Читать книгу Tales of Beatnik Glory, Band I-IV (Deutsche Edition) - Ed Sanders - Страница 35
GEIEREI-MATZENBREI I
ОглавлениеKurz nach Tagesanbruch sammelten sie alle Eisstiele ein, die sie in den drahtgeflochtenen Abfallkörben um den Brunnen herum auftreiben konnten. Sie brachten einen klebrigen, schwärzlichen Haufen von mehreren Hundert zusammen und reihten sie in einer sauberen, geraden Linie aneinander. Dann öffnete Avram Maniac (wie er von seinen Freunden genannt wurde) eine Riesenflasche Buchbinderleim und tupfte auf jeden Eisstiel einen weißen Fleck. Dabei tanzte er ausgelassen von einem Fuß auf den anderen und blies Imitationen von Trompetenriffs durch seine zusammengepressten Lippen. Maniac war ein Genie im Lippenblasen, aber ein paar Stunden davon hintereinander machte aus seinen Zuhörern die reinsten Nervenbündel, und das galt ganz besonders für seine Mitbewohner in der sommerlich heißen Mietshauswohnung, wenn sie mal wieder vier Tage am Stück nichts zu essen gehabt hatten außer Buchweizenpfannkuchen, beim Fleischer geklaute Kalbsaugen und von der Straße aufgesammeltes Taubenfutter. Aber jetzt waren sie im Freien, es war ein wunderschöner Sommermorgen, und keiner kam auf die Idee, ihn anzufauchen: »Halt die Schnauze, Maniac, Baby!«, jedenfalls im Moment noch nicht.
In der traubensaftbespritzten Dämmerung errichteten sie auf einem Fundament aus Stein einen großen rechteckigen Stielturm und bezogen dabei geschickt den oberen Rand des runden Brunnens / Planschbeckens im Zentrum des Washington Square Park mit ein. Ein Kunstwerk ersten Ranges, bestätigten sie sich gegenseitig. Das Datum: 1. Juli 1959.
Es waren drei, die mit dieser stilistischen Arbeit zugange waren: John Barrett, Avram Maniac und Newt. Maniac, muss man wissen, erwartete jeden Moment heulende Polizeisirenen, denn nur ein paar Stunden vorher hatte er sich heimlich aus dem »I-Am-Jesus«-Trakt des Bellevue Hospitals geschlichen. Er hatte sogar noch den Krankenhaus-Schlafanzug an, und auf dem Rücken stand in fetten Druckbuchstaben: Eigentum des BellevueHospitals. Aber das Ding war pures Gold wert. Wochenend-Beatniks aus Queens zahlten nicht schlecht für echte Freak-Klamotten.
In der vergangenen Nacht hatte Avram seinen kastanienbraunen Bellevue-Bademantel für siebenundzwanzig kleine weiße Methedrin-Pillen an Mary Meth verdealt; kein Wunder also, dass er mittlerweile völlig überdreht und immer noch hellwach war. Um so besser, dachte er bei sich und sorgte dafür, dass der Klappsen-Pyjama wenigstens standesgemäß dreckig und durchgeschwitzt wurde. Während der Konstruktion der Eisstielskulptur bekleckerte er sich von oben bis unten mit Leim und pfiff dabei grell vor sich hin. Er träumte davon, dass jetzt da draußen irgendwer war, der grade in diesem Moment seine Sandalen schnürte und schon bald in eine U-Bahn Richtung Village steigen würde — ohne einen blassen Schimmer, dass er oder sie noch am selben Tag die Ehre haben würde, zehn Dollar für Maniacs Irrenhaus-Garderobe hinzublättern.
Der Klebstoff flog ihm bis ins Haar. Normalerweise war es kraus, durcheinander und so grässlich verfilzt, dass man glaubte, ganz viele kleine Kokons hätten sich darin eingenistet und würden hier auf irgendeinen fernen Frühling warten. Aber im Moment sah es aus wie ein plattgedrücktes Opossum auf dem Highway: eine schrecklich zermatschte Erhebung aus haarknochigem Dreck.
Der Junge namens Newt war ein zwanzigjähriger Tänzer, der vor zwei Jahren mit der Bronx High-School of Science fertig geworden war. Dieses fickrige Musterexemplar an Unentschlossenheit konnte einfach nie länger als zwei Minuten mit jemand reden, ohne damit herauszuplatzen, dass die Wissenschaft ihn als Genie eingestuft hatte. Er war ziemlich mickrig, nicht größer als ein Meter achtundsechzig, und extrem hager — sein Brustkasten hätte ein prima Rhythmusinstrument in einer Jug-Band abgegeben. Übrigens passierte das genau ein paar Jahre später, als er in San Francisco von einer Rockband Kali geopfert wurde; die Mitglieder waren Anhänger der Schwarzen Göttin.
»Ich bin eine Sonnenblume, von glänzenden Karrieren umrahmt«, rief er immer, wenn er voller Elan von einer Schrulle in die nächste sprang — erst Zeichnen, dann Dichten, Komponieren, Weben, Singen, Tischlern und endlich, der einzig wahre Hit des Jahres ’59: Tanzen. Und Newt tanzte rund um die Uhr, wobei er sich auf wilde, touristenwirksame schlangenartige Verrenkungen auf seiner »Bühne«, also dem Vorplatz vom Washington-Square-Brunnen spezialisierte.
Manchmal schnallte er sich einen Rollschuh auf den Kopf, vollführte unter dem Washington Arch einen Kopfstand und fuchtelte dabei wie ein Wahnwitziger mit den Armen in der Luft herum. Wenn es darum ging, auf sich aufmerksam zu machen, war er wirklich nicht zu schlagen. Die Menschenmenge konnte gar nicht oft genug auf den Auslöser drücken, als Newt den Rollschuh irgendwie in Bewegung brachte und dann in einem eleganten Bogen um die sprühenden Fontänen yoga-jonglierte. Newts Jünger, und davon gab es jede Menge, verschlangen solche Einzelheiten wie eine neue Theophanie.
Newt war ehrgeizig. Er bildete sich ein, er wäre höchstens noch zwei Jahre von der Oberliga der Beauty-Motion entfernt, und das bedeutete Soloauftritte, große Säle, Tourneen, Viertelseitenanzeigen in der Village Voice und Flugzeugtickets. »Newt hat das Rätsel gelöst, Newt hat das Rätsel gelöst«, schrie er aus dem Rollschuhkopfstand und wirbelte dazu mit den Armen, als ob er Wunderkerzen in den Händen hielt.
John Barrett war derzeit einundzwanzig und versuchte krampfhaft, mit seiner geradezu überirdischen Hektik klarzukommen. Er war ein Dichter, einer von denen, die sich über ihre Berufung nur mit zusammengebissenen Zähnen äußern. Jeden wachen Moment verbrachte er damit, den »Set« zu patrouillieren, was in den Kreisen der Parklinge soviel bedeutete wie alles, was sich zwischen den Slums der Lower East Side und der sauberen, gut gepflegten Bohemia des West Village erstreckte, vorausgesetzt, man hielt sich unterhalb der Vierzehnten Straße. John Barrett war für die Jahreszeit vielleicht etwas zu dick angezogen, aber in seinem schwarzen Rollkragenpullover und seinem Jackett, das er das ganze Jahr hindurch trug, fühlte er sich empfänglicher für die Blake’schen Geistesblitze. Unter einer Maske von schlauer Ungeschicklichkeit glaubte Barrett nämlich, dass er mindestens so begabt war wie Keats. Und zwar Keats hauptsächlich deswegen, weil er irgendwann einmal den abscheulichen Mist gelesen hatte, den Keats Kritiker nach der Veröffentlichung von Endymion über den armen Poeten verbreitet hatten.
»Mit so ’nem vernagelten Gelaber kommen diese Fatzken bei mir nicht davon!« murmelte Barrett und ballte die Fäuste. Er gehörte zu den Typen, die mit Tränen in den Augen aufmerksam einem Beethoven-Konzert lauschen und beim Rausgehen heiser krächzen: »Das bring ich auch noch! Das bring ich auch! Ich werd’s euch noch zeigen!«, womit er wahrscheinlich die Verfassung einer neuen Ilias, mindestens aber einer Sequenz von unsterblichen Versen über die schmieropathische Geilheit meinte. Oder so etwas ähnliches.
»Himmel noch mal, ich bin echt ein guter Dichter«, seufzte er, wenn er seine Beobachtungen in die Notizbücher kritzelte und dabei die durcheinandergewirbelten Blätter glättete und ordnete. Alles war heilig, alles beachtenswert. »Kreisch! Kreisch!« — das Wort Kreisch liebte er wirklich über alles — »Kreisch, ich bin schon bei Nummer 47! « Damit meinte er seine Serie von Notizbüchern, die er am 15. Juni 1957 begonnen hatte und konsequent bis zu diesem prächtigen Morgen im Sommer 1959 weitergeführt hatte. Erst 1963 schloss er die Reihe mit der Nummer 128 ab. Der gesamte exquisite Ausbruch wurde übrigens später von der Harris Collection der Brown-Universitäts-Bibliothek erworben, wo er nach Herzenslust inspiziert werden kann.
Ohhhh und ahhhh — spürst du den Flügelschlag der Musen über seinem Haupt? Erato, Terpsichore und die laut trillernde Melpomene, alle schön brav in schwarze Lederröcke gewickelt, mit Allen-Block-Sandalen bis zu den Knien geschnürt, und sie alle rufen Feuer! Feuer! Keats-Kreisch! Blake-Fleisch! Byron-Stöhn! Ja, das waren die stürmischen, egoistischen Erleuchtungen seiner Seele. »Mach nur weiter so, mein arrogantes Ich!« kommandierte er. »Meine Notizen sind sowieso nur der krakelige Vorspann für das Endgültige Gedicht; ich brenne darauf, Amerikas letztes Gedicht zu schaffen. Ich bin Pindar!«
So kam es, dass er ein Faible für Anekdoten entwickelte. Ständig stachelte er seine Freunde an, sich völlig zu verausgaben und unbedacht in die unheimlichsten und unergründlichsten Tiefen zu springen. Ihm konnte es gar nicht wild genug sein. Und auf diese Weise stiftete er auch Leute wie Newt und Avram Maniac an, die vor seinen Augen herumtanzten, während er selber sein Notizbuch mit poetischer Schaumschlägerei füllte.
Mittlerweile war ein leichter Wind aufgekommen, der ihren Turm immer wieder zum Einstürzen brachte. Sie leimten eine senkrechte Verstrebung an die Spitze und lehnten den ganzen Apparat gegen einen der dicken Betonpfeiler, die alle paar Meter aus dem Rand des Brunnens emporstiegen. Newt zauberte aus seiner Umhängetasche ein paar Tarotkarten hervor (ein seltener Anblick in diesen präpsychedelischen Tagen), die sie an der Außenseite des stufenförmigen Eisstielturms festklebten. »Ich wünschte bloß, wir hätten ’ne Kamera«, seufzte Newt, als er sich zurücklehnte, um das Kunstwerk zu betrachten. Unwillkürlich zuckte er in einem abstrakten Rhythmus zu Maniacs Gepfeife mit den Achseln.
Ungefähr um sechs Uhr dreißig war es dann fertig, gerade rechtzeitig für die Straßenfeger aus dem Parkbezirk, die wie gewöhnlich um diese Zeit anrückten und mit ihren fahrbaren Müllkarren und Besen auf den Brunnen zuschlurften, um die Papierberge der letzten Nacht zu beseitigen.
»Wollen Sie das behalten?« fragte einer der Straßenfeger und deutete auf den Turm.
»Nee, nehmen Sie ihn nur mit. Er gehört Ihnen.« Als der Müllmann ihn aufhob, flatterte eine Karte herunter und fiel als Prophezeiung auf Barretts Fuß. Barrett starrte auf die Karte.
»He, Barrett«, lachte Avram, »der Karte nach sitzt du ganz schön in der Scheiße, Mann! Du willst dir wohl das Gras von unten ansehen, was? Das ist der Tod auf deinem großen Zeh, Bab! Hahaha!«
Barrett bückte sich und hob die Karte auf, die immer noch klebrig feucht war. Er presste sie wieder an den Stielturm. Und der Straßenfeger stopfte das ganze Ding unter Knirschen und Knacken in seine Mülltonne.