Читать книгу Wellengrab - Edith Kneifl - Страница 9
3.
Оглавление„Skata“, schimpfte Alexander, als er die Waffen seines Gegners einsammelte. Sorgsam wickelte er sie in seine Anzugjacke und begab sich auf die Suche nach den Waschräumen.
Die meisten Passagiere waren vollauf damit beschäftigt ihre Plätze zu finden. Dem Mann, der mit gesenktem Kopf an ihnen vorbeieilte, schenkten sie keinerlei Beachtung.
Auf der Herrentoilette hielt Alexander sein Gesicht unter den kalten Wasserstrahl, ließ das Wasser lange über sein lädiertes Kinn rinnen und wusch sich die Hände gründlich mit Seife.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er hinunter zum Gepäckwagen eilte. Bevor er die Glock samt Schalldämpfer und das Springmesser in seine Sporttasche stopfte, vergewisserte er sich, dass er nicht beobachtet wurde. Dann schlüpfte er in seine Anzugjacke und nahm schwer schnaufend die Treppe hinauf zum zweiten Oberdeck. Er war nicht in bester Form. Alle Knochen taten ihm weh.
Fast oben angekommen, warf er einen Blick auf das graublaue, schmutzige Hafenwasser. Von dem über Bord gefallenen Mann war nichts mehr zu sehen.
Seine Augen aufs Meer gerichtet, stolperte Alexander über die zahlreichen Plastiksäcke und Taschen einer alten Frau, die neben der Treppe saß.
„Ai sto diaolo!“, rief er, was auf Deutsch so viel wie „Zum Teufel!“ bedeutete. Man fluchte eben immer in seiner Muttersprache.
„Signomi“, flüsterte die Frau, die zusammengekrümmt auf der Vorderkante eines Liegestuhls hockte, erschrocken. Ihren Kopf hatte sie mit einem dünnen weißen Schal vermummt. Die unzähligen Krähenfüße um ihre müden Augen verrieten ihm, dass sie sehr alt war.
„Nein, ich muss mich entschuldigen. Darf ich Ihnen helfen?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, sammelte er ihre Einkäufe ein. Ein Pürierstab und eine moderne Espressomaschine, beides zum Glück in den Originalschachteln, waren nicht das Problem, er drückte sie ihr in die Hand. Als sich das Schiff ein wenig neigte, kullerten einige Orangen, ein Deoroller, diverse Duschbäder und Shampoos die Stiege hinunter. Die verdammten Orangen brachten Alexander zu Fall.
Wieder begann er herzhaft zu fluchen. Er hatte das Gefühl, dass ihn alle Passagiere anstarrten, und bildete sich ein, leises Gelächter zu vernehmen. Außer der alten Frau und einer hübschen blonden Touristin in einer weiten weißen Hose und einem dünnen, langärmeligen weißen Seidenhemd befand sich jedoch nur ein Liebespärchen, das mit sich selbst beschäftigt war, im Freien. Es war sehr windig am obersten Deck.
Die attraktive Touristin amüsierte sich wahrscheinlich über seine Ungeschicklichkeit, obwohl sie keine Miene verzog. Als sie ihm beim Einfangen der Orangen behilflich war, lächelte er sie dankbar an. Die Alte blieb seelenruhig auf ihrem unbequemen Stuhl sitzen und beobachtete die beiden. Erst als sie alle ihre Orangen und Badezusätze wieder in ihren Säcken verstaut hatte, murmelte sie einen Dank.
Alexander sah sich nach seiner Helferin um. Sie war verschwunden.
In diesem Augenblick brach fürchterliches Geschrei am unteren Deck aus.
„Mann über Bord!“, rief ein deutscher Passagier. Die alte Frau machte hastig drei Kreuzzeichen.
Die Schiffsmotoren wurden gestoppt. Alexander beugte sich über die Reling.
Ein menschliches Bein und ein Arm tanzten auf den Schaumkronen der Wellen im schmutzigen Hafenwasser. Als der Kopf eines Mannes zwischen den Gliedmaßen auf und ab zu hüpfen begann, sah es aus, als würde jemand Wasserball spielen.
Auf einmal stand die blonde Touristin neben ihm. Entsetzt starrte sie auf das grausige Spektakel. Die Schaumkronen auf den Wellen hatten sich rotbraun verfärbt. Ein Stück vom Rumpf und ein zweites Bein erschienen auf der Wasseroberfläche, tanzten mit den anderen Fleischstücken ein seltsames Ballett zu den Klängen des aufgewühlten Meeres.
Sie stöhnte laut auf und lief in die Bar.
Ein Rettungsboot wurde über Bord gehievt. Zwei Matrosen bereiteten dem schaurigen Wasserballett ein Ende, indem sie die einzelnen Körperteile aus der unruhigen See zu fischen versuchten. Der Kopf entwischte ihnen immer wieder. Sobald sie ihn mit ihren Paddeln berührten, hüpfte er auf der nächsten Welle ein Stückchen weiter.
Alexander musste sich sehr zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben. Obwohl er bereits unzählige Tote gesehen hatte, bereitete ihm der Anblick einer Leiche, vor allem der Anblick von Leichenteilen, nach wie vor großes Unbehagen. Der Glatzkopf war offenbar von der Schiffsschraube erwischt und zerkleinert worden. Das hatte er nicht beabsichtigt.
War ihm der junge Mann nachgeschickt worden, um auf ihn aufzupassen? Hätte er dafür sorgen sollen, dass Alexander die Angelegenheit im Sinne seiner Auftraggeber erledigte? Oder hatte es sich um den Killer einer Konkurrenzfirma gehandelt, der ihn hätte ausschalten sollen? Letzteres erschien ihm am wahrscheinlichsten.
Übelkeit, Schwindel, Durst, Hunger. Alexander fühlte sich elend. Der Druck in seinem Kopf wurde stärker. Verdammter Blutdruck! Trotz Tabletten bekam er ihn nicht in den Griff. Er atmete tief durch, inhalierte gierig die frische, leicht salzig schmeckende Meeresluft.
Die berüchtigte Gefangeneninsel in der Nähe von Athen, auf der sein Vater jahrelang interniert gewesen war, schälte sich in der Ferne aus dem Dunst und ließ sein Herz noch schneller schlagen. Unwillkürlich fielen ihm die Zeilen eines Gedichtes ein, das sein Vater ihm abends vorm Schlafengehen oft vorgelesen hatte.
„Bitter waren unsere Tage, sehr bitter
der Schatten einer Zypresse maß die ganze Welt
Meter für Meter
Jeder trug auf seinen Schultern an den Verstorbenen
ständig trugen wir den Tod auf unseren Schultern“
Alexander war 1968 auf die Welt gekommen. Kurz nach seiner Geburt war sein Vater verhaftet und auf die Gefängnisinsel Makronissos, gegenüber von Kap Sounion und Lavrio, gebracht worden. 1974 war er mit mehreren Knochenbrüchen, die von den Misshandlungen mit Eisenstangen und Bambusrohren herrührten, nach Hause zurückgekehrt. Er war Kommunist gewesen. Nach seiner Rückkehr war er ein gebrochener Mann.
Zum Glück wird heutzutage niemand mehr nach Makronissos verbannt, nicht einmal ein Mörder, dachte Alexander. Das Straflager gab es nicht mehr.
***
Am Pier trafen die ersten Polizeiautos ein. Die Fähre hatte wieder angelegt. Bald wimmelte es an Bord nur so von Polizisten.
Alle Passagiere wurden befragt. Auch Alexander wurde kurz einvernommen. Er zeigte seinen falschen Pass vor und sagte, dass er am Oberdeck gestanden war und auf Piräus geschaut hätte, als er die Leichenteile im Wasser entdeckt hatte. Die Bullen schienen sich mit seiner knappen Aussage zu begnügen, fragten jedenfalls nicht weiter.
Erleichtert suchte er sich seinen reservierten Platz: einen bequemen Liegesessel in der ersten Klasse. Bevor er sich niederließ, hielt er Ausschau nach der blonden Touristin. Da er sie nirgends entdeckte, widmete er sich To Vima. Diese linksliberale Zeitung hatte er vor dreißig Jahren gerne gelesen. Er vertiefte sich in einen Artikel über die Tragödie der griechischen Fischer auf Fourni. Der Artikel lenkte ihn von dem Unfall ab. In seinen Augen war es ein Unfall gewesen, er hatte den Mann nicht töten wollen.