultur und Gesellschaft der späten römischen Republik im Vergleich mit den politischen Ereignissen nur eine untergeordnete Rolle. Dieselbe Haltung dominierte auch die einschlägigen Untersuchungen der Nachkriegszeit. Erst vor wenigen Jahren plädierte Josiah Osgood in seinem Buch „Caesar’s Legacy“ eindringlich für eine regelrechte Kultur der Bürgerkriegszeit, allerdings nur für den Zeitraum von 44 bis 31 v. Chr.29 Das Ziel meines Buches ist es, diesen Ansatz auf ein ganzes Jahrhundert auszuweiten, nämlich auf die Jahrzehnte von etwa 146 bis etwa 30 v. Chr., wobei einzelne kurze Zeitabschnitte ebenso wie lange Generationenfolgen in den Blick genommen werden sollen, um ein möglichst ganzheitliches Verständnis der historischen und kulturellen Abläufe zu erreichen.
Krise und Bürgerkrieg sind jedoch keineswegs im Sinne einer ständigen Abwärtsspirale zu verstehen. Im Gegenteil haben sie eine Vielzahl möglicher Erscheinungsformen, die über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten können. Aus diesem Grund sollen in den folgenden Kapiteln anhand aussagekräftiger Beispiele im Großen und Ganzen zwei Ebenen untersucht werden. Erstens möchte ich zeigen, wie der Bürgerkrieg kurzfristig und auf traumatische Weise in das Bewusstsein der spätrepublikanischen Gesellschaft einbrechen konnte. Zweitens ist mit Blick auf die Abfolge der sozialen Generationen aber auch nach den langfristigen Auswirkungen dieser Ereignisse zu fragen. Wie setzte sich die Kultur des Bürgerkrieges in bestimmten sozialen Schichten fest? Wie prägte sie die Wertvorstellungen, die Kunst und Alltagskultur dieser Gesellschaftsgruppen, und warum wurde sie für deren Mitglieder zum bestimmenden Maßstab ihres Handelns?
Zur Klärung dieser Fragen untersucht das erste Kapitel vor dem Hintergrund der römischen Eroberungszüge zunächst die Rolle von Gewalt und Vernichtung im Mittelmeerraum des 2. und 1. Jh.s v. Chr. Diese breit angelegte Betrachtungsweise ist nötig, um in einem zweiten Schritt den besonderen, traumatischen Charakter der inneren Gewalt für Rom und Italien seit dem späten 2. Jh. v. Chr. herausarbeiten zu können. Religiöse Sorgen und Ängste spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die Auslöschung von Menschenleben, die Zerstörung von Kulturlandschaften und die Umwälzung sozialer Ordnungen. Das zweite Kapitel widmet sich dann den vielfältigen Verbindungen zwischen Gesellschaft und Krise in der Bürgerkriegszeit. Die Lebensgrundlagen der bäuerlichen Gesellschaft werden hier ebenso thematisiert wie die Entwicklung der Städte, politische Reformen, Landverteilungen, monumentale Bautätigkeit und die Veränderungen des Konsumverhaltens.
Die Darstellung stützt sich auf eine kombinierte Auswertung von schriftlichen und archäologischen Quellen. Aus den Texten haben wir Informationen zum Verlauf der Ereignisgeschichte, zu den Formen der staatlichen Organisation, zur Ausstattung des privaten Lebensraums und zu religiösen Vorstellungen; durch archäologische Forschungen kennen wir die Überreste von öffentlichen Bauten, Wohnhäusern, Bauernhöfen, Heiligtümern und Gräbern. Gut bekannt sind außerdem die naturräumlichen, infrastrukturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die dem Alltagsleben in der späten Republik ihren Stempel aufdrückten und zu Mobilität, sozialer Differenzierung und einer Frühform der kapitalistischen Mehrwertproduktion führten. Ebenso bekannt sind familiäre Strukturen, Definitionen von Rang und Status sowie die Rolle des Individuums auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft. Wenig erforscht ist hingegen die Art und Weise, wie sich die Gewalt und die Konflikte der Bürgerkriegszeit auf eine derart komplexe Gesellschaft auswirkten und welche Spuren sie in Kunst, Architektur und Alltagskultur hinterließen. Wer waren die Sieger, die Geschichte machten? Und wie sah die Geschichte der Verlierer aus?