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Inhaltsverzeichnis

Graf Rhaneck hatte sich den ganzen Abend hindurch in keiner sehr angenehmen Stimmung befunden. Schon unmuthig über die Opposition, die sein Bruder ihm mit diesem Günther machte, eine Opposition, deren Gründe er weder anzuerkennen, noch zu würdigen geneigt war, verstimmte es ihn auf’s Aeußerste, als er sehen mußte, wie die ganze Gesellschaft allmählich dem Beispiel des Prälaten folgte und der Eindringling mit jeder Minute mehr an Terrain gewann. Nun nahm sich auch noch Ottfried die unverzeihliche Freiheit, Lucie Günther zum Tanz zu führen! Er vergaß über ein Paar schöner Augen vollständig, was er seinem Range und seiner Stellung schuldig war, und der Graf nahm sich vor, ihn ernstlich daran zu erinnern. Geärgert durch all diese Vorkommnisse und auf’s Höchste gelangweilt von den ewigen Jagd- und Pferdegeschichten der übrigen Herren, über deren Niveau seine Natur sich denn doch erhob, riß er sich endlich davon los und trat nach einem Gange durch den Saal auf die Terrasse, die jetzt beim Wiederbeginn des Tanzes vollkommen leer und öde war.

In tiefe und, wie es schien, nicht gerade erfreuliche Gedanken versenkt schritt Rhaneck die Stufen hinunter, als er plötzlich auf einer der seitwärts stehenden Bänke eine Gestalt gewahrte, die wie todtmüde dort hingeworfen, die Stirn gegen den kalten Stein gepreßt, regungslos in dieser Stellung verharrte. Der Graf stutzte einen Augenblick, dann trat er rasch näher und legte dem Einsamen die Hand auf die Schulter.

„Bruno!“

Der Gerufene fuhr auf und sprang empor; es war zu dunkel, als daß der Graf die Blässe und die sichtbare Verstörtheit seiner Züge hätte bemerken können, dennoch klang eine unverhehlte Besorgniß aus seinem Tone.

„Was machst Du hier allein in der Nacht und Einsamkeit? Weshalb bist Du nicht drinnen im Saale?“

„Ich kann nicht!“ stieß Benedict gepreßt hervor, „es ist mir zu schwül drinnen!“

Der Graf schüttelte den Kopf. „Ich weiß, Du liebst diese weltlichen Feste nicht und weißt es meinem Bruder schwerlich Dank, daß er gerade Dich zur Begleitung auserwählte, aber Dich ihnen so hartnäckig zu entziehen, das ist unrecht, das grenzt ja nahezu an Haß.“

„Ich hasse sie auch!“ sagte Benedict dumpf.

Sie standen am Fuße der Terrasse, durch die geöffneten Fensterthüren quoll der Kerzenglanz und der rauschende Jubel der Musik, man sah die einzelnen Paare im Tanze vorüberschweben, der Blick des jungen Mönchs heftete sich starr auf jene erleuchteten Fenster, und es lag in der That etwas von der eben ausgesprochenen Empfindung darin, gleichwohl schien er das Auge nicht losreißen zu können.

„Du gehst zu weit!“ sagte der Graf begütigend. „Du siehst doch, daß Dein Abt und Deine Mitbrüder diese Feste weder verdammen, noch sich ihnen ganz entziehen. Dein Orden giebt uns die Redner unserer Kirchen, die Erzieher unserer Knaben, Ihr könnt und dürft nicht so ganz mit der Welt brechen, wie ein Karthäusermönch es thun mag.“

Benedict gab keine Antwort, er stützte sich auf die Steinbank und sah finster zu Boden.

„Und jetzt komm in den Saal zurück,“ drängte Rhaneck, „es ist ja unheimlich hier in dieser Einsamkeit!“

„O, nicht immer! Man sieht und hört auf dieser einsamen Terrasse oft mehr, als drinnen im Ballsaal.“

Es lag eine unendliche Bitterkeit in den Worten, aber der Graf lächelte unwillkürlich.

„Dein strenges Richterohr hat wohl irgend ein harmloses Liebesgeflüster aufgefangen? Ich fürchte, es spielen mehr solcher kleinen Romane da drinnen unter dem jungen Volk. Es kann nicht ein Jeder die Weltentsagung üben, zu der Du Dich bekennst.“

„Zumal Graf Ottfried nicht!“ sagte Benedict schneidend.

Die Stirn des Grafen umwölkte sich leicht. „Also Ottfried war es, den Du belauschtest? Ja, ich weiß, er ist leichtsinnig, leichtsinniger sogar, als ich ihm mit aller billigen Rücksicht auf seine Stellung und seine Verbindungen in der Residenz zugestehen kann. Ein Sohn meines Hauses sollte doch einen andern Ehrgeiz haben, und eine andere Lebensaufgabe kennen, als nur die, der Löwe der Salons zu sein und in ihren Abenteuern zu schwelgen. Ich fürchte, es ist bei seiner Erziehung Manches versäumt worden, Manches unterblieben, was besser geschehen wäre. Ich habe leider in meinem vielbewegten und vielbeanspruchten Leben niemals Zeit gefunden, mich eingehend darum zu bekümmern.“

Ein großer verwunderter Blick aus den Augen Benedict’s traf den Sprechenden, er erinnerte sich doch, daß der Graf stets Zeit gefunden, sich mit seiner Erziehung zu beschäftigen, daß er oft genug Proben davon erhalten hatte, und nun diese ganz offen eingestandene Vernachlässigung, dem eigenen Sohne und Erben gegenüber! Zum Glück bemerkte Rhaneck nicht sein stummes Befremden.

„Ich hoffe viel von Deinem Einfluß auf Ottfried,“ fuhr er lebhaft fort, „ich habe ihn in Bezug auf die Ausübung seiner religiösen Pflichten an Dich gewiesen und –“

„An mich!“ rief der junge Priester, heftig zurücktretend. „Herr Graf, ich bitte dringend, nehmen Sie diese Anordnung zurück. Graf Ottfried und ich, wir thun besser, uns einander nicht zu nähern!“

„Ich wünsche es aber!“ Der Graf legte einigen Nachdruck auf das Wort. „Du wirst streng gegen ihn sein, ich sehe es an Deiner Entrüstung, aber gleichviel, er wird den Priester in Dir ehren und sich Deinem Spruche fügen, ich bürge Dir dafür. Und jetzt komm, Bruno, ehe mein Bruder Dich vermißt, mir scheint, er wird bald aufbrechen.“

Er ergriff sanft den Arm Benedict’s und zog ihn mit sich fort, ohne ihm Zeit zur Erwiderung zu lassen, Seite an Seite mit seinem Schützlinge betrat er den Saal. Der Prälat hatte Recht, es lagen seltsame Widersprüche in dem Charakter seines Bruders, aber einer derselben wenigstens ward von der Gesellschaft im vollsten Maße getheilt. Auch Pater Benedict war bürgerlich, wie Günther, war jedenfalls von noch niedrigerer Herkunft als dieser, und doch fiel es Niemandem ein, seine Einführung in diesen exclusiven Kreis zu beanstanden. Das Priestergewand deckte Namen und Herkunft, es stand neben, ja über den Wappenschildern, unnahbar für jede weltliche Rücksicht, ein Gegenstand unbedingtester Ehrfurcht. Die grauen Häupter der vornehmsten unter den Herren neigten sich vor dem jungen, aus einer Unterthanenfamilie hervorgegangenen Geistlichen mit einer Achtung, die der gereifte, in allen Lagen des Lebens geprüfte Mann dort drüben, der an Stellung und Reichthum ihnen jetzt gleich war, sich nicht hatte erzwingen können. –

„Darf ich fragen, wer der junge Benedictiner dort hinter dem Sessel des Herrn Prälaten ist?“ wandte sich Günther auf einmal an den Baron Brankow, als dieser zufällig in seine Nähe kam.

„Sie meinen Pater Benedict? Einer der Geistlichen unseres Stiftes, ein junger, erst kürzlich geweihter Priester, auf den seine Oberen, so viel ich weiß, große Hoffnungen setzen.“

„So?“ Günther’s Auge hing so fest an den Zügen des eben Genannten, als wolle er jede Linie darin studiren. „Er scheint sehr vertraut mit dem Grafen Rhaneck, steht er vielleicht in irgend einer verwandtschaftlichen Beziehung zu ihm?“

„Nicht doch!“ sagte der Baron ruhig, „nicht im geringsten. Er stammt im Gegentheil von – mein Gott, der Name ist mir entfallen, die Rhanecks haben so zahlreiche Besitzungen – von einem der Güter des Grafen, der den talentvollen, aber gänzlich mittellosen Knaben erziehen ließ und für das Kloster bestimmte. Er hat ein gutes Werk an ihm gethan, weiter nichts.“

„Gewiß, ein sehr gutes Werk!“

Brankow blickte überrascht auf, es war ihm gewesen, als ob ein gewisser Hohn in der Bemerkung Günther’s läge, aber er mußte sich wohl geirrt haben. Günther’s Gesicht zeigte sich unbeweglich, während sein Blick noch immer nicht den Gegenstand des Gespräches verließ.

„Sie scheinen sich für Pater Benedict zu interessiren,“ sagte der Baron artig, „wünschen Sie vielleicht näher mit ihm –“

„Ich danke!“ fiel ihm Günther rasch in’s Wort. „Ich stehe in gar keiner Beziehung zu den Herren des Stiftes, wie Sie ja wissen. Mir fiel nur dieser interessante Kopf auf, und dann eine flüchtige Aehnlichkeit – bemühen Sie sich nicht, Herr Baron!“

Er überließ Brankow einem so eben herantretenden Gaste und kehrte zu seiner Schwester zurück. „Also in’s Kloster haben sie den Knaben gesteckt!“ murmelte er bitter, „und dem Anschein nach einen vollständigen Fanatiker aus ihm gemacht. Ein meisterhafter Schluß des ganzen hochgräflichen Schurkenstreiches!“ –

Der Prälat und Graf Rhaneck mit seiner Familie brachen jetzt gleichzeitig auf, was wie gewöhnlich mit ziemlichem Geräusch und Aufsehen vor sich ging. Als die Brüder zusammen durch das Vorzimmer schritten, konnte der Graf nicht umhin, seinem lang verhaltenen Aerger wenigstens in einigen Worten Luft zu machen.

„Nun, Dein Schützling ist ja heut, Dank Deiner Auszeichnung und Deinem Beispiel, nichts mehr und nichts weniger gewesen, als der Held des Abends! Hast Du denn wirklich aus diesen plumpen, nichtssagenden Zügen irgend eine Gefährlichkeit herausgelesen?“

„Ja!“ sagte der Prälat kalt. „Der Mann ist gefährlich, ist es um so mehr, weil er unbedeutend erscheinen will. Er wird uns noch zu schaffen machen, verlaß Dich darauf!“

Die Gräfin, welche nur halb hingehört und nicht viel mehr verstanden hatte, als daß es sich um Günther handelte, verzog die schmalen Lippen.

„Mein Gott, es ist und bleibt doch ein entsetzlicher horreur, daß dieser Mensch, wie man sagt der Sohn eines Unterförsters, in unseren Kreisen erscheinen durfte!“

Der Prälat verneigte sich Abschied nehmend vor seiner Schwägerin, ohne ihr eine Antwort zu geben. Zu Gründen und Erklärungen ließ er sich ihr gegenüber nie herab, die Gräfin war in seinen Augen eine eben solche Null, wie in denen ihres Gemahls, eine Null, die man allerdings respectiren mußte, weil auch sie den Namen Rhaneck trug und ihm durch ihren Reichthum einen noch größeren Glanz verlieh. Auch hier mußte die äußere Form der Achtung alles ersetzen.

Kurz nach der Entfernung der gräflichen Familie verabschiedete sich auch Günther mit seiner Schwester. Die Fahrt nach Dobra ward meist schweigend zurückgelegt, Bernhard schien nicht zum Reden gestimmt, und Lucie, die sonst immer etwas zu fragen und zu plaudern hatte, war heut ausnahmsweise mit dieser Schweigsamkeit einverstanden. Tief in die Ecke des Wagens geschmiegt, zerdrückte sie achtlos den Flor und die Blumen ihres Anzuges, und fuhr verwundert empor, als sie in den Hof von Dobra einrollten, die Fahrt hatte ihr so kurz geschienen.

Zu Haus angelangt wollte das junge Mädchen dem Bruder gute Nacht sagen, als dieser sie mit einem kurzen „Ich habe mit Dir zu sprechen, Lucie!“ zurückhielt. Er nahm dem alten Diener, der ihnen folgte, das Licht aus der Hand und gab ihm einen Wink sich zu entfernen. Lucie stand erstaunt und befremdet da, aber sie sollte nicht lange in Zweifel bleiben, um was es sich handelte.

Bernhard trat an den Tisch, zog sie zu sich heran und wendete ihr Gesicht dem Lichte zu, so daß dessen voller Schein darauf fiel.

„Was ist zwischen Dir und dem Grafen Rhaneck vorgefallen?“ fragte er plötzlich.

Luciens Antlitz glühte wieder dunkel auf, wie vorhin im Ballsaal, als der Bruder ihr entgegentrat, und diesmal ergoß sich die heiße Röthe tief herab bis über Hals und Schultern; sie sah, daß sie dem gefürchteten Examen doch nicht mehr entrinnen konnte. Sie hob daher keck den Lockenkopf empor, setzte ihr Füßchen energisch um einen Schritt vorwärts und erklärte sehr determinirt:

„Er hat mir gesagt, daß er mich anbete!“

„Nach zweistündiger Bekanntschaft? Was man doch nicht alles wagt, einem sechszehnjährigen Mädchen gegenüber! Darf ich fragen, wo er Dir diese interessante Eröffnung gemacht hat?“

Das junge Mädchen zögerte.

„Du wirst antworten, Lucie! Du wirst mir auch nicht eine Sylbe von dem verschweigen, was zwischen dem Grafen und Dir gesprochen worden ist, hörst Du?“

Lucie sah aus, als wolle sie anfangen zu weinen; es war aber auch zu viel verlangt, daß sie ihr romantisches Geheimniß so auf Commando preisgeben sollte, noch dazu dem rücksichtslosen Bruder preisgeben, der sicher nicht das mindeste Verständniß dafür besaß. Aber Bernhard duldete keine Weigerung, das wußte sie, und so ließ sie sich denn zögernd zu einem Geständniß herbei, als dessen Resultat schließlich eine vollständige Liebeserklärung des Grafen Ottfried herauskam.

Der Graf hatte ihr, schon als er das erste Mal mit ihr tanzte, eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit erwiesen, eine Aufmerksamkeit, die sich beim zweiten und dritten Male noch steigerte. Beim Beginn der Pause hatte er sie auf die Terrasse geführt, wie die anderen Herren ihre Damen auch, aber es so einzurichten gewußt, daß sie sich von den Uebrigen entfernten und durch die Orangerie vor deren Blicken gedeckt waren. Hier war er plötzlich vor ihr auf die Kniee gesunken – „auf beide Kniee, Bernhard!“ – und hatte ihr erklärt, daß er sie anbete, daß sie gleich beim ersten Anblick einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Herz gemacht, daß er nicht leben könne, ohne die Hoffnung, sie wiederzusehen, und verzweifeln werde, wenn mit dem Ende des Festes ihm diese Hoffnung genommen würde, darauf hatte er um eine Rose aus ihrem Haar gefleht, dieselbe an seine Lippen gedrückt – kurz, die Geschichte war so über alle Beschreibung romantisch, und Lucie so voll Entzücken über diese Romantik und über die Rolle, die sie selber darin gespielt, daß ihre anfängliche Scheu und Befangenheit bei der Erzählung sich in ein immer größeres Selbstbewußtsein verwandelte, und sie am Schluß derselben den Bruder mit dem vollsten Triumph anblickte. Es war doch wahrlich keine Kleinigkeit, gleich beim ersten Schritt, den sie in die Welt und die Gesellschaft that, einen jungen Grafen zu erobern, der vor ihr auf den Knieen lag und sie anbetete! Was wohl Bernhard dazu sagte? Ob er es noch versuchte, sie wieder in die Kinderstube zu schicken?

Bernhard sagte vorläufig gar nichts, er machte einige Male einen Gang durch das Zimmer und blieb endlich dicht vor ihr stehen. „Und was hast Du dem Grafen darauf geantwortet?“

„Ich sagte ihm, er brauche gar nicht zu verzweifeln, er könne ja nach Dobra kommen und uns besuchen, Du würdest gewiß – ja freilich, Bernhard!“ unterbrach sie sich auf einmal schmollend, „da wußte ich noch nicht, daß Du so ungezogen gegen ihn sein würdest, als es nachher der Fall war.“

„Ich fürchte, ich werde dem Herrn Grafen noch ungezogener erscheinen, wenn er wirklich hierherkommen sollte, woran ich zweifle. Ich würde mir seine Besuche ein für alle Mal verbitten, und Du würdest in diesem Falle auf Deinem Zimmer bleiben, und überhaupt nicht in seinen Gesichtskreis kommen.“

Lucie fuhr erschreckt und empört auf. „Ah Bernhard, das ist abscheulich! Wie kannst Du den Grafen so beleidigen, blos weil Du nun einmal Alles hassest, was vornehm ist, und weil es sich mit Deinen demokratischen Principien nicht verträgt, daß ich Gräfin Rhaneck werde!“

„Gräfin Rhaneck!“ wiederholte Bernhard langsam. „Ah so, Du meinst, der Graf habe Dir einen Heirathsantrag gemacht.“

Lucie hob das Auge zu ihm empor, noch funkelte die Entrüstung darin, aber daneben leuchtete auch noch die vollste Unbefangenheit des Kindes.

„Nun, er hat mir doch gesagt, daß er mich liebe, daß er ohne mich nicht leben könne! Was soll denn anderes damit gemeint sein?“

Der Bruder blickte tief in die blauen Kinderaugen des jungen Mädchens, und seine Stimme wurde unwillkürlich milder.

„Ich bezweifle, Lucie, daß der Graf gerade dies meinte. Doch gleichviel, für Dich kann nur dieser eine Fall in Betracht kommen. Du kennst Gott sei Dank noch keinen andern und sollst ihn auch nie kennen lernen, aber“ – hier nahm sein Ton plötzlich eine seltsame Härte an – „nimm Dich in Acht vor diesem Geschlechte, Kind, selbst wenn es Dir scheinbar ehrenhaft naht. Einem Rhaneck ist Alles möglich, selbst das, ein angetrautes Weib zu haben, das nicht Gräfin Rhaneck heißt!“

Betreten schaute Lucie ihn an, sie vermochte sich diese Worte nicht zu enträthseln, die Gräfin trug ja doch den Namen ihres Gemahls, wie es auch nicht anders möglich war.

„Kennst Du denn die Rhaneck’sche Familie näher?“ fragte sie erstaunt. „Ich dachte, Du sähest sie heute zum ersten Male.“

Bernhard gab keine Antwort; er schien jene übereilten Worte schon zu bereuen, langsam zog er die Schwester wieder zu sich und hob ihren Kopf empor.

„Höre mich an, Lucie, und vergiß nicht, daß ich jetzt im vollsten Ernste zu Dir spreche. Ich verbiete Dir hiermit jeden ferneren Verkehr mit dem Grafen, gleichviel ob er ihn mündlich oder schriftlich versucht, gleichviel wo und wie er sich Dir naht. Du sollst mit diesen Rhanecks nicht in Berührung kommen, ich will es nicht! Richte Dich danach.“

Es lag in der That ein furchtbarer Ernst in seinen Zügen und eine erstreckende Härte in seinem Ton, wie Lucie beides noch niemals an dem Bruder gesehen, aber sein despotisches Verbot, so ohne alle Angabe von Gründen, das wahrscheinlich jede Andere eingeschüchtert hätte, verfehlte hier ganz und gar seinen Zweck. In dem heißgerötheten Gesicht dieses „Kindes,“ war etwas von jenem trotzigen Blute, mit dem Bernhard einst seinen Platz in der Waldlichtung den Officieren gegenüber behauptet hatte, etwas von jenem Trotz, der dem so entschieden gebotenen „Du sollst nicht!“ ein ebenso entschiedenes „Ich will aber!“ entgegensetzte. Er beging einen verhängnißvollen Irrthum, als er wähnte, mit einem bloßen Machtspruch eine Sache beendigen zu können, die bereits die ganze Phantasie des jungen Mädchens beschäftigte und der er dadurch den gefährlichsten aller Reize lieh, den des Verbotenen. Es war trotz alledem seine Schwester, das vergaß er ganz und gar.

„Und nun geh’ schlafen, Kind!“ sagte er kalt und ließ ihre Hände los. „Bis morgen hast Du den Roman vergessen und Dich über das versagte Spielzeug getröstet. Suche Dir ein anderes, das weniger gefährlich ist und besser für Deine Jahre paßt. Gute Nacht!“

Er ging, Lucie verharrte in trotzigem Schweigen. Die Thränen, welche sich vorhin heiß und ungestüm ihr in’s Auge drängten, waren nicht hervorgebrochen, die letzten Worte des Bruders hatten sie getrocknet. Also man behandelte sie wirklich noch immer wie ein Kind, das mit einer Strafpredigt und einem Achselzucken über die begangene Unart zu Bett geschickt wird, sie, vor der Graf Ottfried auf den Knieen gelegen und um ihre Liebe gefleht hatte! Verboten sollte ihr diese Liebe werden, ein Spielzeug nannte man sie! Lucie vergaß völlig die räthselhaften Worte des Bruders, die „Gräfin Rhaneck“ war jetzt überhaupt für sie in den Hintergrund getreten, und im Vordergrunde stand der Trotz, die Empörung gegen Bernhard. Sie wollte sich dieser Tyrannei nicht geduldig fügen, wollte durchaus kein Opfer brüderlicher Hartherzigkeit sein, durchaus nicht! Und wenn der Graf sich ihr noch einmal nahte und auf’s Neue um ihre Hand bat, dann – sollte man sehen, daß sie auch einen Willen hatte, und sich nicht so ohne Weiteres „demokratischen Principien“ aufopfern ließ.

Mit diesem heroischen Entschluß ging Lucie endlich zur Ruhe, und schon nach wenigen Minuten machte die ungewohnte Ermüdung ihre Rechte geltend. Der Traum wob seine phantastischen Schleier dicht und dichter um sie, und führte sie zurück in das heute durchlebte Fest. Kerzenglanz und Musik und Tanzgewühl, und dazwischen die Gestalt Ottfried’s in der glänzenden Uniform, das Alles kreiste bunt und schattenhaft durcheinander, tauchte abwechselnd auf und verschwand wieder, und seltsam – über dem Allen schwebten die tiefen dunkeln Augen, denen sie heute zum zweiten Male in ihrem Leben begegnet war, schwebte das leise, leise quälende Weh, das sie unter jenem Blick empfunden. Sie blieben allein noch, als all’ die anderen Bilder um sie her versanken, das einzige, was sie mit herübernahm in den festen traumlosen Schlaf der Jugend.

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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