Читать книгу Wellengrab - Edith Kneifl - Страница 7
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ОглавлениеAm Flughafen Venizelos suchte Alexander, nachdem er den Zoll anstandslos passiert hatte, die Herrentoilette in der Ankunftshalle auf. Ein dunkelhaariger Mann stand vor den Waschbecken, nickte ihm zu und entfernte sich rasch. Seine Sporttasche ließ er stehen.
Alexander schnappte sich die schwere Tasche, sperrte sich damit in einer Toilette ein. Er nahm ein paar Sachen heraus und legte sie in seinen Koffer.
Schnellen Schrittes ging er mit beiden Gepäckstücken zum Taxistand.
„Nach Piräus.“
Der Verkehr war wesentlich dichter als vor dreißig Jahren. Der Taxifahrer fluchte permanent. All die Hektik und Huperei erinnerten Alexander an seine Zeit in Buenos Aires. Lächelnd lehnte er sich zurück und ließ seine Blicke über die geschäftige Hafenstadt schweifen.
Baustellen, nichts als Baustellen zwischen hässlichen Mietskasernen und neuerrichteten Glaspalästen. Gestank nach Teer und Abgasen beherrschte die Luft. Die nackten, sonnenverbrannten Oberkörper der Bauarbeiter glänzten vom Schweiß. Junkies latschten mit ihren verlausten Kötern über die frisch asphaltierte Straße, ärmlich gekleidete Frauen mit prallen Plastiksäcken wichen ihnen ängstlich aus. Die Straßencafés waren voll alter Männer, deren arthritische Finger so schnell über ihre Kombolois glitten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht, als sich auf diese Art selbst zu befriedigen. Kräftige Burschen mit breiten Schultern und kurzen Beinen lehnten an ihren Mopeds – rauchend, trinkend, lachend, aggressiv in ihrer Gestik, jederzeit bereit, das Lachen einzustellen und zuzuschlagen. Die Augen der jungen Männer, die vor den Cafés herumlungerten, waren trüb. Schwermut und Hoffnungslosigkeit lagen in ihren Blicken.
„Da ist jemand hinter uns“, sagte der Taxifahrer. „Dieser weiße BMW verfolgt uns, seit wir den Flughafen verlassen haben.“
Alexander drehte sich um. Ein SUV klebte an der Stoßstange des Taxis. „Schneller!“, befahl er dem Fahrer.
„Gegen den habe ich keine Chance.“ Dennoch stieg er aufs Gaspedal und bog scharf links ab. „Wenn es Sie nicht stört, mache ich einen Umweg. Mal sehen, ob er uns weiter folgt.“
Tatsächlich bremste sich der BMW nach der Abbiegung ein, setzte zurück und fuhr hinter ihnen her durch ein Villenviertel.
Sie kamen vorbei an ehemals prächtigen Häusern, an denen der Verputz abbröckelte, und an verwahrlosten Parkanlagen, in denen seit langem nichts mehr blühte. Als sie auf eine von sterbenden Palmen umsäumte, schmutzige Straße mit billigen Geschäften, schummrigen Bars und heruntergekommenen Cafés gelangten, kannte Alexander sich wieder aus. Piräus hatte sich nicht allzu sehr verändert.
In der Bucht lagen dutzende Containerschiffe und riesige Kreuzfahrtschiffe vor Anker. Der Hafen schien jedoch inzwischen auch ein Eldorado für Segler und Wassersportler geworden zu sein.
Alexander streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Der BMW war verschwunden. Beruhigt ließ er seine Blicke über die unzähligen Segelboote schweifen.
„Die Marina ist neu“, stellte er fest.
„Neu würde ich nicht sagen. Seit den Olympischen Spielen 2004 gibt es in Piräus drei supermoderne Yachthäfen.“
Beim Anblick all dieser teils sportlich-eleganten, teils monströsen Yachten verspürte Alexander ein gewisses Unbehagen. Seinem Taxifahrer schien es ähnlich zu gehen. „Verdammte Steuerhinterzieher“, schimpfte er.
Geduldig ließ Alexander die Hasstiraden gegen die griechischen Multimillionäre, die keine Steuern zahlten und ihr Vermögen rechtzeitig ins Ausland geschafft hatten, über sich ergehen. „Verantwortlich für die Krise sind aber vor allem die Deutschen. Der Schäuble und die Merkel! Dabei schulden die uns nach wie vor die Entschädigungszahlungen vom Zweiten Weltkrieg …“
Alexander hatte in Südamerika das griechische Fiasko aufmerksam verfolgt. Seit er in Europa war, hatte er sich noch intensiver mit der massiven Schuldenkrise und der Verarmung seines Heimatlandes befasst. Aufmerksam hörte er sich die Verschwörungstheorien seines Fahrers an.
„Da ist er wieder“, unterbrach dieser plötzlich seine Schimpferei.
Erschrocken drehte Alexander sich um. Der weiße BMW war knapp hinter ihnen. Am Steuer saß ein glatzköpfiger junger Mann.
Alexander nahm die Sporttasche auf seinen Schoß. Vergewisserte sich, dass sein Fahrer nicht gerade in den Rückspiegel sah, holte einen Revolver heraus und steckte ihn hinten in seinen Hosenbund. In diesem Moment bremste sich der Taxifahrer einige Meter vor dem Eingang zu den Anlegestellen der Fähren ein.
„Passen Sie auf sich auf!“ Er deutete auf den SUV, der ihnen bei dem abrupten Bremsmanöver fast ins Heck geknallt wäre und jetzt langsam an ihnen vorbeifuhr.
Alexander gab dem guten Mann ein großzügiges Trinkgeld. Er hoffte, es würde seine Laune bessern.
***
Hitze, Lärm, Staub und Dreck empfingen Alexander im größten Passagierhafen Europas. Hinter ihm befanden sich Sandwichbars und kleine Cafés. Vor ihm hievten andere Taxifahrer die Koffer von Reisenden aus ihren Wagen. Über ihnen flatterten dutzende Möwen kreischend herum, immer auf der Suche nach einer fetten Beute. Hunderte Mopeds drängelten sich zwischen der Autoschlange und den stinkenden Bussen durch.
Die üblichen Großstadtgerüche drangen in seine empfindliche Nase, eine Mischung aus Abgasen, Frittierfett, Bier, Schweiß und Katzenpisse. Die Gehsteige waren voller Zigarettenkippen, Plastikflaschen, gebrauchter Kondome und Hundescheiße. Im Rinnstein schwamm, was in den wenigen überquellenden Papierkörben keinen Platz mehr gefunden hatte.
Alexander atmete tief ein, füllte seine Lungen mit diesem widerwärtigen Gemisch von Gerüchen.
Platsch!
Leise vor sich hin fluchend bemühte er sich, mit einem Papiertaschentuch die Möwenscheiße vom Ärmel seiner Anzugjacke zu entfernen. Er machte alles schlimmer. Der hässliche gelbliche Fleck nahm bereits das doppelte Ausmaß an.
Verärgert ging er weiter. Bevor er den Pier erreichte, sah er sich noch einmal um. Der weiße BMW stand jetzt in der Autoschlange vor der Fähre nach Mykonos. Reiner Zufall? Er glaubte nicht an Zufälle, beschloss, den Glatzkopf im Auge zu behalten.
Am Pier war es überraschend sauber. Nachdem Alexander sich ein Ticket im Büro von Blue Star Ferries gekauft hatte, besorgte er sich eine Pita, eine Flasche Mineralwasser und ein Päckchen Karelia an einem Kiosk. Zwar hatte er sich das Rauchen abgewöhnt, doch seit er griechischen Boden betreten hatte, sehnte er sich nach einer Zigarette.
Er leerte die Hälfte der Wasserflasche in einem Zug. Mit dem Rest reinigte er seine Jacke. Die Mineralien schienen der Möwenscheiße nicht gut zu bekommen.
Erleichtert zündete er sich eine an. Nach den ersten beiden Zügen wurde ihm schwindlig. Er wollte die Karelia gleich wieder ausdämpfen, überlegte es sich anders und nahm einen Bissen von der fetten Pita, bevor er sie in einen Mistkübel warf. Dann rauchte er seine Zigarette zu Ende.
Mit jedem Zug fühlte er sich unbeschwerter. Wie hatte er in den letzten Jahren bloß auf diesen Genuss verzichten können?
Versonnen sah er dem Rauch nach, der sich im Dunst des frühsommerlichen Himmels verflüchtigte. Erinnerungen an sein Stammlokal in Buenos Aires tauchten auf. In dieser Bar hatte er die traurigsten Nächte verbracht, eingehüllt in die Bitterkeit des Alkohols und den Gestank des Zigarettenrauchs. Mit jedem weiteren Zug und mit jedem Schluck Schnaps war ihm sein Elend erträglicher erschienen. Nächtelang hatte er dem Wehklagen des Bandoneons gelauscht und sich in der Einsamkeit verloren.