Читать книгу FRANKLIN BENJAMIN UND DAS RAUMZEIT-PUZZLE - Dr. Tobias Albrecht - Страница 8
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0x01: Der Sonderling
1
Franklin oder genauer gesagt Franklin Benjamin war, wenn man ihn nicht näher kannte, nicht von einem ganz gewöhnlichen 12-jährigen Jungen zu unterscheiden.
Er war eher groß für sein Alter, dünn und schien in allen Gelenken etwas zu beweglich zu sein.
Wenn er mit seinem Schulranzen, der meist schief auf seinem Rücken hing, über den Pausenhof schlenderte, wirkte es fast, als hätte er keine Knochen und bestünde aus Gummi.
Sein aschblondes Haar, mal vom Friseur, mal von seinem Papa geschnitten, neigte dazu dicht zu wuchern. Deshalb sah es, wenn ein Haarschnitt überfällig war, so aus als er trüge eine Mütze auf dem Kopf.
Dass er aber alles andere als gewöhnlich war, erlebte bereits die Hebamme bei seiner Geburt in der Klinik. Nachdem er seinen ersten Atemzug mit einem kurzen Schrei getan hatte, war er augenblicklich verstummt. Sein Blick war in eine Ecke des Kreissaales gewandert und dort haften geblieben.
Der besorgten Mutter von Franklin, die natürlich wissen wollte, warum das Kind so ruhig sei, sagte die Hebamme alles wäre in Ordnung.
Später berichtete sie aber dem diensthabenden Gynäkologen in ihrer Pause: »Ich sage dir, der Bursche hat nur kurz Luft geholt und dann auf einen riesigen mintgrünen Käfer gestarrt, der in der Ecke des Kreissaales saß. Dann wurde er mucksmäuschenstill und hat gelächelt. Und ich schwöre dir, der Käfer hat sich daraufhin auf die Hinterbeine gestellt, zu dem Jungen umgedreht, die Fühler in seine Richtung gestreckt und zwei oder drei Pirouetten gedreht. Dann hat er sich im Takt zur Musik aus dem Kreissaallautsprecher hin- und hergewiegt. Hast du schon mal einen Käfer gesehen, der so was macht?«
»Du spinnst dir was zusammen, Hannah«, meinte der Arzt, schob sich einen Kaugummi in den Mund und schnippte das Papier in die Gitteröffnung der Klimaanlage. »Erstens können Neugeborene nur zwanzig Zentimeter weit sehen und zweitens wird hier alles mehrmals täglich geputzt und ist desinfiziert und steril. Da schwirrt kein Käfer rum und schon gar kein so seltsamer, wie du meinst. Außerdem hat der Kreissaal keine Fenster – wo soll der Käfer denn hereingekommen sein? Wann hast du eigentlich zuletzt frei gehabt?«
»Ich bin nicht übermüdet und nicht gestresst, wenn du das meinst!«, kläffte die Hebamme zurück.
Der Arzt zuckte mit den Schultern, spuckte den kaum gekauten Kaugummi ebenfalls zielsicher durch das Lüftungsgitter und stand auf: »Ich muss wieder los, vergiss es einfach und nimm dir ein paar Tage frei!«
Aber vergessen konnte die Hebamme das ihr ganzes Leben lang nicht mehr. Noch Jahre nach ihrer Pensionierung erinnerte sie sich an den Sonderling Franklin Benjamin und erzählte die Geschichte seiner Geburt ihren Enkeln, die ihr mit weit aufgerissenen Augen zuhörten. Sehr zum Leidwesen der Eltern, die die Erzählung natürlich bereits tausendmal gehört hatten und sich mit verdrehten Augen anblickten.
Franklins Eltern fielen die Besonderheiten des Jungen ebenfalls rasch auf. Nie mussten sie die Wiege abdecken, denn keine Mücke setzte sich jemals auf das Gesicht des Kindes, und keine Schnake stach ihn jemals.
Hätte man seine Mutter gefragt, ob Franklin irgendwann einmal ein Tier verletzt hätte, so hätte sie erstaunt und stirnrunzelnd geantwortet: »Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht, aber wenn ich genau nachdenke, hat er meines Wissens nicht einer einzigen Fliege irgendetwas zu leide getan.«
2
Die Geschichte seines ungewöhnlichen Vornamens ist rasch erzählt.
Franklins Eltern Karl und Carlotta Benjamin, meist belächelt wegen ihrer ähnlichen Vornamen, lebten in einer Kleinstadt im Süden Deutschlands in einem kleinen Haus mit wucherndem verwunschenem Garten.
Karl, der in einer kleinen Internet-Verlagsdruckerei als Korrekturleser, Verleger und manchmal auch als Drucker in einer Person arbeitete, steckte ständig seine Nase in irgendwelche Bücher oder Manuskripte und hatte keine Zeit für Hobbies. Er war der Prototyp eines Bücherwurmes. Nicht zu groß, ein gemütliches Bäuchlein vor sich herschiebend, Glatzkopf mit zwei listigen Äuglein über einer Stupsnase und darunter liegend: ein grauen Seehundschnauzbart. Seine Brille schien immer ein bisschen schief auf seiner Nase zu sitzen und war irgendwie zu klein für seinen Kopf.
Manchmal schob Carlotta ihr Handy mit einem Selfie oder einem Foto des Abendessens zwischen die Nase ihres Mannes und das Buch, in das er gerade starrte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, wenn er mal wieder geistig völlig abwesend war. Beide brachen dann meist in ein großes Gelächter aus.
»Ich dachte du wärst in deinem Hexengarten? Was hast du denn heute Leckeres zum Abendessen gezaubert?«, witzelte Karl dann meist, worauf Carlotta ihre Standardantwort schmunzelte: »Das erfährst du, wenn du mir sagen kannst, ob heute die Sonne schien, oder ob es geregnet hat! Du wirst eines Tages noch an deinem Schreibtischstuhl festwachsen!«
Carlotta selbst – gut einen Kopf größer als ihr Mann, mit langen roten Haaren (sicherlich der Grund für Karl, sie im Spaß Hexe zu nennen) und einem immer lächelnden Gesicht, optisch locker zwei Klassen über Karl spielend – war hingegen der Meinung, ihr Garten sähe großartig aus.
Nachdem sie wegen der Kinder von Automechanikerin auf Hausfrau umgesattelt hatte, tobte sie sich zumeist dort und im Haushalt aus.
Interessanterweise pflanzte sie alles nach einem auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Schema an. Dieses war nicht nach Pflanzen oder Gemüsearten geordnet, sondern nach den Gerichten, die sie liebte. So wuchsen Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten und Paprika auf einem wilden Haufen für ihr berühmtes Letscho, Karotten und Erbsen beieinander für Kindergemüse und der Mais zwischen den Bohnen und den Chilis für mexikanische Gerichte. Hier und da spitzte eine Kartoffelpflanze durch das Tohuwabohu.
»Denn Kartoffeln passen ja zu allem«, pflegte sie zu sagen.
Zudem brachte Carlotta es nicht übers Herz, irgendein Unkraut auszurupfen oder einen Busch zurückzuschneiden.
»Hier nisten Vögel, dort tummeln sich Hummeln und der Maulwurf macht den Boden locker«, belehrte sie Karl, wenn dieser sich murrend durch den Gartendschungel gequält hatte und mal wieder über einen Maulwurfshügel gestolpert war.
Für Franklin war dieser Garten natürlich der ideale Abenteuerspielplatz, zumal er mit zweckentfremdeten technischen Geräten aus Carlottas Automechanikerzeit vollgestopft war.
So waren eine Kraftstoffpumpe zur Bewässerungsanlage, unterschiedliche Scheinwerfer zu Pflanzenleuchten und sogar das Chassis eines Multivans zu einem Gewächshaus geworden.
»Modifikationen« nannte Carlotta diese Umbauten auf Nachfragen staunender Besucher.
Wen wunderts, dass Carlotta, als es um die Namensgebung ihres ersten Sohnes ging, ein technisch versiertes praktisches Namensvorbild und Karl ein geistig gebildetes vorschwebte.
Nach endlosen Diskussionen hatte Karl sich schließlich an die Stirn geschlagen: »Heureka! Das ich jetzt erst dahinter komme! Dabei lag die Lösung unseres Problems die ganze Zeit in unserem Familiennamen vor unseren Augen!«
»Verstehe kein Wort!«, hatte Carlotta gebrummt und sich den hochschwangeren Bauch gerieben.
»Natürlich Benjamin Franklin, er war Erfinder, also Praktiker, Buchdrucker und Gelehrter in einer Person und nebenbei noch Gründervater der Vereinigten Staaten von Amerika«, rief Karl und hüpfte jubelnd wie ein Gummiball umher.
Und so kam es, dass der Sprössling den Namen Franklin erhielt. Franklin Benjamin.
Doch dass an ihm nicht nur sein Name außergewöhnlich war, sollte Franklin erst viel später erfahren nämlich…
3
…als Franklin sieben Jahre alt war und bereits einen Bruder namens Paul im Alter von fünf Jahren hatte, machte die Familie einen Ausflug an einen nahegelegenen Fluss. Dort war der Lieblingsplatz der Benjamins.
Aber dieser Tag sollte anders verlaufen als gewöhnlich und das Leben von Franklin schlagartig und für immer verändern.
Am Flussufer lag eine Grillstelle herrlich unter den Bäumen.
Der Fluss umströmte den Grillplatz halbmondförmig und das Flussufer war dort relativ flach.
Natürlich machten sich die Buben einen Spaß daraus Steine, Stöcke und alles Mögliche, was sie so fanden, ins Wasser zu werfen.
»Hey, schau mal her!«, neckte Paul seinen Bruder Franklin. »Da ist ein Goldstück im Wasser!«
Und als Franklin sich vornüberbeugte, um besser sehen zu können, versuchte Paul ihn von hinten ins Wasser zu stoßen.
Mit wild rudernden Armen konnte Franklin sich gerade noch ausbalancieren und landete auf dem Po.
Paul warf sich vor Lachen auf den Bauch und trommelte mit den Fäusten auf den Boden.
»Muahahaha, du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!«, gluckste er.
Doch ehe Franklin sich umdrehen und aufstehen konnte, um Paul die Gemeinheit so richtig heimzuzahlen, krabbelte ein dunkelblauer mindestens dreißig Zentimeter langer, finster dreinblickender Süßwasserkrebs aus dem Wasser und über Franklin hinweg direkt auf Paul zu. Dieser glotzte wie versteinert und stammelte: »Da, da, da, urg, hilf mir!«
Als der Krebs noch ein paar Schritte näher kam und Paul in die Nase zwickte, war »Aaaargh, auweh!« das Einzige, was man von ihm zu hören bekam.
Und ehe noch irgendjemand darauf reagieren konnte, war der Krebs bereits wieder zurück in den Fluss verschwunden.
Während seine Eltern ungläubig auf die ganze Szene starrten und Paul verdutzt seine rote Nase rieb hörte Franklin, wie der Krebs unter Wasser kicherte: »Muahahaha, jetzt solltest du aber mal dein Gesicht sehen. Du stößt so schnell niemanden mehr ins Wasser!«
Und hoch oben in der Luft ergänzte ein vorbeifliegender Storch: »Und schon gar nicht Franklin Benjamin!«
In diesem Augenblick an einem schönen Junitag wurde Franklin schlagartig klar, dass er entweder verrückt war, oder die Sprache der Tiere verstehen konnte.