Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 11

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Inhaltsverzeichnis

„Und ich sage Ihnen, irgend etwas ist mit dem Kinde vorgegangen! Und wenn sie es mir zehnmal in’s Gesicht hineinleugnet, und wenn Sie noch so spöttisch die Achseln zucken, ich bleibe dabei!“ Mit diesem Satze, augenscheinlich dem Schluß einer längeren Rede, setzte sich Fräulein Reich nieder, warf dem ihr gegenübersitzenden Günther einen herausfordernden Blick zu und nahm ihre Handarbeit mit einem solchen Eifer wieder auf, als gelte es, die mit Sprechen verlorene Zeit im Sturm wieder einzubringen.

Günther sah in der That etwas spöttisch drein, und er zuckte auch die Achseln, als er gleichgültig erwiderte: „Aber, bestes Fräulein, wozu die lange Rede und dies Echauffement, um die einfache Thatsache festzustellen, daß Lucie endlich anfängt vernünftig zu werden.“

„Vernünftig?“ Jetzt war die Reihe an Franziska die Achseln zu zucken. „Unglücklich ist sie! Seit dem Tage, wo sie mit verweinten Augen aus dem Walde zurückkam, ist es vorbei mit dem alten Uebermuth. Es ist da irgend etwas passirt, ich wette meinen Kopf, daß etwas passirt ist, aber ich kann es nicht herausbekommen. Die Plaudertasche, die sonst nicht zehn Minuten lang über die geringste Kleinigkeit schweigt, setzt all meinem Fragen und Forschen eine so hartnäckige Verschlossenheit entgegen, wie ich sie ihr nun und nimmermehr zugetraut hätte.“

Der spöttische Ausdruck verschwand aus Günther’s Zügen und machte dem der Besorgniß Platz. „Wenn nur der Graf Rhaneck nicht irgendwie dahinter steckt!“ sagte er ernster.

„Warum nicht gar! Sie macht sich nicht so viel aus ihm!“ Franziska schnellte mit den Fingern.

„Ich fand im Gegentheil, daß sie sich an jenem Festabend nur allzuviel aus ihm machte, und auch mein Verbot, so streng ich es aussprach, scheint nicht allzutief gegangen zu sein, sie trotzte mir ja ganz offen am nächsten Tage.“

„Wenn ich Ihnen aber sage, daß sie jetzt nichts mehr nach dem Grafen fragt,“ beharrte Franziska, „daß sie ihm geflissentlich ausweicht! An ihm liegt die Schuld wahrhaftig nicht, er streift beständig mit Flinte und Jagdtasche auf dem Gebiet von Dobra herum, und taucht bald hier, bald dort auf. Zum Glück wissen wir jetzt, welche Jagd dem jungen Herrn belieben würde, und nehmen unsere Maßregeln darnach. Gnade Gott dem Patron, wenn er mir einmal in die Hände fällt, ich wollte ihn in’s Gebet nehmen, daß ihm die Lust zum Wiederkommen ein für alle Mal vergehen sollte! Aber er hütet sich wohlweislich, mir nahe zu kommen, kaum daß ich ihn einmal von fern sehe!“

„Sind Sie gewiß, daß Lucie ihn nicht dennoch gesprochen hat?“

Franziska hob mit großem Selbstgefühl den Kopf. „Herr Günther, Sie haben Ihre Schwester meinen Händen anvertraut, und da dächte ich, wären solche Fragen wohl überflüssig. Lucie ist seit jenem Tage, wo sie ohne Erlaubniß nach dem Walde lief, nicht von meiner Seite gekommen, ich bewache sie seit der Eröffnung, die Sie mir machten, wie – wie –“

„Wie ein Cerberus!“ ergänzte Günther.

„Das ist ja eine höchst liebenswürdige Bezeichnung meiner Persönlichkeit!“ rief das Fräulein, sich verletzt erhebend. „Also in der Eigenschaft gelte ich Ihnen bei Ihrer Schwester?“

„Mein Gott, es sollte in diesem Falle ein Compliment sein. – Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich fürchte, noch weitere derartige Complimente zu bekommen, und überdies ist Lucie allein im Garten, ich muß wohl meinen Posten als Cerberus wieder bei ihr einnehmen.“

„Aber bestes Fräulein!“

„Adieu!“

„Franziska!“

Die Gerufene blieb stehen, aber sie wendete grollend den Kopf zur Seite, Bernhard stand auf und trat zu ihr.

„Sind Sie mir böse?“

„Ja!“ erwiderte Franziska sehr energisch, aber anstatt hinauszugehen, kehrte sie um und nahm ihren Platz am Tische wieder ein. Ruhig, als wäre nichts vorgefallen, setzte sich Günther ihr, wie vorhin, gegenüber.

„Es ist doch merkwürdig,“ begann er nach einer Pause phlegmatisch, „daß wir nicht fünf Minuten lang mit einander sprechen können, ohne uns zu zanken.“

„Das ist gar nicht merkwürdig,“ erklärte Franziska noch immer gereizt, „es ist mit Ihnen eben nicht fünf Minuten lang auszukommen!“

„Ich dächte doch, ich käme mit allen Anderen aus,“ meinte Bernhard noch immer mit demselben Phlegma.

„Weil sich alle Anderen von Ihnen maltraitiren lassen! Ich bin nahezu die Einzige, die Ihnen bisweilen noch Opposition macht!“

Der Ton des Fräuleins verrieth deutlich, daß sie den „Cerberus“ noch nicht verwunden hatte; trotzdem fand es Günther durchaus nicht angezeigt, sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen. Sie sind,“ meinte er trocken, „noch gerade so ausfallend wie daheim in unserem Dorfe.“

„Und Sie gerade so rücksichtslos wie damals!“

„Möglich! Wir waren immer in Hader und Streit mit einander, das Eigenthümliche war nur, daß wir trotzdem nicht von einander bleiben konnten.“

„Wir wollten ja wohl von Lucie sprechen!“ unterbrach ihn Franziska.

Bernhard runzelte leicht die Stirn. „Sie haben eine merkwürdige Art, das Gespräch immer dann abzubrechen, wenn es anfängt, interessant zu werden.“

„Was für Sie interessant ist, ist es darum noch nicht für mich.“

„Weshalb?“ Er sah sie fest an, Franziska bekämpfte eine gewisse Verlegenheit, aber sie überwand sie rasch.

„Ich finde es begreiflich, daß Sie gern auf die Jugendzeit zurückblicken“, sagte sie ausweichend. „Sie sind hoch genug gestiegen für einen einfachen Förstersohn. Ich – nun, ich habe es mir auch redlich sauer werden lassen im Leben, und es dennoch nicht weiter gebracht, als zur Gouvernante Ihrer Schwester. Ich vergesse meine Stellung sicher nicht, Herr Günther, ich wünschte nur manchmal, daß – auch Sie sie nicht vergäßen.“

Es lag ein eigenthümlich herber Stolz in der offenen Mahnung, und jetzt begegnete ihr Blick so fest und ernst dem seinigen, als erwarte sie, er werde das Auge niederschlagen, doch dies geschah nicht. Günther erhob sich plötzlich und trat an ihre Seite.

„Das hätten Sie mir nicht sagen sollen, Franziska!“ sagte er ruhig, „und Sie brauchen mir auch meine Erfolge nicht vorzuwerfen, ich habe es mir gleichfalls ‚sauer genug im Leben werden lassen.‘ Sie wissen, daß mich die zweite Ehe meines Vaters aus dem Hause trieb. Er fand in der neuen Gattin nicht das gehoffte Glück, und ich nicht die Mutter in ihr, auch unser geringes Vermögen ging dabei zu Grunde; als die Eltern starben, da mußte ich mit meinen ersten mühsam erworbenen Ersparnissen die verwaiste kleine Schwester erhalten. Die Welt freilich sieht nur den Emporkömmling, sieht nur die Höhe, auf welcher der ehemalige Förstersohn steht; die zwanzig Jahre, die dazwischen liegen, Jahre voll Sorge und Arbeit, voll endlosen Mühens und rastlosen Ringens, die sieht sie nicht. Mir hat das Glück wahrlich nichts mühelos in den Schooß geworfen, Schritt für Schritt habe ich mir meinen Weg zu Besitz und Reichthum erkämpfen müssen, ein halbes Menschenalter habe ich dazu gebraucht – wollen Sie es mir verargen, wenn ich da gern wieder an die Kinderzeit anknüpfe? Aber es scheint, ich darf bei Ihnen diesen Punkt nicht berühren. Sie fliehen ihn ja förmlich.“

Franziska neigte etwas betroffen den Kopf. „Sie haben Recht, Herr Günther, aber –“

„‚Herr Günther!‘ Das heißt mit anderen Worten, ich soll gleichfalls auf das vertrauliche ‚Franziska‘ und damit auch auf die Jugenderinnerungen verzichten?“

„Ich glaube, es ist besser, wir thun das beiderseitig!“ sagte Franziska wie beklommen, indem sie rasch an’s Fenster trat und angelegentlich in den Garten hinausblickte.

Ohne ein Wort zu sagen, wendete sich Günther zu seinem Platze zurück und nahm die Zeitungen wieder auf, in denen er vorhin gelesen. Es lag eine Wolke auf seiner Stirn, obgleich die ruhigen Züge sich nicht veränderten; zum Glück machte Luciens Eintritt dem nun folgenden unbehaglichen Schweigen ein Ende. Sie kam, noch ganz erhitzt vom Spiel mit den Kindern, warf mit ihrem ganzen früheren Ungestüm den Hut auf den Tisch, sich selber in einen Lehnstuhl, und vergrub den Kopf tief in die Polster desselben.

„Nun, hast Du endlich ausgetollt?“ fragte Bernhard, von seiner Zeitung aufsehend, dabei aber glitt ein forschender Blick über das Gesicht des jungen Mädchens.

„O, ich that es nur den Kindern zu Gefallen!“ – in Luciens Stimme lag etwas wie tiefe Müdigkeit, „und überdies wußte ich, daß Du hier eine wichtige Conferenz mit Fräulein Reich hieltest, bei der ich wahrscheinlich doch nicht geduldet worden wäre.“

„Möglich, da Du der alleinige Gegenstand der Conferenz warst.“

„Ich?“

„Aber Herr Günther!“ unterbrach ihn Franziska, indem sie ihren Platz am Fenster aufgab und sich gleichfalls dem Tische näherte.

„Ich sehe nicht ein, Fräulein Reich,“ er legte einen unmerklichen, aber ihr doch verständlichen Nachdruck auf die Anrede, „weshalb wir uns noch länger mit Vermuthungen und Befürchtungen abgeben wollen, da wir in Lucie doch jedenfalls die rechte Quelle vor uns haben. Mag sie immerhin eigensinnig sein, eine Unwahrheit ist noch nie über ihre Lippen gekommen, und zur Lüge halte ich sie unter keinen Umständen fähig. Komm zu mir, Lucie!“

Die Augen des jungen Mädchens gingen verwundert und etwas mißtrauisch von der Erzieherin zum Bruder hinüber, aber sie folgte sofort dessen Aufforderung und kam an seine Seite.

„Hast Du seit jenem Abende bei Baron Brankow den Grafen Rhaneck gesprochen?“

Bernhard überstürzte Lucie ganz plötzlich und ohne alle Vorbereitung mit der Frage. Lucie erröthete tief und glühend, aber der Bruder hatte Recht, sie war zu einer Lüge nicht fähig.

„Nur einmal, am Tage darauf!“ sagte sie leise.

„An jenem Tage also, wo Du allein im Walde warst?“ Günther schickte einen bedeutsamen Blick zu Franziska hinüber, die sich ärgerlich abwandte, denn Luciens Benehmen stimmte freilich verzweifelt wenig zu ihrer Behauptung, der Graf sei dem jungen Mädchen gleichgültig.

„Hat er Dir wieder von Liebe gesprochen?“ fuhr Bernhard fort.

„Nein!“ Es war augenscheinlich, daß das Examen Lucie bereits zu peinigen begann und daß sie es nicht lange aushalten werde. „Wir sprachen überhaupt nur wenige Worte zusammen. Er bot mir seine Begleitung an.“

„Die Du annahmst?“

Die Gluth floß noch heißer als vorhin über Luciens Wangen. „Ich bin nicht mit ihm gegangen!“ sagte sie kurz mit fliegendem Athem, „er blieb auf der Bergwiese zurück – und nun, Bernhard, frage mich nichts mehr, Du siehst, Dein Verbot ist befolgt worden, ich antworte jetzt keine Silbe mehr!“

Sie preßte trotzig die Lippen zusammen, Bernhard sah wohl, daß ihr kein Wort mehr zu entreißen war, und er kannte seine eigensinnige Schwester zu gut, um hier Strenge anzuwenden.

„Es ist gut!“ sagte er ernst. „Mir genügt es, daß der Graf Dich nicht begleitete und daß Du ihn seitdem nicht wieder gesprochen hast. Letzteres ist doch nicht der Fall gewesen?“

„Nein!“

„Nun höre einer das Kind an!“ sagte Franziska mit unverhehltem Erstaunen. „Wie kommen Sie auf einmal zu diesem energischen Nein, Lucie? Man glaubt Ihren Bruder zu hören!“

Das junge Mädchen wandte sich ab, aber die eben noch so energisch zusammengepreßten Lippen bebten leise, es war unverkennbar, daß es sie unendlich quälte, jene Begegnung von Anderen auch nur berührt zu sehen, und nun goß Franziska mit dem besten Willen von der Welt auch noch Oel in’s Feuer.

„Aber weshalb wollen Sie uns durchaus nicht sagen, was zwischen Ihnen und dem Grafen –“

„O mein Gott, so quälen Sie mich doch nicht immer und ewig mit dem Grafen!“ brach Lucie mit einer so leidenschaftlichen Heftigkeit aus, daß Franziska, ganz die Unart der Antwort übersehend, erschreckt auf sie zueilte.

„Dacht’ ich’s doch, da sind die Thränen wieder!“ sagte sie halblaut und wollte das junge Mädchen in ihre Arme nehmen. Aber Lucie schien wenig empfänglich für diese Theilnahme, sie machte sich hastig los, die Thränen versiechten plötzlich und der Mund zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich weine ja gar nicht, durchaus nicht! Aber ich muß jetzt hinüber, mich umzukleiden, da Bernhard in einer halben Stunde mit mir nach C. fahren will. Er zuckt immer so spöttisch die Achseln, wenn ich nicht pünktlich bin; diesmal soll er gewiß nicht auf mich warten!“

Sie war aus dem Zimmer, kopfschüttelnd blickte ihr Franziska nach.

„Jetzt wirft sie sich wieder drüben auf’s Sopha und weint! Wollen Sie mir nun endlich glauben, daß das Kind unglücklich ist, ohne es sich und uns eingestehen zu wollen?“

Günther war aufgestanden und ging gedankenvoll im Zimmer auf und nieder. „Sie haben Recht! Ich glaubte nicht, daß die Sache so ernst sei! Ihr Interesse für den Grafen scheint mehr zu sein, als eine flüchtige Regung der Eitelkeit, und doch wies sie seine Begleitung zurück! Ich hätte nie geglaubt, daß meine Warnung so tief bei ihr gehen würde.“

„Ich auch nicht!“ sagte Franziska sehr aufrichtig. „Lucie pflegt gewöhnlich das Gegentheil von dem zu thun, was man ihr anempfiehlt.“

„Gleichviel! Ich hätte am liebsten jede Berührung mit den Rhanecks vermieden, indessen der Sache muß ein Ende gemacht werden, ich sehe es jetzt ein! Ich werde mir schriftlich jede fernere Annäherung des Grafen an Dobra und an meine Schwester verbitten. Sein Benehmen auf dem Balle giebt mir das Recht dazu und raubt ihm den Vorwand, sein fortwährendes Erscheinen hier für eine Zufälligkeit auszugeben.“

„Thun Sie das!“ stimmte Franziska eifrig bei. „Ich wollte, ich könnte Ihnen den Brief dictiren, der Graf sollte da etwas zu lesen bekommen, wie es ihm wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nicht geboten worden ist!“

Trotz seiner umwölkten Stirn flog dennoch ein Lächeln über Günther’s Gesicht. „Ich glaube, es ist doch besser, ich schreibe diesmal ohne Dictat. Fürchten Sie übrigens nicht, daß der Brief zu zahm ausfällt, man kann sehr ruhig und sehr vernichtend sein, und ich habe jetzt keinen Grund mehr, den Grafen zu schonen, seit ich Luciens sicher bin. Sie sorgen doch, daß Lucie zur bestimmten Stunde fertig ist? Die Zerstreuung der Fahrt wird ihr wohl thun.“

Franziska nickte blos, als aber Günther das Zimmer verließ, fuhr sie wie aus tiefen Gedanken auf, schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, daß die Blumenvasen klirrten, und sagte im Tone unumstößlicher Ueberzeugung:

„Und sie macht sich doch nichts aus ihm!“ –

Eine halbe Stunde darauf saß Lucie im Wagen an der Seite des Bruders, der öfter Geschäfte in C. hatte und, da der Weg dorthin durch die reizendste Gebirgslandschaft führte, seine Schwester bisweilen mitzunehmen pflegte. Nur an einer einzigen Stelle war dieser Weg unbequem und beschwerlich; er stieg hier in steilen Windungen bis zur Höhe des Berges empor, an dessen jenseitigem Fuße die Straße sich theilte, um rechts in die Ebene nach C., links hinein in’s Hochgebirge zu führen. Die Pferde, obgleich jung und kräftig, keuchten und dampften doch von der Anstrengung. Bernhard ließ halten und stieg mit Lucie aus; die Thiere hatten genug zu thun, den leeren Wagen bis zur Höhe zu bringen, während dessen Insassen zu Fuße folgten. Lucie, der das Steigen nicht die geringste Mühe verursachte, war leichtfüßig vorauf; Bernhard folgte langsamer; plötzlich blieb das junge Mädchen stehen, ohne einen Schritt weiter vorwärts zu thun.

„Was hast Du?“ fragte Günther, als er sie erreichte.

„O, nichts! Ich meine nur, wir könnten etwas langsamer gehen.“ Sie hing sich an den Arm des Bruders und drängte sich dicht an seine Seite; dieser achtete nicht darauf. Er bemerkte jetzt in der Windung des Weges einen zweiten Wagen; es war eine geschlossene Stiftskutsche, deren Insasse, ein Benedictiner, gleichfalls ausgestiegen war und zu Fuß nebenherging.

Bernhard liebte es sonst durchaus nicht, mit den nachbarlichen Bewohnern des Stiftes irgendwie in Berührung zu kommen. Diesmal jedoch schien er eine Ausnahme machen zu wollen; er hatte kaum einen raschen Blick auf den Geistlichen geworfen, als er auch seine Schritte beschleunigte. Lucie klammerte sich fester an seinen Arm.

„So eile doch nicht so, Bernhard! Laß uns lieber zurückbleiben!“

Günther sah sie befremdet an. „Weshalb? Es ist Pater Benedict. Ja so, Du kennst ihn nicht! Du hast ihn schwerlich an dem Abende bei Brankow bemerkt.“

„Doch!“ sagte das junge Mädchen leise mit halb erstickter Stimme. „Ich – ich fürchte mich so vor ihm, vor seinen Augen – laß uns lieber zurückbleiben.“

„Sei nicht kindisch, Lucie!“ unterbrach sie Bernhard ungeduldig, indem er sie ohne Weiteres mit sich fortzog. In einigen Minuten hatten sie den jungen Geistlichen erreicht, den Günther ganz gegen seine Gewohnheit diesmal zuerst grüßte.

„Sie wollen es Ihren Pferden auch leichter machen, Hochwürden!“ begann er in unbefangenem Tone. „Der Weg ist freilich steil genug und die Thiere haben hinreichend an dem leeren Wagen zu schleppen, man muß ihnen schon einmal das Opfer bringen.“

Benedict hatte sich beim Nähern der Schritte umgewandt und war dann regungslos wie eine Bildsäule stehen geblieben. Vielleicht war es die Anstrengung des Steigens, die ihm den Athem versagte und ihm das Blut so glühend in’s Antlitz trieb, und doch widersprachen dem seine Worte, als er nach stummem Gegengruß erwiderte:

„Ich meinestheils gehe sehr gern zu Fuße.“

Das könnte ich von mir nun gerade nicht behaupten!“ meinte Bernhard. „Aber wir sind nun einmal im Gebirge, da geht es nicht immer so bequem wie daheim auf unseren ebenen Chausseen.“

Er schritt langsam vorwärts, während sich der junge Priester, wie es schien halb gezwungen, ihm anschloß; es wäre auch gar zu auffällig gewesen, zurückzubleiben, während sein Wagen schon weit voraus war. Lucie hing stumm am Arme des Bruders, ohne sich mit einer Silbe an der Unterhaltung zu beteiligen; Benedict sah unverwandt vor sich hin, auch nicht ein einziger Blick fiel nach jener Seite hinüber.

Bernhard fiel es nicht ein, seine Schwester zu beobachten; dagegen grub sich sein Auge wieder in die Züge des jungen Mönches, genau so forschend tief wie an jenem Abende, als er ihn zum ersten Male erblickte.

„Ich weiß nicht, Hochwürden, ob Sie sich meiner erinnern!“ begann er von Neuem. „Wir sahen uns beim Baron Brankow, freilich ohne einander vorgestellt zu werden.“

„Doch! Ich kenne den Gutsherrn von Dobra!“ gab Benedict leise zur Antwort.

Günther verneigte sich leicht. „Wir sind auf einer Fahrt nach C. begriffen,“ warf er hin. „Sie scheinen gleichfalls eine Reise vorzuhaben.“

„Ich gehe in’s Gebirge, nach N.“

„So hoch hinauf? Da haben Sie einen weiten und beschwerlichen Weg vor sich. Jedenfalls wollen Sie dem dortigen Pfarrer einen Besuch machen?“

„Nein. Ich gehe, ihm Caplansdienste zu leisten, und werde wohl Monate, vielleicht den ganzen Winter hindurch dort bleiben.“

„Das ist in der That kein beneidenswerther Posten!“ sagte Bernhard mit unverkennbarer Theilnahme. „N. liegt im unwirthlichsten, unzugänglichsten Theile des Gebirges; es gehört ein wahrer. Heroismus zu dem Gedanken, den Winter dort aushalten zu wollen.“

Die Lippen des jungen Mönches zuckten; er hatte es trotz des abgewandten Blickes doch gesehen, wie ein tiefer erleichternder Athemzug Luciens Brust hob, als er von seiner Entfernung sprach.

„Es giebt Feinde, die schlimmer zu überwinden sind als Eisnächte und Schneestürme!“ erwiderte er kalt.

Bernhard sah überrascht auf. Sollten die Worte salbungsvoll sein? Dann hätten sie nicht mit einer so unendlichen Bitterkeit gesprochen werden müssen.

„Verzeihen Sie, Hochwürden, wenn ich eine etwas indiscrete Frage an Sie richte,“ sagte er rasch. „Sie sind in B. geboren?“

Benedict blickte ihn befremdet an. „Nein! Ich stamme aus Süddeutschland.“

„So? Dann war meine Voraussetzung eine irrthümliche. Mir fiel eine gewisse Aehnlichkeit auf; ich glaubte, Ihre Mutter gekannt zu haben.“

„Schwerlich! Sie starb schon während meiner Knabenzeit, ebenso wie der Vater, auf den Gütern des Grafen Rhaneck.“

„Ich sehe meinen Irrthum ein. Verzeihen Sie die Frage!“

Benedict machte eine ablehnende Bewegung. „O, ich bitte!“

„Er weiß also nichts!“ murmelte Bernhard. „Sie haben ihn wirklich in vollster Unkenntniß gelassen!“

Sie schritten schweigend weiter, Benedict schien es schon halb zu bereuen, daß er sich so weit aus seiner Verschlossenheit hatte treiben lassen; übrigens lag jetzt bereits der Gipfel des Berges vor ihnen, wo die Wagen sie erwarteten. Günther’s Kutscher legte soeben den Hemmschuh ein, aber er benahm sich ungeschickt dabei, die Kette gerieth zwischen die Räder und wurde von ihnen erfaßt und zerrissen, als die Pferde unversehens anzogen; der Gutsherr, den Vorfall schon von fern bemerkend, runzelte die Stirn.

„Der Joseph ist heute wieder einmal die Ungeschicklichkeit in Person! Ich muß wohl selbst nachsehen, sonst kommen wir kopfüber den Berg hinunter!“ Er erstieg rasch vollends die Höhe, seine Schwester und Pater Benedict allein lassend.

Lucie war an dem Orte stehen geblieben, wo der Bruder ihren Arm losgelassen, Benedict schien ihm folgen zu wollen; aber auch er verharrte jetzt wie gefesselt auf seinem Platze, einige Secunden lang herrschte ein beängstigendes Schweigen, das wie mit Bergeswucht auf den Beiden lastete.

„Gehen Sie weit fort?“ begann Lucie endlich, die dies stumme Gegenüberstehen nicht mehr zu ertragen vermochte und, um es nur zu brechen, nach der ersten besten Frage griff, die ihr gerade beifiel.

Benedict hob langsam das Haupt. „Weit genug für Ihre Wünsche, mein Fräulein! Sie fürchten wohl, daß der unbequeme Warner wieder in Ihren Weg treten könnte? Beruhigen Sie sich, ein einziges Mal habe ich das gethan, zum zweiten Male wäre es sicher nicht geschehen.“

Ich – ich meinte das nicht in der Art,“ sagte Lucie, zaghaft zu Boden blickend.

„Nicht? Und doch athmeten Sie mit einer so unendlichen Erleichterung auf, als Sie von meiner Entfernung hörten?“

Das junge Mädchen erröthete. Ja freilich, sie hatte aufgeathmet bei der Nachricht, denn mit seiner Entfernung mußte sich doch der Bann lösen, den dieser Mann die ganze Zeit über auf sie ausgeübt, selbst wenn er nicht an ihrer Seite war. Franziska hatte Recht, sie hatte oft genug zornig und – ohnmächtig dagegen gekämpft; wie ohnmächtig, das fühlte sie erst wieder in diesem Augenblick, und dennoch war etwas von dem alten Trotz in ihrem Tone, als sie jetzt heftig fragte:

„Wie können Sie das wissen? Sie haben mich ja nicht ein einziges Mal angesehen während des ganzen Weges!“

Benedict sah sie auch jetzt nicht an, aber die fliegende Röthe kam und ging in seinem Antlitz, als er gepreßt antwortete:

„Wozu. Ich weiß es ja ohnedies, daß Sie mich fürchten – und hassen!“

Es war derselbe Vorwurf, den Lucie ihm damals im Walde entgegengeschleudert, und sie ließ ihn ebenso widerstandslos über sich ergehen, wie er es gethan hatte. Aber der junge Priester schien doch eine Abwehr, einen Widerspruch erwartet zu haben, seine Lippen zuckten wie vorhin, als keine Antwort erfolgte.

„Sie sehen, wie gut es ist, daß ich gehe! Leben Sie wohl!“

Die tief aufquellende Bitterkeit in diesen Worten traf Lucie doch, sie machte unwillkürlich eine Bewegung, ihn zurückzuhalten. Die blauen Augen blickten ihn wieder bestürzt und fragend an, sie mußten eine eigenthümlich zwingende Gewalt auf den finstern Mönch ausüben, er stand regungslos und langsam schwand die Härte von seiner Stirn und von seinen Lippen.

„Habe ich Sie gekränkt? Wir wollen doch nicht so scheiden! Ich kehre lange, kehre vielleicht niemals zurück. – Leben Sie wohl!“

Das klang freilich anders, als das Lebewohl, welches er vorhin gesprochen. Es war wieder die ganze Weichheit in seinem Tone, der düster milde Blick in seinen Augen, die Lucie schon einmal so räthselhaft getroffen. Mußte ihr denn jede Begegnung mit ihm den dunkeln unerklärlichen Schmerz bringen, der sich jetzt wieder regte und sie mit einer wahrhaft vernichtenden Gewalt überkam, als er sich von ihr wandte? Das Trennungsweh, das in der Brust des Mannes stürmte, schien ein Echo gefunden zu haben, das junge Mädchen preßte leise die Hand auf ihr Herz, das sie noch so wenig verstand, und von dem sie nur wußte, daß es ihr wehe that.

Günther hatte inzwischen seinen Hemmschuh in Ordnung bringen lassen und selbst mit Hand angelegt; er blickte etwas überrascht auf, als er den jungen Geistlichen allein ankommen sah, es schien ihm doch etwas rücksichtslos, daß dieser seine Schwester so ohne Weiteres allein auf der Straße zurückgelassen hatte. Benedict ging mit einem kurzen hastigen Gruße an ihm vorüber, stieg in seinen Wagen und rollte bereits in der nächsten Minute bergabwärts. Jetzt endlich erschien auch Lucie.

„Nun, das muß man sagen, einer besondern Höflichkeit den Frauen gegenüber macht sich Pater Benedict nicht schuldig!“ sagte Bernhard, während er ihr heim Einsteigen hehülflich war. „Er hätte wohl auch noch die wenigen Schritte bis zur Höhe mit Dir gehen können, da er einmal in unserer Gesellschaft war!“

„Ich frage gar nichts nach seiner Höflichkeit!“ erklärte Lucie, sich heftig in die Wagenecke werfend.

„Das glaube ich Dir, Kind! Sein Wesen ist viel zu abstoßend, um Dir gefallen zu können, übrigens wäre das auch gar nicht von Nutzen, da er nun einmal ein Mönch ist.“

Lucie gab keine Antwort, zum Glück achtete Bernhard nicht weiter auf sie, der nur nothdürftig ausgebesserte Hemmschuh nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, er mahnte während der Hinunterfahrt den Kutscher unausgesetzt zur Vorsicht. Lucie war gegen die Gefahr vollkommen gleichgültig, ihr wäre es jetzt auch gleichgültig gewesen, wenn der Hemmschuh aufs Neue gerissen und der Wagen hinabgestürzt wäre, sie lag, den Kopf tief in die Polster gegraben, und kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt.

Inzwischen fuhr Benedict in entgegengesetzter Richtung weiter, immer tiefer hinein in’s Hochgebirge. Er hatte sich weit aus dem Wagenfenster gebeugt und die freie frische Bergluft umspielte kühl die bleiche Stirn des jungen Priesters, auf der noch die Spuren des letzten Kampfes zu lesen waren. Noch einmal hatte er am Scheidewege gestanden, noch einmal das berauschende Gift jener Nähe gekostet, jetzt war es überwunden! Näher und dunkler stiegen die Berge vor ihm auf, die riesigen Schneehäupter legten sich zwischen ihn und die Versuchung, ihre starren Felswände sollten ihn auf ewig davon scheiden. Er wähnte den Kampf geendigt, wähnte sich hinter Schneegipfeln geborgen, während doch ein junges, heißes Herz wild und glühend in seiner Brust pochte, er kannte noch nicht die Gewalt der echten Leidenschaft, vor der Ferne und Schranken machtlos zusammensinken, die sich mit verheerender Kraft Bahn bricht durch Bergesweiten und durch Menschensatzungen, bis hin zu ihrem Ziele – oder ihrem Verderben!

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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