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6.

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Als sie sich nach dreieinhalbstündiger Fahrt der Insel Syros näherten, gingen Alexander und Laura gemeinsam ins Freie und schauten beim Anlegen im Hauptort Ermoupoli zu.

„Was für eine schöne Stadt. Sieht irgendwie orientalisch aus“, sagte Laura.

„Im Gegenteil“, widersprach Alexander. „Früher haben hier fast ausschließlich Katholiken gelebt. Heute halten sie sich mit den Griechisch-Orthodoxen in etwa die Waage. Die Katholiken wohnen eher in Ano Syros, am älteren, von uns aus gesehen linken Hügel. Die beiden Städte sind längst zusammengewachsen. Sehen Sie die Bischofskathedrale St. Georg dort drüben? Darunter befinden sich ein Kapuziner- und ein Jesuitenkloster. Nach dem griechischen Aufstand gegen die Herrschaft der Türken sind viele Griechen von Chios und anderen dem türkischen Festland nahen Inseln hierher geflüchtet. Den Namen Ermoupoli verdankt die Stadt Hermes, dem Schutzgott der Kaufleute und Diebe. Einst war sie das bedeutendste Handelszentrum Griechenlands und der wichtigste Hafen des ganzen Landes. Eine moderne, reiche Stadt mit neoklassizistischen Gebäuden, prächtigen Parks, florierenden Fabriken und viel Kultur. Das Apollo-Theater zum Beispiel ist bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden. Erst mit der Eröffnung des Kanals von Korinth ist Piräus zum größten Hafen geworden, und Ermoupoli hat an Bedeutung verloren. Aber es gibt hier noch eine Hochschule und viele interessante Museen.“

„Woher wissen Sie das alles? Haben Sie mal hier gelebt?“

Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Ich habe eine ausgezeichnete Lehrerin gehabt.“

„Sie würden einen guten Fremdenführer abgeben.“

„Haben Sie was übrig für Malerei? In der Kirche Kimisi Theotokou hängt ein echter El Greco. Die Dormitio der Mutter Gottes.“

„Oh!“ Laura hatte es die Rede verschlagen. Nicht wegen der Erwähnung des berühmtesten griechischen Malers, sondern weil sie diesem Alexander, der aussah wie ein in die Jahre gekommener italienischer Gigolo, nicht zugetraut hätte, dass er sich für Bildende Kunst interessierte.

Wieder zurück in der Bar, fragten sie diesmal die alte Frau, die inzwischen hellwach wirkte, ob sie sich zu ihr setzen dürften. Christina nickte und bedeckte die Hälfte ihres Gesichts erneut rasch mit ihrem Schal. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren.

„Im Grunde mag ich Mykonos nicht“, sagte Laura. „Die Insel ist mir viel zu kahl und zu trocken. Im Sommer soll dort alles braun und grau sein.“

Während sie sprach, bemühte sie sich vergeblich, ihre langen Haare mit Hilfe einer Spange in den Griff zu kriegen. Einige Strähnen hingen ihr nach wie vor ins Gesicht. Alexander wäre ihr gern behilflich gewesen, traute sich aber nicht, ihr Haar zu berühren.

Sie kam dann auf die schwer überhöhten Preise in Mykonos zu sprechen. „Stellen Sie sich vor, vor kurzem habe ich in einer österreichischen Zeitung gelesen, dass einem Ami und seinen fünf Freunden in einem Restaurant in Klein-Venedig fast sechshundert Euro für sechs Portionen frittierte Calamari abgeknöpft wurden. Das ist krank, oder?“

In Zusammenhang mit den enormen Preisen erwähnte sie einen Freund, Theo Niemayer, einen Österreicher, der nahe dem Zentrum, der Chora, ein sündhaft teures Boutiquehotel besaß.

Alexander zuckte zusammen, als er den Namen ihres Freundes vernahm. War das nicht sein Zielobjekt, der Mann, den er, mit welchen Methoden auch immer, zum Verkauf zwingen musste?

Er überlegte, ob er das geplante Treffen mit Theo Niemayer ansprechen sollte. Sie würde es ja sowieso mitkriegen, wenn er in dem Hotel aufkreuzte.

„Mit Ihrem Freund werde ich mich vielleicht zusammensetzen müssen“, kündigte er vage an. „Womöglich hat er ja Interesse, sein Hotel an meine Firma zu verkaufen. Wir zahlen faire Preise. Die Lage in Griechenland wird nicht besser. Auf manchen Inseln haben sie sechzig Prozent Rückgang bei den Nächtigungen.“

„Nicht auf Mykonos. Reich und Schön ist die Krise egal. Sie spüren nichts davon. Außer von den tausenden Passagieren der Kreuzfahrtschiffe wird die Insel hauptsächlich von wohlhabenden Touristen heimgesucht. Viele gutsituierte Schwule, aber auch jüngere, bestens verdienende Heteros lieben Mykonos. Theo wird nicht verkaufen wollen.“

„Sie machen mich richtig neugierig. Als ich das letzte Mal auf dieser Insel war, bin ich nur einigen sonnenverbrannten Rucksacktouristen begegnet.“

„Das ist länger als dreißig Jahre her, oder?“

Er grinste. „Fünfunddreißig? Ich war fast noch ein Kind. Mein Vater und ich haben Verwandte be…“

„Oh, Sie haben Verwandte auf der Insel?“, unterbrach sie ihn.

„Nicht mehr. Sie sind längst tot. Mein Onkel war Fischer, er ist bei einem Sturm umgekommen. Wir sind zu seinem Begräbnis gefahren. Meine Tante hat sich zwei Jahre später erhängt. Bei ihrem Begräbnis waren wir nicht mehr, denn mein Vater ist zur gleichen Zeit an Lungenkrebs erkrankt und bald darauf ebenfalls gestorben.“

Ausnahmsweise sagt er einmal die Wahrheit, dachte Christina. Sie konnte sich sehr gut an all diese Tragödien erinnern.

Entsetzt starrte Laura ihn an.

„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht mit traurigen Familiengeschichten langweilen. Doch vielleicht können Sie nun besser begreifen, warum ich dieses Land verlassen habe …“

Und warum muss er jetzt wieder lügen, fragte sich Christina.

Als Mykonos in Sicht kam, wünschten Laura und Alexander der Alten eine gute Weiterreise und gingen hinaus an Deck.

Christina reagierte nicht. Sie hatte wieder die Augen geschlossen. Ihre Gedanken waren zu den schrecklichen Ereignissen in der Vergangenheit zurückgekehrt.

***

Ich habe kein schlechtes Leben auf Ikaria. Als ehemalige Volksschullehrerin kenne ich natürlich alle in meinem Dorf, habe sie alle unterrichtet. Trotzdem bin ich immer „die Fremde“ geblieben, die 1969 aus Athen auf diese von Gott vergessene Insel verbannt wurde. Mit einem Gefangenentransport und einer Kugel im Kopf. Abgefeuert aus dem Revolver eines rechtsradikalen Polizisten. Die Kugel hat zum Glück nur meine Stirn gestreift. Trotzdem gelte ich seit damals als nicht ganz richtig im Kopf. Zumindest behaupten das manche Inselbewohner. Die Delle an meinem Schädel sieht man bis heute. Ich versuchte nie, sie mit einem Pony oder Seitenscheitel zu kaschieren, bin stolz auf dieses Zeichen meines Widerstandes gegen die Faschisten, die ganz Griechenland von 1967 bis 1974 terrorisierten.

Der Doktor, der viele Jahre älter war als ich, galt ebenfalls als Außenseiter, obwohl er sich bereits in den Fünfzigerjahren als Arzt auf Ikaria niedergelassen hatte. Er lebte sehr zurückgezogen, war schwer krank. Kein Wunder, hatte er doch die Hölle von Makronissos, den „Teich von Siloah“, wie diese Insel des Schreckens ironisch genannt wurde, nur knapp überlebt. In den Teich von Siloah wurde das Wasser der Gihonquelle des Berges Zion geleitet, sie galt als heiliger Ort, weil dort angeblich Salomo zum König über ganz Israel gesalbt wurde.

Ich bin keine Jüdin, sondern Atheistin und Kommunistin. Atheist und ein Linker war auch der Doktor. Von 1946 bis 1949, während des griechischen Bürgerkriegs, war er gemeinsam mit dem berühmten griechischen Dichter Jannis Ritsos auf dieser Todesinsel in Verbannung. Eine karge Insel, zwölf Kilometer lang und zweieinhalb Kilometer breit. Nicht weit entfernt von Athen. Für die Gefangenen bedeutete sie das Ende der Welt.

Als 1967 das Militär unter Oberst Papadopoulos mit Hilfe der Amerikaner, vor allem des CIA, putschte, um einen Wahlsieg der linken und demokratischen Parteien zu verhindern, brach erneut eine Zeit des Terrors, der Folter und der Vernichtung an. Der Doktor wurde wieder auf diese felsige, wasserlose Insel verbannt, auf der die Sommer glühend heiß und die Winter stürmisch und saukalt sind. Bei seiner zweiten Gefangenschaft brachen ihm die Faschisten tatsächlich das Rückgrat. Mit einem schweren Wirbelsäulenschaden und auf einem Auge erblindet, schickten sie ihn halbtot zurück nach Ikaria. Jannis Ritsos, der ebenfalls zweimal auf Makronissos interniert und mehrmals gefoltert worden war, lebte bis zum Ende der Diktatur 1974 unter Hausarrest auf der Insel Samos.

Der Doktor überlebte auf Ikaria in den Wäldern bei Christos Raches. Erst nach der Befreiung bezog er wieder seine Villa in Evdilos. Ich hatte ihn in den Wäldern, wo auch ich die Nacht zum Tag gemacht hatte, kennengelernt. Nach dem Sturz der Obristen nahm er mich bei sich auf und verschaffte mir Arbeit als Lehrerin an der Dorfschule. Ich durfte bei ihm wohnen und führte ihm den Haushalt, pflegte ihn, so gut ich konnte. Er bewohnte das obere Stockwerk, ich das untere. Wir waren kein Liebespaar. Nicht nur, weil er zu alt für mich war, sondern auch, weil ich nach dem Tod meines geliebten Mannes keinen anderen mehr wollte.

Trotz allem, was man ihm angetan hatte, war der Doktor ein großer Menschenfreund und Tierliebhaber. Vor allem Katzen liebte er über alles. Ich mochte keine Katzen. Als Athenerin war ich nicht an diese wilden Tiere gewöhnt. An den stürmischen Winterabenden saßen der Doktor und ich gerne vor dem Kamin im Salon. Ein halbes Dutzend Katzen strich an diesen gemütlichen Abenden um unsere Beine. Er nahm die eine oder andere oft auf seinen Schoß und kraulte sie zärtlich. Wenn er nicht zu Hause war, verjagte ich die Biester meistens.

An jenen langen Abenden las ich ihm aus seinen Büchern vor. Wenn ich Gedichte von Jannis Ritsos rezitierte, leuchtete sein gesundes Auge auf. Manchmal erzählte er mir von der Tapferkeit dieses Dichters, der sich standhaft geweigert hatte, seine politische Gesinnung zu verleugnen und ein „guter“ Grieche zu werden, wie die Faschisten es von ihm verlangt hatten. Laut dem damaligen Innenminister Pattakos waren ja alle Kommunisten Bestien. So auch unser berühmter Komponist Mikis Theodorakis, der auch auf Makronissos interniert war und dem als Achtzehnjährigem dort von Folterknechten beide Beine gebrochen worden waren. Der Doktor hatte alle Schallplatten von Theodorakis, selbst die Filmmusik von „Alexis Sorbas“ und „Z“, obwohl er die Lieder und klassischen Kompositionen dieses international bekannten griechischen Widerstandskämpfers mehr schätzte. Als der Doktor Mitte der 1990er Jahre starb – er wurde trotz seiner vielen Leiden fast achtzig Jahre alt –, hinterließ er mir seine Villa mitsamt dem Inventar. Seither kümmere ich mich um die lästigen Katzen, besser gesagt, um ihre zahlreiche Nachkommenschaft.

Während ich in Gedanken in der Vergangenheit weilte, ließ ich das Paar, das eng nebeneinander an Deck stand, nicht aus den Augen. Die attraktive blonde Frau erinnerte mich an die freizügigen nordischen Schönheiten, die in den Siebzigerjahren unsere Männer verrückt gemacht hatten.

Als wir uns nach insgesamt viereinhalb Stunden Fahrt, mit zweieinhalbstündiger Verspätung wegen des Unglücks in Piräus, dem Hafen von Mykonos näherten, wurden wir von den sechs Windmühlen, die wie aufgefädelt auf einem Hügel oberhalb der Stadt thronten, schon aus weiter Ferne begrüßt.

Ich gesellte mich zu Alexandros und seiner neuen Bekannten an Deck.

Wellengrab

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