Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 13
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ОглавлениеAuch im Hochgebirge hatte der Herbst seinen Einzug gehalten. Hier freilich erscheint er anders als drunten in der Ebene, wo sich die Natur so müde und langsam ihrem Grabe entgegenneigt, über das der Winter bald die weiße Leichendecke breitet. Dort hängt der Himmel schwer und grau über der verschleierten Erde, in endlos eintönigem Braun dehnen sich die Felder aus, still und dunkel zieht der Fluß dahin, und was noch von Farben und Formen übrig ist, das hüllt der Nebel in seine dichten feuchten Schleier. Leise und einförmig rauscht der Regen nieder, leis und matt sinken die Blätter von den Bäumen, schwermüthig rauscht der Wind darein, bis auch das letzte welk zu Boden flattert und der Wald entlaubt und öde steht – überall langsames Vergehen, stilles widerstandloses Sterben.
Anders im Gebirge. Hier ist Alles wilde Bewegung, Alles trotziger, verzweifelter Kampf um’s Dasein. Stürme, wie sie die Ebene gar nicht kennt, entfesseln sich hier oben und rasen, einmal losgelassen, mit verheerender Gewalt, gährende Wolkenmassen wogen in den Thälern auf und nieder oder jagen sturmgepeitscht um die höchsten Gipfel, und von den Regengüssen geschwellt toben die Bergwasser in ungezügelter Wildheit dahin. Auch hier hängen die Nebelschleier feucht und dicht an Wald und Fels, aber aus ihnen hervor heben die dunkeln Tannen nur trotziger ihre starren Häupter, denen all’ das eisige Wehen den grünen Schmuck nicht zu rauben vermag, und aus dem Wolkengewande ragen die schroffen Zacken und Klippen nur mächtiger empor. Der Herbst hat dem Gebirge den Blumenkranz vom Haupte gerissen, aber damit endet auch seine Macht, die sich ohnmächtig an diesen Wäldern und Felsen bricht, die nicht zu entblättern und nicht zu erschüttern sind. Wird doch selbst der Winter nie ganz Meister dieser starren Natur, und wenn er mit seinen Schneelasten auch Alles begräbt und niederzwingt, die lebendige, ewig klopfende Ader des Gebirges vermag er nicht zu schließen; den Bergstrom legt er doch nie in seine Eisfesseln, und wenn alles Andere ringsum in Schnee und Eis erstarrt, rettet sich dies Leben, das ewig neu und ewig bewegt aus dem tiefsten Grunde des Gebirges hervorquillt, allein unbezwungen hinüber in’s neue Frühlingsgrün.
Das Dorf N., der Bezirk des Pfarrers Clemens, war einer jener einsamen hochgelegenen Bergorte, die nur während der einen Hälfte des Jahres im Verkehr mit der Ebene drunten stehen, während der anderen aber durch Herbststürme, Winterschnee und Frühjahrswasser fast gänzlich davon abgeschnitten, ja zeitweise gar nicht zu erreichen sind. Eng zusammengedrängt lag das Dörfchen auf seinem Hochplateau da, dicht um die in der Mitte befindliche Kirche geschaart, als sei es des Schutzes derselben bedürftig, und in der That klein und schutzlos genug sah es aus, inmitten der hohen Schneegebirge, die es rings umlagerten und so riesengroß auf die winzigen Menschenwohnungen herabblickten, die ein einziger ihrer Stürme vernichten konnte. Spärliches, verkrüppeltes Tannengehölz säumte den Rand des Plateaus, die Wälder begannen erst weiter unten, wo der Weg sich in’s Stromthal hinabneigte, es war freilich keine Poststraße, und es hatte selbst in der guten Jahreszeit seine Schwierigkeit, N. anders als zu Fuße zu erreichen.
Aus der Thür des Pfarrhauses, dessen Aeußeres hinreichend verrieth, daß es nur eine sehr arme Gemeinde war, die man dem Pfarrer Clemens zugewiesen, traten zwei Geistliche und schritten langsam durch’s Dorf, hin und wieder einen ehrfurchtsvoll gespendeten Gruß erwidernd, oder ein Kind segnend, das herbeigelaufen kam, den hochwürdigen Herren die Hand zu küssen; als sie die Häuser hinter sich hatten und in’s Freie traten, überfiel sie der kalte Bergwind mit doppelter Gewalt.
„Sie sollten umkehren, Hochwürden!“ sagte der Jüngere, seinen Mantel fester um die Schultern ziehend. „Die Luft ist allzu rauh; es sieht aus, als sollten wir wieder Sturm bekommen.“
Der Aeltere schüttelte das Haupt. „Bis zum Crucifix begleite ich Sie jedenfalls, lieber Benedict. Ich schone mich schon über die Gebühr, seit Sie hier sind. Der kurze Gang wird mir wohlthun.“
Benedict erhob keinen Einwand weiter und sie schritten einige Minuten lang schweigend vorwärts, dann begann der Pfarrer von Neuem das Gespräch.
„Wenn nur dieser tägliche Gang nach der Wallfahrtscapelle nicht wäre! Ich kann mich dabei nie einer gewissen Sorge um Sie erwehren.“
„Weshalb? fragte Benedict gelassen. „Der Weg ist nicht allzu weit.“
„Aber gefährlich! Sie müssen dabei stets die ‚wilde Klamm‘ passiren, einen der schlimmsten Punkte des ganzen Gebirges. Im Sommer mochte das noch hingehen, aber jetzt, wo die fortwährenden Regengüsse den Felsboden glatt und schlüpfrig machen, wo man nie wissen kann, ob die Brücke auch wirklich den letzten Stürmen Widerstand geleistet hat –“
„Die Bauern wählen ja stets diesen Pfad, um den Weg in’s Thal abzukürzen!“ unterbrach ihn der junge Priester gleichgültig.
„Ja, unsere Bauern! Die sind im Gebirge geboren und aufgewachsen. Solch ein Fuß gleitet nicht so leicht und weiß sich selbst im Sturze noch zu halten und anzuklammern; der Ihrige dagegen – ich kann mir nicht helfen, ich sehe Sie jedesmal mit Sorge gehen und bin erst ruhig, wenn ich Sie sicher wieder im Pfarrhause weiß.“
„Ich bin schwindelfrei,“ sagte Benedict ruhig, „und überdies kann ich den Leuten deswegen nicht eine Gewohnheit nehmen, die ihnen seit Monaten ein Bedürfniß geworden ist, wie diese tägliche Messe in der Wallfahrtskirche.“
„Vorgeschrieben ist sie aber keineswegs!“ wandte der alte Pfarrer schüchtern ein. Ich selbst – nun freilich, meine Kräfte hätten schon längst nicht mehr ausgereicht zu solchen täglichen Strapazen, ich mußte sie für die nothwendigen Gänge zu Kranken und Sterbenden schonen – ich selbst habe nur an Wallfahrtstagen dort Gottesdienst gehalten.“
Es ist aber eine unendliche Erleichterung für die Bewohner all der einzelnen und zerstreuten Gehöfte, wenn sie nicht jedesmal den beschwerlichen Weg bis N. zu machen brauchen. Sie sparen Zeit und Kräfte, die ihnen beide für die Arbeit so nothwendig sind, und ich habe Muße genug, zumal jetzt, wo“ – hier zuckte ein bitterer Ausdruck um seine Lippen – „wo mir das Predigen untersagt ist und ich höchstens noch die Ceremonien ausüben darf. Ueberdies gehe ich ja morgen den Gang zum letzten Male.“
Der Pfarrer blickte wie erschreckt auf. „Zum letzten Male?“
„Nun, Sie wissen doch, daß ich nach dem Stifte zurückberufen bin?“
„Aber hoffentlich nur auf einige Tage.“
Benedict schüttelte finster das Haupt. „Man wird mich schwerlich zurückkehren lassen, ich kenne den Prälaten! Das geringe Maß von Freiheit, welches dies Amt mir ließ, hat sich doch noch als zu groß erwiesen; er wird nicht säumen, es mir zu entziehen.“
„Sie meinen Ihre Predigt am letzten Kirchentage? Herr Bruder, Herr Bruder!“ Die Stimme des Greises zitterte, aber er brach ab, als er das Stirnrunzeln des jungen Priesters gewahrte. „Nun, ich mag Sie nicht auch noch damit quälen; aber ich kann mich im tiefsten Innern der Angst nicht erwehren. Bleiben Sie hier, Benedict! Schützen Sie Krankheit vor, oder suchen Sie die Rückkehr unter irgend einem andern Vorwande hinauszuschieben; es ist nichts Gutes, was man im Stifte gegen Sie braut! Hier sind sie sicher, die Gemeinde hängt mit Begeisterung an Ihnen und würde Sie nöthigenfalls vertheidigen; in unserer Mitte wird man es nicht wagen, Sie anzugreifen.“
„Ich gehe!“ erklärte Benedict entschieden.
„Aber man hegte schon längst Mißtrauen gegen Sie,“ fuhr Jener dringender fort. „Unser Schullehrer – ich mag dem Manne nichts Uebles nachreden, da ich keine Beweise habe; aber es hat mir nie gefallen, daß er sich gleich vom ersten Tage an mit so auffallender Dienstbeflissenheit an Sie drängte. Sie waren nie vorsichtig genug mit Ihren Büchern, Ihren Schreibereien; ich fürchte, sie sind mehr als einmal untersucht worden. War doch auch mir befohlen –“ er stockte und sah verlegen zu Boden.
„Hat man auch Sie zum Spion erniedrigen wollen?“ fragte der junge Priester bitter. „Ein trauriges Amt, zumal wenn es gegen den Gast geübt wird, der seit Monaten unter dem Dache des Hauses schläft!“
„Was ich berichte, schadet Ihnen nichts, Herr Bruder,“ entgegnete der Greis sanft. „Mögen sie mich immerhin im Stifte einen alten Schwachkopf nennen, der nicht sieht und hört, was um ihn her vorgeht, ich will das lieber ertragen, als Sie mit einem unvorsichtigen Worte in Gefahr stürzen.“
Benedict antwortete nicht, er streckte ihm nur stumm die Hand entgegen.
„Nicht wahr, Sie bleiben?“ hob der Pfarrer nach einer kurzen Pause wieder bittend an.
„Ich kann nicht! Glauben Sie nicht, daß ich der Milde des Prälaten allzusehr vertraue. Ich weiß, was mich erwartet, oder ahne es wenigstens, aber um Ihren Rath zu befolgen, müßte mir mehr am Leben liegen. Ich versichere Ihnen, es ist mir sehr, sehr gleichgültig, ich mag auch nicht einmal die Hand rühren, um es zu retten!“
Sie hatten inzwischen das Crucifix erreicht, das am Rande des Plateaus stand, gerade dort, wo der Weg nach der Wallfahrtskirche sich abneigte, die beiden Geistlichen blieben stehen.
„So sollten Sie nicht sprechen, Herr Bruder,“ sagte der Pfarrer mit sanftem Vorwurf, „Sie sind noch so jung!“
„Und Sie sind schon so alt, Hochwürden!“ in Benedict’s Stimme klang ein leiser Hohn, „und hängen immer noch an diesem Dasein, das für Sie doch wahrlich entsagungsvoll genug gewesen ist? Was haben Sie denn erreicht mit dieser elenden Pfarre hier oben, die Sie eben nur vor dem Hunger schützt, die Sie seit zwanzig Jahren von Welt und Menschheit abschneidet, und Sie nur Scenen der Armuth und des Elendes schauen läßt? Darum mit dem Leben gebrochen, die Zukunft verschüttet, das Glück abgeschworen – der Tausch ist doch zu ungleich!“
Die hellen milden Augen des Greises begegneten ruhig dem düster flammenden Blick seines jungen Mitbruders. „Darnach habe ich nie gefragt!“ sagte er einfach. „Ich habe es als eine mir zugewiesene Pflicht genommen, und mich redlich bemüht, sie zu erfüllen. Leicht freilich ist sie mir nicht immer geworden. Ich habe schlimme Zeiten hier oben durchlebt; es hat Tage und Wochen gegeben, wo ich mit meinen armen Dörflern gedarbt habe, weil ich’s nicht über’s Herz bringen konnte, mit Härte meine schmalen Einkünfte einzutreiben, die sie beim besten Willen nicht schaffen konnten, und noch schwerer ist’s mir oft geworden, wenn ich nur geistlichen Trost spenden konnte, wo ich so gern mit der That geholfen hätte, und wo die Hülfe so nothwendig gewesen wäre. Wie der Herr will! Ich bin nun über die Siebenzig hinaus, lange kann es ja doch nicht mehr währen, bis ich mein Haupt zur Ruhe lege. Hat mir das Leben auch nicht viel Gutes gegönnt, ich nehme doch die Ueberzeugung mit, daß ich mich auf meinem geringen Acker redlich gemüht habe; Gott weiß es – ich war ja wohl keines besseren werth!“
Es lag eine rührende Resignation in den einfachen Worten, Benedict blickte schweigend auf das greise, müde Leben, das sich so still und geduldig dem Grabe zuneigte, so ohne alles Murren und Klagen auf das Loos zurückblickte, das ihm gefallen war; aber für den jungen Priester war diese stille Ergebung nur ein Stachel mehr, er hatte noch den ganzen Trotz der Jugend, die wohl unterzugehen, aber nicht zu entsagen versteht, und er war im Begriff eine leidenschaftliche Antwort zu geben, als in ihrer Nähe Schritte ertönten; vom Dorfe her kamen zwei Freunde, gleichfalls in ihre Mäntel gehüllt, auf sie zu.
Die Erscheinung Fremder war hier etwas so Ungewöhnliches, daß die beiden Geistlichen ihr Gespräch unterbrachen und ihnen überrascht entgegenblickten. Benedict schien sie zu erkennen, und sofort verschwand die kurze Offenheit, die er dem Pfarrer gegenüber gezeigt hatte, um der alten Verschlossenheit Platz zu machen, als er den Ankommenden entgegenging und den Aelteren von Beiden artig, aber eisig begrüßte.
„Herr Graf Rhaneck, Sie hier?“
Der Graf bot ihm die Hand und wandte sich dann an den Pfarrer. „Verzeihen Sie, Hochwürden, mein Hiersein gilt nur Ihrem Caplan, den ich dringend zu sprechen wünschte. Man sagte uns im Pfarrhause, daß er soeben fortgegangen sei, und daß wir ihn noch einholen würden.“
Der Greis verneigte sich höflich vor den beiden vornehmen Herren, die Benedict ihm nannte. „Wollen der Herr Graf nicht mit uns umkehren? Der Ort und das Wetter ist wenig geeignet zu einer Unterredung im Freien.“
„Ich danke!“ unterbrach ihn Rhaneck schnell. „Unser Gespräch wird nur kurz sein; überdies ist Pater Benedict, wie ich höre, auf einem Amtswege begriffen, ich möchte nicht die Schuld einer Verspätung auf mich nehmen.“
Der Pfarrer mochte wohl an dem Wesen des Fremden sehen, daß es sich hier um eine Unterredung von Wichtigkeit handelte, er verabschiedete sich daher, indem er die Hoffnung aussprach, die Herren würden ihm bei der Rückkehr die Ehre erweisen, noch auf einige Minuten in’s Pfarrhaus zu treten. Der Graf sagte zerstreut zu, er wartete mit offenbarer Ungeduld, bis der Geistliche außer Gehörweite war, und wandte sich dann rasch zu Benedict.
„Wir suchten Dich, Bruno! Wie Du siehst, hat Ottfried mich begleitet. Ihr seid im Grolle geschieden und schuldet einander noch die Aussöhnung, die ich von Euch verlangte. Was Ihr damals in der Hitze des Streites verweigertet, werdet Ihr mir jetzt gewähren. Ottfried bietet Dir die Hand zur Versöhnung, Du wirst sie annehmen.“
Die Worte waren milde, aber doch im Tone eines unbedingten Befehls gesprochen. Ottfried’s Antlitz verrieth deutlich genug, daß sein Entgegenkommen ein erzwungenes war, dennoch streckte er gehorsam die Hand aus, Benedict rührte sich nicht.
„Nun?“ fragte der Graf noch ruhig, aber doch in schärferem Tone.
Der junge Priester trat zurück. „Ich bitte, ersparen Sie dem Grafen und mir eine Ceremonie, die uns Beiden gleich peinlich ist und in unserer gegenseitigen Stellung nicht das Geringste ändert!“ entgegnete er kalt.
Ottfried ließ wie erleichtert die Hand wieder sinken, aber trotzdem schoß ein Blick tiefen Hasses aus seinem Auge auf den „Bedientensohn“, der es wagte, sein Entgegenkommen in dieser Weise abzulehnen.
Das Auge Rhaneck’s glitt langsam von Einem zum Anderen. Man konnte nicht Verschiedeneres sehen, als diese Beiden, wie sie so nebeneinander standen. Der junge Graf mit dem blonden Haar, den hellen Augen und den matten, leblosen Zügen, die, so deutlich sie auch seine Rhaneck’sche Abstammung bekundeten, so sehr sie denen des Vaters glichen, doch nicht das Geringste von jenem charakteristischen Ausdruck zeigten, der dem stolzen Geschlecht eigen war, und das bleiche, energisch gezeichnete Antlitz des jungen Priesters mit dem schwarzen Lockenhaar und den tiefdunklen Augen. Nicht in einem Zuge, nicht in einer Linie glichen sie sich und doch hatten sie Eins gemeinsam, die hohe schlanke Gestalt, die eigenthümlich stolze Wendung des Kopfes, den Gang und die Haltung. Die Aehnlichkeit trat heute, wo auch Ottfried einen dunklen Mantel trug, auffallender als je hervor; von ferne gesehen hätte man sie mit einander verwechseln können. Auch dem Grafen schien sich diese Wahrnehmung aufzudrängen, sein Blick lag schwer und düster auf den beiden jungen Männern und blieb zuletzt auf dem Aeltesten haften.
„Diesmal bist Du es, Bruno, der den alten, unheilvollen Riß noch erweitern will!“ sagte er vorwurfsvoll. „Sei’s darum! in einer Stunde wirst Du anders denken, Du wirst dann selbst die Hand zur Versöhnung bieten, ich weiß es. Laß uns allein, Ottfried!“
Der junge Graf gehorchte, aber der alte Groll wallte wieder heiß in ihm auf, als er sich zurückzog. Die Vorgänge der letzten Zeit waren ihm nicht verborgen geblieben und er errieth nur zu gut, was der Vater mit dieser plötzlichen Fahrt in’s Gebirge beabsichtigte. Er wollte seinen Schützling warnen, ihn retten vielleicht vor dem drohenden Zorne des Bruders, aber weshalb er dabei den Sohn mit sich nahm, weshalb er auf einmal so hartnäckig auf einer Aussöhnung bestand, nachdem Monden seit jenem Streite vergangen waren, das wußte sich Ottfried nicht zu erklären. Gereizt, wie er schon war, verletzte es ihn noch tiefer, daß der Graf ihn so ohne Weiteres fortschickte, weil er mit Pater Benedict zu reden hatte, verletzte es ihn um so mehr, als er sich sagen mußte, daß diesem gegenüber eine gleiche Rücksichtslosigkeit nie stattgefunden hätte. Freilich, dieser Mönch durfte sich ja Alles erlauben, er bewies es eben wieder auf’s Neue, wo er dem Befehl seines hohen Gönners so entschieden den Gehorsam versagte, und der Graf, der bei dem eignen Sohne so energisch jede Regung des Ungehorsams zu unterdrücken wußte, schien diesem Trotz gegenüber machtlos. Das räthselhafte Verhältniß, in welchem sie Beide zu einander standen und das Ottfried schon seit jener Begegnung im Walde beschäftigte, trat ihm jetzt auf’s Neue vor Augen, aber er fand heute so wenig eine Erklärung dafür wie damals.
Rhaneck befand sich jetzt allein mit Benedict, der ihm gegenüberstand wie gewöhnlich, stumm, finster und ohne die geringste Empfindung für den augenscheinlichen Beweis der Theilnahme, den sein Beschützer ihm mit diesem Erscheinen hier wiederum gab.
„Bruno, um Gotteswillen, was hast Du gethan!“
Der Gefragte hob mit kaltem Trotze das Haupt. „Was ich gethan habe, werde ich zu vertreten wissen! Jedenfalls steht nur meinem Abte das Recht zu, Rechenschaft darüber zu fordern – ihm werde ich sie geben, sonst Keinem!“
In dem Antlitz des Grafen kämpfte der ansteigende Zorn über die schroffe Antwort mit einer anderen schmerzlicheren Empfindung.
„Das also ist der Dank für all meine Sorge und Angst um Dich!“ sagte er bitter. „Dein Vertrauen habe ich freilich nie besessen, seit einiger Zeit aber scheinst Du Dich förmlich feindselig von mir abzuwenden.“
Benedict senkte das Auge, der Vorwurf rief wieder jenes Gefühl der Beschämung in ihm wach, das immer und immer mit der geheimen Abneigung kämpfte, deren er sich nun einmal nicht erwehren konnte, dem Manne gegenüber, dem er doch so Vieles dankte.
„Ich habe Ihnen schon einmal bekannt, Herr Graf, daß ich Ihrer Güte nur Undank entgegen setze,“ erwiderte Bruno leise. „Verzeihen Sie mir und – geben Sie mich auf!“
Bei der geringsten Nachgiebigkeit von Seiten seines Schützlings verschwand sofort aller Zorn aus dem Wesen des Grafen.
„Dich aufgeben! Also weißt Du wenigstens, daß Du in Gefahr schwebst! Bruno, wie konntest Du diese unselige Predigt wagen! Du mußtest doch wissen, mußtest doch berechnen, welche Folgen sie auf Dein Haupt herabzieht.“
Der junge Priester hob düster das Auge wieder empor. „Wenn ich überhaupt berechnet hätte, so wäre das Ganze unterblieben. Ich bin doch noch Mönch genug, den Gehorsam zu halten, den ich meinen Oberen gelobt habe, und ich weiß, daß jene Rede furchtbar dagegen stritt. Aber als ich mich inmitten all der versammelten Wallfahrer sah, die sich in blinder Andacht vor mir neigten, als ich denken mußte, daß vielleicht Hunderte von ihnen ihre Kinder einst in dieselben Fesseln zwingen, die jetzt mich zu Boden drücken, da übermannte es mich mit unwiderstehlicher Gewalt und riß mich fort wider meinen Willen, ich konnte die Worte nicht mehr zügeln – erst als ich von der Kanzel zurücktrat, kam mir zum Bewußtsein, was ich eigentlich gesprochen.“
Rhaneck schüttelte das Haupt. „Das Unglück ist der Ort, wo Du es gesprochen. Wäre es hier in N. geschehen, vor der kleinen Pfarrgemeinde, die Sache ließe sich vielleicht noch ausgleichen, aber vor dem zusammengeströmten Volke, vor den Tausenden von Wallfahrern, die jedes Deiner Worte bis in die fernsten Punkte des Gebirges tragen – das verzeiht Dir mein Bruder nie!“
„Ich weiß es!“
„Warum hast Du mir nicht bekannt, daß Du den Stand hassest, dem ich Dich weihte?“ fragte der Graf gepreßt. „Ich hätte Dich nicht gezwungen, beim Himmel, ich hätte es nicht gethan, trotz alles Drängens meines Bruders! Aber ich glaubte Dich ja im vollsten Einklange mit Dir selbst und mit Deiner Zukunft.“
Benedict lächelte bitter. „Hätte ich am Tage der Priesterweihe empfunden, wie ich jetzt empfinde, keine Macht der Erde hätte mich in dies Gewand gezwungen. Sie vergessen, daß ich im Priesterseminar erzogen bin, wo alles Wollen und Können immer nur blind in die eine Richtung geleitet wird, wo keine Minute unbewacht und keine unbenutzt bleibt. Erst im Kloster fand ich Zeit zum Denken, fand ich mitten unter all dem äußeren Zwange Freiheit genug, mir selbst zu leben, und da erst kam das Erwachen – zu spät!“
Mit einem schweren Seufzer schien sich Rhaneck von dem peinigenden Gedanken losreißen zu wollen. „Wir wollen nicht um Vergangenes streiten!“ sagte er entschlossen, „die Gegenwart ist drohend genug. Du bist nach dem Stifte zurückberufen?“
„Ja.“
„Und Du wirst dem Rufe folgen?“
„Dem Befehle meines Abtes? Gewiß!“
Der Graf trat ihm hastig einen Schritt näher. „Du darfst nicht zurück, unter keiner Bedingung! Muß ich Dir erst sagen, was Dich dort erwartet? Warnt Dich nicht das Schicksal so manches Deiner Gesinnungsgenossen und bist Du nicht lange genug Mönch gewesen, um zu wissen, welcher Rache ein Kloster, welcher Rache Deine Brüder fähig sind? Und Du hast sie furchtbar gereizt, Bruno, Du hast ihnen den Fehdehandschuh ingeworfen – sie können Dir nicht verzeihen!“
Der junge Caplan lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stamm des Kreuzes und richtete das Auge fest auf den Sprechenden.
„Und was verlangen Sie denn, Herr Graf, daß ich thun soll? Wollen Sie etwa, daß ich dem bestimmten Befehl zur Rückkehr offenen Widerstand entgegensetze und es auf Gewaltmaßregeln ankommen lasse?“
Der Graf warf einen raschen Blick umher, Ottfried war weit genug entfernt, um keine Silbe des Gespräches auffangen zu können, dennoch sank seine Stimme zum Flüstern herab, aber sie bebte selbst in diesem Flüstern.
„Nein! Dir bleibt nur eins übrig, die Flucht! Schnelle, unverweilte Flucht – in ein anderes Land, wenn es sein muß,“ er schwieg einen Moment lang und ein schwerer Athemzug rang sich qualvoll aus seiner Brust empor, „wenn es sein muß – in ein anderes Bekenntniß.“
Benedict fuhr auf. „Und das sagen Sie mir, Graf Rhaneck? Der Bruder meines Prälaten, das Haupt des alten, streng katholischen Geschlechtes, das von jeher seine Ehre darin suchte, eine Stütze der Kirche zu heißen? Ein solcher Rath von Ihnen?“
„Wenn ich ihn Dir gebe, so magst Du die Größe der Gefahr daraus ermessen,“ sagte Rhaneck tonlos. „Was er mich kostet, das kannst Du nicht ahnen, Bruno, aber es gilt Deine Rettung, da ist mir kein Preis zu hoch.“
Es wehte aus diesen Worten wieder etwas von jener „wahnsinnigen Zärtlichkeit“, die der Prälat so oft schon seinem Bruder zum Vorwurf gemacht, auch Benedict fühlte das; aber sie fand keinen Anklang in seinem Innern. Befremdet, mißtrauisch trat er einen Schritt zurück und wieder traf jener große, verwunderte Blick den Grafen, aber diesmal lag ein entschiedener Argwohn darin.
„Ehe wir weitergehen, Herr Graf, möchte ich Sie bitten, mir diese ungewöhnliche Theilnahme an meinem Schicksale zu erklären!“ entgegnete er forschend. „Ich habe mich oft genug gefragt, welcher Beweggrund Sie zu so langjähriger und eingehender Fürsorge für einen fremden, armen Knaben veranlassen konnte, und habe nie eine Antwort darauf gefunden. Jetzt aber, wo Sie Ihre eigene Ueberzeugung zum Opfer bringen, wo Sie mit allen Traditionen Ihrer Familie brechen um meinetwillen, jetzt, scheint es mir, habe ich ein Recht auf diese Antwort. Ich bitte dringend darum.“
Die Haltung des jungen Priesters verrieth hinreichend, daß er trotz alledem nicht die geringste Ahnung von der wahren Beschaffenheit des Geheimnisses hatte, in das er einzudringen versuchte; der Graf sah ihn schweigend und unverwandt an.
„Du sollst es erfahren!“ sagte er endlich. „Es war beschlossen, ehe ich hierher kam, und es muß geschehen, ehe wir scheiden. Erst aber antworte mir, wirst Du fliehen?“
„Nein!“
„Bruno, ich beschwöre Dich –“
„Ich bleibe!“
Rhaneck machte eine heftige Bewegung. „Dieser unselige Starrkopf! Ich habe ihn so oft an mir selbst –“ er brach plötzlich ab. „Warum willst Du das Mittel nicht ergreifen, das ich Dir biete? Ich sage Dir doch, es ist das einzige.“
Benedict richtete sich hoch und fest auf. „Weil es mir mein Gewissen und mein Eid verbieten! Der Prälat mag mitleidlos sein bis zur Grausamkeit, aus gemeinen, aus persönlichen Beweggründen handelt er nie, und dem, was er im Namen des Ordens über mich beschließt, muß ich mich beugen. Ich habe den unseligen Schwur am Altare nun einmal geleistet, und wurde er mir auch längst zum Fluche, und stürzt er mich auch jetzt in’s Verderben, brechen kann ich ihn nicht! Mit demselben Rechte könnte sich ja auch der Gatte von der Gattin reißen, der er an jenem Orte Treue geschworen, könnte jedes Wort gebrochen, jedes Band gelöst werden, das die Menschheit in Liebe und Vertrauen aneinander fesselt. Was auf der Welt ist noch heilig, wenn es Altar und Eidschwur nicht mehr sind! Und müßte ich den meinen mit dem Leben bezahlen – ich bleibe und erwarte mein Geschick!“
Es war ein stolzes leidenschaftliches Aufflammen in diesen Worten, etwas von jener Gewalt der Rede, mit welcher der junge Priester neulich die versammelten Wallfahrer hingerissen, aber auf den Grafen übte das einen anderen Eindruck. Er stand da wie ein Verurtheilter. Das Auge am Boden, die zuckenden Lippen fest aufeinandergepreßt, das Antlitz war todtenbleich, aber über die Stirn lief wieder jener flammende Schein, der dunkler und dunkler ward bei jedem dieser Worte, die den stolzen Mann bis in’s innerste Herz hinein zu treffen und niederzuschmettern schienen – es sah aus, als wolle er zusammenbrechen unter ihrer Wucht.
Benedict fuhr mit der Hand über die Stirn und zog den Mantel, der bei der raschen Bewegung herabgeglitten war, wieder um die Schultern.
„Sie kennen jetzt meinen Entschluß, Herr Graf, er ist unwiderruflich. Und nun bitte ich meinerseits um die verheißene Antwort.“
Langsam hob der Graf das Auge vom Boden und heftete es mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf die gespannten Züge des Fragenden; Schmerz, Scham, verzweifelnde Bitterkeit, das Alles lag in dem einen Blick, dann wandte er sich stumm zur Seite.
„Ich bitte Sie!“ mahnte Benedict dringender.
„Nein!“ sagte Rhaneck dumpf „Jetzt nicht!“
„Aber Sie versprachen mir doch –“
„Nie!“ wiederholte der Graf leidenschaftlicher. „Ich sage Dir, Du erfährst es niemals, wenigstens von meinen Lippen nicht – Du selbst hast sie mir geschlossen.“
Der junge Priester schwieg. Er machte keinen Versuch weiter, in das Geheimniß einzudringen, dessen schon verheißene Enthüllung man ihm auf einmal so hartnäckig weigerte, aber der Argwohn lag wieder finster auf seiner Stirn und fremder und kälter als je trat er vor seinem Beschützer zurück.
Dieser strebte sichtbar, die Fassung wieder zu gewinnen, die ihm die leidenschaftliche Erklärung Benedict’s völlig geraubt hatte, er rief Ottfried herbei, aber als dieser, dem Rufe folgend, an seine Seite trat, schien er noch einmal zu schwanken. Es war, als dränge sich das verhängnißvolle Wort trotz alledem wieder auf seine Lippen, als wolle er dennoch einen Versuch der Versöhnung wagen; er wandte sich zu Benedict.
„Du bestehst also darauf, nach dem Stifte zurückzukehren?“
„Morgen Abend bin ich dort. Sagen Sie dem Prälaten, die Kraft, die er dem Orden erhalten wollte, sei ihm verloren auf ewig, aber ich wäre trotzdem des Wortes eingedenk gewesen, mit dem er mich beim Abschiede entließ: Ich sei zu Allem fähig, nur nicht zum Meineide!“
Der Graf zuckte wieder leise zusammen und die schon gehobene Hand, mit welcher er die des jungen Priesters ergreifen wollte, um ihn zu seinem Sohne zu führen, sank schlaff hernieder, stumm preßte er die Lippen zusammen. Von den beiden jungen Männern redete keiner ein Wort, sie standen sich gegenüber, finster, feindselig von einander abgewendet, nur mühsam den innern Groll zügelnd. Noch hielt die Gegenwart des Grafen sie in Schranken. Wenn diese Schranke fiel, so wiederholte sich vielleicht jene Scene im Walde, deren furchtbaren Ausgang er einst mit Mühe verhindert hatte. Er kannte freilich nicht die geheime Quelle, aus der jener Haß stammte, der den Beiden schon einmal die Waffen in die Hand gezwungen, und eben deshalb unterschätzte er die Gefahr, er ließ es bei seinem frühern Verbote bewenden, einander nicht feindlich zu nahen: ein ohnmächtiges Wort, ein Verbot sollte die volle heiße Leidenschaft der Jugend dämmen. Das eine Wort, welches allein der Feindseligkeit zwischen ihnen ein Ende machen und sie zur Versöhnung hätte zwingen können, blieb ungesprochen – der Graf ahnte nicht, was ihm dies Schweigen kosten sollte, und welche Qualen er damit auf sein eigenes Haupt herabrief.
Der Abschied war hastig und kurz von seiner Seite, eisig von Seiten Benedict’s. Rhaneck schlug, von seinem Sohne begleitet, den Rückweg nach dem Dorfe ein, während Jener den verspäteten Gang nach der Wallfahrtskirche antrat.
Pfarrer Clemens hatte nicht Unrecht, bei diesem täglichen Gange für seinen jungen Mitbruder zu fürchten, zumal in der jetzigen Jahreszeit. Es war ein einsamer und gefährlicher Weg, der nur Raum für die Schritte eines Wandernden bot. Rechts stieg der Fels jäh empor, links fiel er jäh ab in die Tiefe, steil bergabwärts wand sich der Pfad, über glattes Steingeröll, vorüber an stürzenden Bächen, an abgestorbenen Tannen bis zur „Wilden Klamm“. Schon in einiger Entfernung vernahm man das Rauschen und Tosen des Gewässers, das sich tief unten im Grunde sein felsiges Bett wühlt, zu beiden Seiten desselben stiegen die nackten Klippen schroff und steil empor, die Häupter so nahe zu einander geneigt, als wollten sie sich berühren. Es sah aus, als habe eine vulcanische Gewalt die mächtige Felswand gespalten und in zwei Hälften auseinander gerissen, zwischen denen nun der Fluß dahintobte. Eine schmale Brücke, roh aus Baumstämmen gezimmert, und mit einem schwachen Geländer nur als Stützpunkt für die Hand versehen, hing in halber Höhe der Felsen über der Schlucht. Nur ein matter Strahl des Tageslichts fiel von oben herein, gerade hell genug, um zu erkennen, daß die „Wilde Klamm“ ihren Namen mit Recht führte, man konnte nichts Wilderes sehen, als diese Scenerie von der Brücke aus. Der Blick schwindelte, wenn er oben in der Höhe das dunkle zerklüftete Gestein zu umfassen strebte, das, schwer niederhängend, jeden Augenblick bereit schien, herabzustürzen und den schwachen Steg zu zerschmettern; und er schwindelte, wenn er hinabsank im die Tiefe, wo das Wasser brausend und zischend dahinschoß, die schaumgepeitschten Wellen ewig am Fuße der Klippen brechend, die jäh ansteigend auch nicht einen Fuß breit Raum zwischen sich und dem wilden Elemente ließen. Wie Eiseshauch umfing hier die Luft den einsam Wandernden, sie legte sich feucht und kalt auf seine Stirn und wehte ihn an wie mit Grabesodem; hier galt es, nicht aufwärts und nicht niederwärts zu schauen, sondern fest und unverwandt auf den Steg vor sich zu blicken, wollte man ungefährdet hinüber.
Furchtlos betrat Benedict die Brücke, er ging den Weg ja seit Monden beinahe Tag für Tag; ohne das Geländer zu berühren, ohne auch nur die allergewöhnlichste Vorsicht zu brauchen, schritt er rasch vorwärts. Vielleicht gab sein schwindelfreies Auge ihm diesen Muth, vielleicht auch die Gleichgültigkeit gegen das Leben, die er vor Kurzem noch dem alten Pfarrer gegenüber ausgesprochen; und es war wohl Schlimmeres als bloße Gleichgültigkeit dagegen, was, in der Mitte der Brücke angelangt, seinen Schritt bannte und ihn so unverwandt niederschauen ließ in den kochenden Gischt da unten. Leise kam die Versuchung herangeschlichen, es war nicht das erste Mal, daß sie ihm an dieser Stelle nahte, er hatte sie bisher noch immer überwunden, aber heute, nach jenem Gespräch mit dem Grafen, das ihm deutlich verrieth, was er bisher doch nur dunkel geahnt, welches Schicksal seiner wartete, heute setzte er ihr nicht den alten Widerstand entgegen. Wie festgebannt hing sein Auge an dem finstern Schlunde, an dem Gewässer, das sich zischend und schillernd wie eine Schlange dahinwand, und leise wie mit Schlangenlauten tönte dies dumpfe Zischen zu ihm herauf, es gewann eine Sprache, die immer deutlicher, immer vernehmlicher an sein Ohr schlug, war sie doch nur das Echo seiner eigenen wühlenden Gedanken.
„Wozu dich in die Hand der Menschen geben, wenn die eigene das Geschick vollenden kann, dem du nun einmal unwiderruflich verfallen bist? Ein Sturz, ein letzter Aufschrei vielleicht – und die kalten Wellen schäumen hinweg auch über die heiße Stirn, die das Denken nun einmal nicht verlernen will, über das wilde glühende Herz, das nicht kühl und still schlagen kann unter dem heiligen Gewande. Und es ist doch Alles, Alles umsonst durch das eine unselige Wort, mit dem du dich der Kirche gelobtest, das dich bindet für Zeit und Ewigkeit! Es reißt dich los von dem Leben, das mit all’ seinen reichen Schätzen, mit all’ seinem sonnigen Glanze wie ein fernes erträumtes Wunderland einst vor dir auftauchte, um auf immer wieder zu versinken, es zieht dich wieder zurück in die alte Knechtschaft, in die dumpfen Hallen des Klosters. Gehorsam heißt ja das erste, das oberste Gelübde des Ordens, und der Mönch muß ihm folgen, wüßte er auch, daß der Weg, den man ihn gehen heißt, am Abgrunde endigt! Wozu den endlosen nutzlosen Kampf erneuern, dem doch nie der Sieg beschieden ist? Ein entschlossener Schritt, und die Kette ist gesprengt, die Last sinkt von deinen Schultern für ewig! Hinab!“
Benedict starrte noch immer unbeweglich hinunter in die Tiefe, aber schwer und schwerer stützte er sich auf das Geländer, das schon wankte und zitterte unter seiner Hand, es legte sich feucht und eiskalt auf seine Schläfe, tief und tiefer senkte er das Haupt – noch eine Secunde, und die weißen Wellenarme drunten, die sich so gierig nach ihm ausstreckten empfingen ihr Opfer.
Da auf einmal klang ein fremder Ton herüber, ferne, leise, halb verweht, aber er drang dennoch zu seinem Ohr, unwillkürlich hob er das Haupt und lauschte. Jetzt trug der Wind die Töne voller, mächtiger herüber, drüben in der Wallfahrtskirche hallten die Glocken und riefen zur Messe, die Kirche rief ihren Priester. Dort harrten die Andächtigen seines Erscheinens, und die geweihte Hand, die ihnen den Segen spenden sollte, hob sich in diesem Augenblick zum Selbstmorde!
Langsam zog Benedict den Arm zurück von dem Geländer, das in der nächsten Minute gebrochen wäre unter der Wucht seines Körpers, langsam richtete er sich empor und wandte das Auge weg von der verlockenden Tiefe. Die eherne Stimme der Pflicht suchte und fand ihn auf dem gefährlichsten Wege; diese längst ihres Zaubers entkleidete, so tief gehaßte und doch beschworene Pflicht, sie ward jetzt seine Retterin. Vergebens streckten die Wellen ihre Arme auf’s Neue nach ihm aus, vergebens lockten und winkten sie ihn zu sich nieder, der helle Glockenklang übertönte die dunklen Stimmen aus der Tiefe, mit einem schweren tiefen Aufathmen rang sich der junge Priester los von der Versuchung und schritt entschlossen weiter, die verhängnißvolle Brücke blieb hinter ihm, hinter ihm verhallte das unheimliche Brausen und Zischen, nur die Glockentöne zogen weithin durch die Luft, weithin über das Gebirge, und hochaufgerichtet festen Schrittes ging er den Weg, den sie ihm zeigten – zum Altar.