Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 6

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Inhaltsverzeichnis

„Ist Pater Benedict schon zurückgekehrt?“

„Noch nicht, Euer Gnaden!“

„Er soll sofort nach seiner Ankunft benachrichtigt werden, daß ich ihn zu sehen wünsche, und daß der Herr Graf Rhaneck ihn hier erwartet.“

Der Kammerdiener schloß die Thüren und entfernte sich, den soeben erhaltenen Befehl auszuführen; die beiden Herren, welche sich im Arbeitszimmer des Prälaten befanden, blieben mit einander allein.

Es war ein großes, mit fürstlicher Pracht eingerichtetes Gemach. Die schweren purpurrothen Seidenvorhänge des hohen Bogenfensters wehrten, zur Hälfte herabgelassen, den glühenden Strahlen der Mittagssonne den Eingang. An einem Tisch, der mit kostbarem Schreibgeräth, mit Briefschaften und Papieren aller Art bedeckt war, saß der Prälat im reichvergoldeten, mit dunklem Sammet überzogenen Lehnstuhl, während Graf Rhaneck von seinem Sitze ihm gegenüber aufgestanden war, und mit raschen, etwas ungeduldigen Schritten das Zimmer durchmaß.

Es war nicht schwer, in den Beiden gleich beim erstens Blick zwei Brüder zu erkennen, die Aehnlichkeit zwischen ihnen trat deutlich genug hervor: dieselbe hohe, imponirende Gestalt, dieselben großen blauen Augen, derselbe Schnitt des Gesichtes, mit dem gleichen Ausdruck eines unnahbaren Stolzes. Es waren offenbar Familienzüge, die Züge eines edlen, kräftigen Geschlechts, die sich in diesen regelmäßigen Linien wiederholten, und vielleicht war sie auch unter den Rhanecks erblich, jene eigenthümliche Linie auf der Stirn, gerade zwischen den Augen, die, in ruhigen Momenten kaum sichtbar, sich bei jeder Erregung zu einer drohenden Falte vertiefte, ein Zug von Härte, ja von Grausamkeit, der, wenn er erst einmal hervortrat, das Antlitz fast entstellte und ihm einen ganz anderen Charakter lieh.

Aber trotz aller Aehnlichkeit waren die Brüder doch verschieden genug von einander. Auf dem Gesicht des Prälaten lag kalte leidenschaftslose Ruhe, die Augen blickten so scharf und durchdringend, als seien sie gewohnt, Alles und Jedes, was ihnen nahte, bis in die innersten Tiefen hinein zu durchschauen und zu ergründen; die Haltung war ernst und gemessen und das bereits ergraute Haar, im Verein mit dem schwarzen Ordensgewande, ließen ihn um ein ganzes Theil älter erscheinen als den Bruder, obgleich in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein Jahr zwischen ihnen liegen mochte. Das volle dunkelblonde Haar des Grafen dagegen zeigte nur hin und wieder einige Silberfäden, das Auge war noch voll Feuer, die Bewegungen rasch und energisch, in Gang, Haltung und Ausdruck sprach sich eine Lebhaftigkeit aus, die in früheren Jahren wohl Leidenschaftlichkeit gewesen sein mochte, und die reiche Uniform, welche einen hohen militärischen Grad kennzeichnete, hob die Erscheinung des noch immer schönen Mannes noch um ein Bedeutendes.

Er wartete, bis sich die Thür hinter dem Kammerdiener geschlossen hatte, und nahm dann das vorhin unterbrochene Gespräch wieder auf.

„Du scheinst so zurückhaltend über Bruno. Giebt er Dir irgendwelchen Anlaß zur Klage, oder was ist sonst mit ihm?“

„Nicht doch!“ sagte der Prälat ruhig. „Pater Benedict fährt nach wie vor fort, sich unter all seinen Mitbrüdern auszuzeichnen. Er ist streng gewissenhaft in der Erfüllung seiner Pflichten und sehr eifrig in seinen religiösen Uebungen, nur allzusehr.“

Zu eifrig?“

„Ja, ich liebe es nicht, wenn meine jungen Mönche in diesem letzten Puncte allzu weit gehen. Diese ewigen Bet- und Bußübungen, dies fortwährende Fasten und Kasteien ist auf die Dauer nicht durchzuführen; es muß nothwendig einen Rückschlag erzeugen, der gefährlich werden kann.“

Der Graf lächelte. „Das mußt Du ihm zu Gute halten. Er ist nun einmal ein Schwärmer, ist es von jeher gewesen.“

„Es taugt aber hier nicht mehr!“ Die Stimme des Prälaten nahm unwillkürlich einige Schärfe an. „Ich habe schon öfter damit zu kämpfen gehabt. Das kommt aus den Seminarien mit seinen Idealen von begnadigter Priesterschaft, von ascetischer Weltentsagung und gottgeweihtem Leben und findet – ein Kloster, wie es eben in unserer Zeit besteht. Die Ernüchterung kann nicht ausbleiben, und was dann? Es will mir nicht gefallen, dies finstere, scheue Absondern von den Brüdern, dies fortwährende einsame Umherschweifen in den Wäldern, dies nächtelange Studiren und Brüten über den Büchern –“

„Und das machst Du ihm zum Vorwurf?“ unterbrach ihn der Graf rasch und beinahe unmuthig. „Du, der von jeher über die geistige Indifferenz und Trägheit Deiner Mönche klagtest! Ich begreife Dich nicht! Gerade dieser rastlose Wissensdrang im Verein mit seiner eminenten Begabung und seinem Feuereifer, das sind die Elemente, aus denen man die Stützen der Kirche heranzieht.“

„Oder die Apostaten!“

„Um Gotteswillen, Du glaubst doch nicht, daß Bruno –“

„Nein!“ sagte der Prälat. „Ich wiederhole es Dir, er hat mir noch keinen Grund zum Tadel gegeben; ich mißtraue nur dieser Richtung im Allgemeinen, und das muß anders werden, wenn er die Hoffnungen verwirklichen soll, die Du auf ihn setzest. Du schmeichelst Dir damit, in ihm dereinst meinen Nachfolger, vielleicht noch etwas Höheres zu sehen; Talent dazu hat er genug, aber ihm fehlt der freie Ueberblick, die Berechnung. Mit Beten und Kasteien, das einer untergeordneten Mönchskutte ziemen mag, erringt man keine hervorragende Stellung in der Kirche, noch füllt man sie damit aus. Er muß hinweg über das Schülerhafte des Neophyten, wenn er empor will, und daß er das noch immer nicht kann, flößt mir Besorgniß ein!“

Der Graf antwortete nicht, mit einem unterdrückten Seufzer trat er zum Fenster und schaute, den Vorhang zurückschiebend, hinaus in das sonnenbeschienene Thal. Der Prälat folgte der Richtung seines Blickes.

„Was sagst Du zu der neuen Nachbarschaft in Dobra?“ fragte er, plötzlich von dem soeben verhandelten Gegenstande abbrechend.

Rhaneck zuckte die Achseln. „Ich habe nicht geglaubt, daß die Seltenow’schen Besitzungen in solche Hände fallen würden!“ sagte er wegwerfend. „Es ist immerhin ein starkes Stück von diesem norddeutschen Bauer, sich so gerade in unsere Mitte hinzusetzen, als wäre er unseres Gleichen. Man ignorirt ihn einfach.“

Sehr ruhig stand der Prälat auf und trat gleichfalls zum Fenster. „Es ist von jeher Dein Fehler gewesen, Ottfried, die Gegner zu unterschätzen, und nichts rächt sich so schlimm wie gerade dies. Dieser Günther ist Keiner von Denen, die sich mit einem Stirnrunzeln und einem vornehmen Achselzucken abthun lassen. Man hatte allerdings die Absicht, ihn zu ignoriren; aber er kam uns zuvor und ignorirte einfach uns. Nebenbei ist er auf dem Wege, eine Macht in der Umgegend zu werden.“

„Warum nicht gar!“ fuhr der Graf auf. „Die Güter sind in Grund und Boden gewirthschaftet – er wird darauf zu Grunde gehen!“

„Ich fürchte, er bringt sie zu einer nie geahnten Höhe. Wo Graf Seltenow seinen Ruin fand, da findet dieser ‚norddeutsche Bauer‘ überall neue Hülfsquellen und deckt wahre Schatzgruben auf. Was er in dem einen Jahre schon geleistet, übersteigt alle Begriffe; seine Einrichtungen und Verbesserungen sind großartig, noch schlimmer, sie sind praktisch. Ich habe mir eingehenden Bericht darüber erstatten lassen. Geht das so fort, dann ist es allerdings keine Prahlerei mehr, wenn er behauptet, daß die Güter nach sechs Jahren das Sechsfache ihres bisherigen Werthes haben würden.“

„Nun, und wenn’s wäre, was geht das uns an?“ Der verächtliche Ausdruck lag noch immer um den Mund des Grafen. „Man wird dafür sorgen, daß er auf seiner Scholle bleibt. Uebrigens soll er ja, wie ich höre, ganz in seine wirthschaftlichen Angelegenheiten vertieft sein und gar nicht beabsichtigen, auf einem andern Gebiete irgend eine Rolle zu spielen.“

„Weil er noch fremd ist. Warten wir erst ab, wenn er festen Fuß gefaßt hat. Es ist immer gefährlich, wenn ein Fremder, ein Protestant, all die Arbeitskräfte der Umgegend an sich zieht und für sie eine Autorität wird. Es gährt ohnedies hier überall; man wird ihm gegenüber Stellung nehmen müssen.“

Der Graf hörte die letzten Worte kaum, er wandte sich hastig um, denn in diesem Moment wurde die Flügelthür von Neuem geöffnet und ein junger Mönch in der schwarzen Tracht der Benedictiner erschien auf der Schwelle.

Er konnte höchstens vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt sein, aber es lag nichts von Jugendfrische und Jugendleben in diesen Zügen, die Beides vielleicht nie gekannt hatten. Ueppiges dunkles Lockenhaar kräuselte sich um die hohe Stirn und umgab ein Antlitz, das selbst in seiner ascetischen Blässe und seinem Ausdruck finsterer Verschlossenheit noch schön zu nennen waren. Die kalte, fast eisige Haltung contrastirte seltsam mit dem düstern Feuer der großen tiefliegenden Augen, während das lange dunkle Ordensgewand den hohen Wuchs noch mehr hervortreten ließ. Er blieb schweigend, mit einer tiefen ernsten Verneigung an der Thür stehen, trotzdem er sah, daß Graf Rhaneck im Begriff stand, ihm entgegen zu gehen, und trat erst auf einen Wink des Prälaten langsam näher.

„Graf Rhaneck wünscht Sie zu sehen, deshalb ließ ich Sie rufen, Pater Benedict!“ erklärte dieser. „Du ziehst doch wohl vor, Deinen Schützling allein zu sprechen, Ottfried; ich will das erste Wiedersehen nicht stören. Im Cabinet findest Du mich.“

Er grüßte leicht mit der Hand und zog sich in das anstoßende Gemach zurück, Pater Benedict neigte sich, wie vorhin, tief und unterwürfig vor seinem geistlichen Oberherrn, der Graf aber trat jetzt auf ihn zu und bot ihm die Hand.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, ein volles Jahr lang nicht! Muß ich jetzt auch dem hochwürdigen Herrn Pater die Ehren seines neuen Standes geben, oder ist mir noch die frühere Vertraulichkeit und der weltliche Name erlaubt?“

Die Worte klangen freundlich und herzlich, und es war ein eigenthümlicher, halb froher halb düsterer Blick, der dabei forschend über das Antlitz des jungen Mönches glitt, aber dieser erwiderte die Begrüßung kaum, seine Hand lag kalt und still in der des Grafen, ohne dessen Druck zu erwidern, und seine Züge blieben unbeweglich, als er ablehnend sagte: „O, ich bitte, Herr Graf!“

Rhaneck lächelte. „Nun, der Vormund und ehemalige Beschützer kann auch wohl noch das alte Recht in Anspruch nehmen, nicht, Bruno? Also jetzt endlich ist das Ziel erreicht, dem Du von frühester Jugend an bestimmt wurdest, nach dem Du selbst mit allen Kräften gerungen hast. Du gehörst nun dem alten berühmten Orden an, der jedem seiner Mitglieder die Priesterwürde verleiht, zu dem ein Jeder das Wissen und den Beruf des Priesters mitbringen muß. Nicht wahr, es ist ein anderes Gefühl, als Geweihter des Herrn vom Altare auf die Menge herabzublicken, die sich um Deinen Segen drängt, als unter ihr verloren zu knieen und zu beten?“

Es zuckte etwas auf in den Zügen des jungen Priesters bei den letzten Worten, vielleicht zustimmende Begeisterung, vielleicht auch etwas Anderes, deuten ließ es sich nicht, denn die langen Wimpern sanken sofort nieder und verschleierten den Blick, er sah zu Boden.

„Vor allen Dingen muß ich Ihnen, Herr Graf, meinen Dank aussprechen, daß Sie mir dies Ziel ermöglichten. Nur Ihrer Güte allein verdanke ich meine Erziehung und Ausbildung, verdanke ich die Aufnahme in das Stift, die dem armen elternlosen Knaben, von niedriger Herkunft, wohl nie zu Theil geworden wäre. Ich fühle tief die Schuld –“

Ueber die Stirn Rhaneck’s lief eine glühende, schnell verschwindende Röthe, und hastig, beinahe ungestüm fiel er dem Redenden in’s Wort.

„Nicht doch, nicht doch! Nur nichts von Dank, von Schuld und dergleichen! Es war mein Wunsch, Dich diesem Stande gewidmet zu sehen, und ich bin überzeugt, Du wirst ihm Ehre machen. Mein Bruder stellt Dir das ehrenvollste Zeugniß aus, aber auch ihm gehst Du zu weit in Deinem rastlosen Eifer. Ich hoffte, Du würdest nach dem angestrengten Studium des Noviziats hier im Kloster endlich die Ruhe finden, deren Du so sehr bedarfst, statt dessen überarbeitest Du Dich nach wie vor, wachst ganze Nächte hindurch, gönnst Dir selbst auf Deinen Spaziergängen keine Erholung. Der Pater Prior sagte mir, als ich bei der Ankunft nach Dir fragte, Du lägest sicher wieder im nahen Walde und brütetest über irgend einem canonischen Werke, das Du mit Dir genommen. Bruno, wo soll das denn endlich hinaus?“

Der Vorwurf klang sehr milde, aber er mußte doch irgend eine wunde Stelle berühren, bei Erwähnung des Waldes schoß plötzlich eine dunkle Gluth in dem Antlitz des jungen Mönches auf und färbte brennend heiß Stirn und Schläfe, der Blick suchte scheu den Boden und die Lippen zitterten leise, dann plötzlich sanken die Blutwellen wieder, so schnell und stürmisch, wie sie aufgestiegen waren, und das Gesicht wurde erschreckend bleich.

Der Graf, dem dieser jähe Farbenwechsel nicht entgangen war, schaute ihn betroffen an. „Du bist krank!“ sagte er unruhig. „Dein ganzes Aussehen verräth es! Solchen Anstrengungen und Bußübungen, wie die Deinigen, muß schließlich selbst eine eisenfeste Gesundheit unterliegen. Wozu das Alles? Du bist jung, Du hast noch keine Schuld auf Deinem Gewissen, mache ein Ende mit dieser ewigen Pönitenz, werde endlich einmal wie Deine anderen Mitbrüder. Schone Dich, Bruno, ich bitte Dich darum!“

Er hatte die beiden Hände des jungen Priesters ergriffen und zog ihn leise zu sich, während sein Auge mit unverhüllter Besorgniß auf dessen blassen Zügen ruhte. Es lag eine seltsame Weichheit in Ton und Blick, eine Zärtlichkeit, deren man dies Gesicht und diese Stimme kaum fähig gehalten hätte; es geschah sicher nicht oft, daß Graf Rhaneck bat, aber der Eindruck dieser Bitte war anders, als er erwartete. Benedict machte eine Bewegung, als wolle er die Hand zurückziehen, und ließ sie dann, wie sich plötzlich besinnend, in der des Grafen, in seiner ganzen Haltung war etwas wie unwillkürliches Zurückweichen, wie instinctmäßige Abwehr, und in dem Blick, den er jetzt langsam emporhob, lag noch Schlimmeres, ein vielleicht unbewußter, aber tiefer und nur mühsam bezwungener Widerwille, als er ehrfurchtsvoll, aber eisig antwortete: „Sie sind sehr gütig, Herr Graf.“

Rhaneck ließ seine Hand fallen und trat zurück; er schien die Abweisung zu verstehen, aber jener verächtliche Ausdruck, der seinen stolzen Lippen so sehr zu Gebote stand, als er vorhin von dem „Bauer“ gesprochen, erschien diesmal nicht, wo er doch fast beleidigt wurde; wohl zuckte eine tiefe Bitterkeit durch sein Gesicht, aber sie hatte mehr vom Schmerz, als vom Zorn an sich.

„Du willst in mir immer und ewig nur den Gönner sehen, nie den väterlichen Freund!“ sagte er rasch und heftig. „Ich habe es nun bereits aufgegeben, bei Dir je eine Regung des Vertrauens der Offenheit zu finden. Immer diese unübersteigliche Kluft zwischen uns! und Du mußt Dir doch selbst sagen, daß Deine Stellung mir und der Welt gegenüber jetzt eine andere geworden ist.“

Benedict’s Wangen begannen sich wieder leise zu färben, aber diesmal war es unverkennbar die Röthe der Beschämung.

„Verzeihung, Herr Graf! Ich fühle tief mein Unrecht gegen den Mann, dem ich Alles danke, aber –“

„Aber Du kannst es nicht ändern! Laß gut sein, ich mag keine erzwungene Zuneigung, noch weniger eine erheuchelte. Wir werden uns jetzt wohl öfter sehen, da ich den Sommer über in Rhaneck zu bleiben denke. Für heute lebe wohl!“

Er wandte sich nach dem anstoßenden Gemach, aber auf der Schwelle zögerte er einen Moment, wie um eine nochmalige Annäherung Benedict’s zu erwarten, doch dieser verharrte unbeweglich auf seinem Platze, und mit einer raschen, unmuthigen Bewegung trat der Graf in das Cabinet seines Bruders.

„Ist die Unterredung schon zu Ende?“ fragte dieser befremdet aufblickend.

Rhaneck warf sich finster in einen Sessel. „Bruno ist wieder einmal unzugänglicher als je! Diese eisige Zurückhaltung und Verschlossenheit ist nicht zu überwinden!“

Der Prälat lächelte etwas hohnvoll und ein leiser Hohn lag auch in seiner Stimme. „Pater Benedict hat wohl wieder Deine Zärtlichkeit mit seiner unterwürfigen Kälte zurückgewiesen? Ich dachte es mir! Sonst wäre der Liebling nicht so schnell entlassen worden. Du thätest besser, sie Deinem eigenen Sohne zuzuwenden.“

Rhaneck fuhr auf. „Meinem Sohne! Und Bruno – ?“

„Ich meine den künftigen Majoratsherrn, Ottfried Grafen zu Rhaneck!“ Die Stimme des Prälaten klang scharf und schneidend. „Ihm allein bist Du diese Regungen von Zärtlichkeit schuldig, die Pater Benedict weder verstehen kann noch darf.“

Der Graf stützte den Kopf in die Hand. „Laß das ruhen!“ sagte er gepreßt. „Du weißt, in dem Punkte gehen unsere Ansichten auseinander.“

„Ja, nur allzusehr! Du wirst dieser Schwäche doch niemals Herr werden, das habe ich längst eingesehen. Du hast Recht, es ist am besten, der alte Streit bleibt ruhen. Laß uns davon abbrechen!“ –

Pater Benedict hatte inzwischen, als er sich verabschiedet sah, die Gemächer des Abtes verlassen und öffnete jetzt die Thür zu dem Kreuzgange, der die Prälatur mit den übrigen Räumen des Klosters verband. In dem schattig kühlen Raume gingen zwei Männer, im Gespräch begriffen, langsam auf und nieder. Der eine, gleichfalls ein Benedictinermönch, der Prior des Klosters, mit klugen, aber unangenehmen Zügen und stechenden schwarzen Augen, die einen eigenthümlich lauernden Ausdruck hatten, schien das Wort zu führen, während sein Begleiter mit einer Art unterwürfiger Freundlichkeit zuhörte. Es war ein Mann, schon hoch bei Jahren, er stand bereits auf der Schwelle des Greisenalters, die Kleidung eines Weltgeistlichen, die er trug, war sehr einfach, um nicht zu sagen dürftig, und doch schien sie mit ganz besonderer Sorgfalt in Stand gesetzt zu sein. Spärliches weißes Haar kam unter dem schwarzen Käppchen zum Vorschein, welches das fast kahle Haupt bedeckte. Das blasse eingefallene Gesicht verrieth zwar keine hervorragende Intelligenz, aber es hatte einen freundlich bescheidenen, ja demüthigen Ausdruck und in den hellen Augen, die das Alter noch nicht getrübt, lag etwas wie stille Resignation. Seine ganze Haltung hatte etwas Gedrücktes und Schüchternes, er fühlte sich offenbar nicht heimisch auf diesem Marmorfußboden und in der Gegenwart des Priors, der in gönnerhafter, vornehm herablassender Art zu ihm sprach.

Bei dem Eintritt Benedict’s verstummte die Unterhaltung und Beide wandten sich dem Eintretenden zu, der mit dem üblichen Klostergruße an ihnen vorüber wollte, der Prior hielt ihn jedoch zurück.

„Ist die Audienz bei dem Herrn Prälaten schon beendet?“

„Ja, Hochwürden.“

„So?“ Der Prior schien befremdet, er machte eine nachlässig vorstellende Bewegung mit der Hand. „Pater Benedict, der Jüngste unserer Brüder“ – und zu diesem gewendet fuhr er fort: „Sie kennen ja wohl den Herrn Pfarrer Clemens noch nicht?“

„Nein, Hochwürden.“

„Er ist unser Gast für einige Tage! Wird der Herr Graf Rhaneck heut zur Tafel bleiben?“

„Ich weiß nicht.“

Der Prior sah ihn mit einem Blicke an, der deutlich verrieth, wie wenig er mit diesen einsilbigen Antworten zufrieden war. Benedict schien das nicht zu bemerken, er wartete schweigend auf weitere Fragen seines Vorgesetzten, und als diese nicht erfolgten, neigte er sich wie vorhin, schritt durch den Kreuzgang, und verschwand durch die entgegengesetzte Thür.

Der Prior blickte ihm eine Weile nach und wendete sich dann mit dem Ausdruck unverstellten Hohnes zu seinem Begleiter.

„Da sehen Sie, Reverendissime, unseren zukünftigen Abt und Herrn – nach dem Willen des Prälaten und seines Bruders nämlich, die ihn schon als solchen betrachten.“

Der alte Pfarrer sah ihn fast erschreckt an. „Sie scherzen, Hochwürden! Dieser junge Priester!“

„Ist das Schooßkind des Prälaten, das Wunder des ganzen Klosters, man hat sehr hochfliegende Pläne mit ihm. Es ist nur ein Glück, daß mit dem Tode eines Abtes auch dessen Regiment aufhört, und die Freiheit der Wahl an uns zurückfällt. Pater Benedict müßte etwas weniger hochmüthig sein, und sich vor allen Dingen weniger Feinde unter den Brüdern machen, wenn er im Ernste von einer dereinstigen Erhebung träumen wollte, auf die jeder Andere denn doch mehr Anspruch hat, als er.“

„Mir schien in dem Wesen des jungen Paters nichts von Hochmuth zu liegen,“ wendete der Pfarrer schüchtern ein, „ich fand seine Haltung im Gegentheil unterwürfig und durchaus geziemend.“ Eifer ist mir verdächtig.

Der Prior zuckte verächtlich die Achseln. „Ja, die Klostervorschriften hat er trefflich eingelernt, und dennoch gebe ich Ihnen mein Wort, es ist der hochmüthigste Starrkopf, der je eine Kutte getragen. Sie haben es ja gehört. ‚Ja‘ und ‚Nein‘ und ‚Ich weiß nicht‘, weiter ist überhaupt nichts aus ihm herauszubringen. Blicken Sie einmal in seine Augen, ob da etwas von Demuth und Unterwerfung geschrieben steht, ich lese ganz andere Dinge darin. Wir werden noch etwas erleben an diesem Eindringling, der von Rechtswegen in einen Bettelorden gehört, und nicht in ein Herrenstift, das sich immer nur aus den ersten und besten Familien des Landes recrutirte und dies Privilegium bisher festgehalten hat, trotz aller Klosterregeln. Aber unser Herr Prälat wollte und Seine Gnaden haben uns Alle so trefflich in Zucht, daß kaum Einer es mehr wagt, sein Veto noch geltend zu machen, diesem allmächtigen Willen gegenüber, genug, die Aufnahme ward durchgesetzt.“

„Pater Benedict ist also von sehr niedriger Herkunft?“

Ein boshaftes Lächeln glitt über die unangenehmen Züge des Priors. „Wie man’s nimmt! Es heißt, er sei der Sohn eines ehemaligen Dieners des gräflich Rhaneck’schen Hauses. Bah, wozu geben solche Leute den Namen nicht her, wenn man es ihnen gut bezahlt! Thatsache ist, daß Graf Rhaneck ganz vernarrt ist in diesen – Schützling; er liegt seinem Bruder fortwährend mit Briefen, und jetzt sogar persönlich an, ihm das Kleinod nur ja recht zu behüten, und Pater Benedict weiß nur zu gut, unter welcher mächtigen Protection er steht. Er versteht es meisterlich, das noli me tangere im Kloster zu spielen, keinen von den Brüdern würdigt er seiner Unterhaltung oder seines Umganges, Alle hält er sie sich vornehm fern, er, der Jüngste, der nur aus besonderer Gnade hier Aufgenommene! Freilich, er weiß, daß er sich schlechterdings Alles erlauben darf und in Allem geschützt wird.“

„Aber ich hörte bereits den Eifer und den Fleiß des jungen Bruders rühmen,“ wagte der Pfarrer mit seiner leisen schüchternen Stimme zu bemerken.

Das häßliche Lächeln von vorhin trat wieder auf die Lippen des Priors. „O ja, daran fehlt es ihm nicht, aber gerade dieser Eifer ist mir verdächtig. Er denkt zu viel! Das ist an und für sich schon gefährlich im Kloster, am gefährlichsten aber unter dem Regiment unseres Prälaten. Nicht wahr, Herr Mitbruder,“ ein halb mitleidiger, halb verächtlicher Blick glitt dabei über die dürftige Erscheinung des Greises, „damit haben Sie sich wohl niemals abgegeben?“

Jener verstand den Spott nicht. „Nein,“ sagte er treuherzig. „Ich habe redlich und treulich meines Amtes gewartet, aber mich nie an Grübeleien gewagt, die für mein geringes Wissen und Verstehen zu hoch waren.“

Der Prior legte ihm mit gönnerhafter Miene die Hand auf die Schulter. „Recht so! Deshalb werden Sie auch dereinst ruhig auf Ihrer Pfarre sterben, während Pater Benedict – nun, ich mag nicht zum Propheten werden. Lassen Sie uns gehen, soeben läutet die Mittagsglocke. Ich will sehen, daß ich Ihnen nach der Tafel die gewünschte Audienz beim Prälaten auswirke.“

Die große, aus mehreren nebeneinanderliegenden Gütern bestehende Herrschaft Dobra war fast ein Jahrhundert lang in den Händen einer alten, reichen Adelsfamilie gewesen. Aber der Reichthum hatte mit der Zeit mehr und mehr abgenommen, und endlich war der letzte Rest desselben durch schlechte Bewirthschaftung und unsinnige Verschwendung, die, wie das meist zu geschehen pflegt, mit äußeren Unglücksfällen Hand in Hand gingen, dahingeschmolzen. Der letzte Graf Seltenow vermochte die über und über verschuldeten Besitzungen nicht mehr zu halten, und da bei dem notorisch schlechten Zustande derselben und den Anforderungen der Gläubiger, die sofortige Deckung verlangten, sich lange Zeit hindurch kein Käufer fand, so gelangten sie endlich für einen Preis, welcher allerdings gleichbedeutend mit dem Ruin des Grafen war, in die Hände eines Fremden, der wie vom Himmel geschneit plötzlich mitten unter die Großgrundbesitzer des Landes fiel, die in dieser Gegend ausschließlich aus dem hohen Adel und der Geistlichkeit bestanden.

Man wußte von diesem Günther eigentlich nichts weiter, als daß er bürgerlich und protestantisch sei; aber diese beiden Eigenschaften waren hinreichend für die gesammte Nachbarschaft, um sofort Front gegen ihn zu machen. Er ward als nicht umgangsfähig erachtet, und man beschloß, ihm dies bei der ersten Gelegenheit ein für alle Mal fühlbar zu machen.

Leider blieb diese so sicher erwartete Gelegenheit gänzlich aus, denn der neue Besitzer unternahm auch nicht das Geringste, was einem Annäherungsversuche ähnlich sah. Er machte weder die üblichen Besuche, noch suchte er überhaupt Umgang, ignorirte vielmehr die ganze vornehme Nachbarschaft so vollständig und beharrlich, daß diese ganz folgerichtig anfing, sich jetzt mit ihm zu beschäftigen, und in der That bot Dobra ihr Anlaß genug dazu, denn die neuen Schöpfungen wuchsen dort in nie geahnter Schnelle und Großartigkeit förmlich aus der Erde hervor. Der neue Gutsherr entwickelte eine so rastlose Thätigkeit, einen so riesigen Unternehmungsgeist und verfügte dabei augenscheinlich über so bedeutende Geldmittel, daß das anfängliche Achselzucken sich allmählich in Neugierde, dann in Staunen und zuletzt in Bewunderung verwandelte. Dazu kam, daß die ganz neue Art der Bewirthschaftung in dem Boden und den Wäldern Dobras Reichthümer zu Tage förderte, die Niemand dort geahnt und folglich auch Niemand nutzbar gemacht hatte; kurz, noch war kein Jahr vergangen, da hatte sich die Sachlage total verändert und es konnte den Gütern, denen man achselzuckend auch den Ruin des jetzigen Besitzers prophezeit, eine bedeutende Zukunft nicht abgesprochen werden.

Günther hatte in der That Recht, wenn er seine Güter „eingekeilt zwischen Clerus und Aristokratie“ nannte: das Gebiet des Stiftes einerseits und das von Schloß Rhaneck andererseits grenzten unmittelbar daran, allerdings die vornehmste Nachbarschaft der ganzen Umgegend, denn die beiden Grafen, welche den Namen Rhaneck trugen, der Prälat und der jetzige Majoratsherr, nahmen dort unbestritten den ersten Rang ein. Es war ein altes, reiches und mächtiges Geschlecht, dem sie entstammten, und es hatte sich, im Gegensatz zu manchen anderen Standesgenossen, die in der Neuzeit und an ihr zu Grunde gingen, diese Macht und diesen Reichthum zu bewahren gewußt, Dank einem alten Familiengesetz, das die Heirathen der jedesmaligen Stammhalter in einer Weise vorschrieb und regelte, die den Glanz des Hauses, das zu vertreten sie berufen waren, nur noch mehr hob und befestigte. Auch Graf Ottfried hatte sich diesem Herkommen gefügt, oder fügen müssen, bei seiner Vermählung, die ziemlich spät erfolgte. Als jüngster Sohn des Hauses hatte er keinen Anspruch auf die Familiengüter und stand als Officier im Dienste eines anderen Staates, als der plötzliche und unerwartete Tod seines ältesten Bruders – der zweite war von Kindheit an der Kirche geweiht und hatte bereits die Klostergelübde abgelegt – ihn zum Majoratsherrn machte. Kurze Zeit darauf heirathete er und zwar eine der reichsten und vornehmsten Erbinnen des Landes. Es war eine Convenienzehe, die, von beiden Seiten ohne Neigung und ohne Widerwillen geschlossen, beide gleich kalt ließ, aber über etwaige Differenzen half die vornehme Art zu leben hinweg. Man erwies sich vor der Welt die nöthigen Rücksichten, im Uebrigen ging ein jedes von den Gatten seinen eigenen Weg, und man war und blieb sich fremd, ohne jemals einander nahe zu kommen. Von mehreren Kindern, die alle im zarten Alter starben, war nur eins übrig geblieben, der junge Graf Ottfried, der als dereinstiger Majoratsherr und Erbe von Rhaneck schon jetzt eine bedeutende Rolle spielte und gegenwärtig als Officier in der Residenz stand, wo auch sein Vater, der längst aus dem fremden Dienst in den seines eigenen Souverains übergetreten war, eine hervorragende und einflußreiche militärische Stellung einnahm.

Letzteres war auch der Grund, weshalb die gräfliche Familie den größten Theil des Jahres in der Residenz zubrachte, Rhaneck wurde nur in den Sommermonaten benutzt. Es war eine jener malerischen, aber für die Entfaltung eines großen und glänzenden Haushaltes ziemlich unbequemen alten Burgen, an die man Jahre des Baues und Hunderttausende an Kosten verschwendet hatte, um sie möglichst historisch zu restauriren, und damit ein romantisches Stück Mittelalter mitten in die Neuzeit zu versetzen. Doch der Graf liebte es als das Stammschloß seiner Familie, vielleicht auch wegen der unmittelbaren Nachbarschaft seines Bruders, und so war er denn auch diesmal, in Begleitung seiner Gemahlin, zu dem gewöhnlichen Sommeraufenthalt hier eingetroffen, und auch der junge Graf wurde in diesen Tagen erwartet. –

Bereits waren mehrere Wochen vergangen, seit der Gutsherr von Dobra, der bisher allein dort gewohnt, seine junge Schwester hatte zu sich kommen lassen. In dem äußeren Haushalt hatte deren Ankunft wenig oder gar keine Veränderung hervorgerufen, denn so großartige Summen der neue Besitzer auch auf seine Güter verwendete, so anspruchslos zeigte er sich in Allem, was seine Person und seine nächste Umgebung betraf. Das Schloß, ein großes und trotz seiner Verwahrlosung doch in vieler Hinsicht prachtvolles Gebäude, war unter allen Dingen das letzte, was sich seiner Aufmerksamkeit erfreute. Er hatte eben nur diejenigen Räume in Stand setzen lassen, die für seine persönlichen Bedürfnisse nothwendig waren, und denen sich in letzter Zeit noch die Zimmer für seine Schwester und deren Erzieherin beigesellten; alle die übrigen Gemächer standen leer und unbewohnt, und der höchst einfache Haushalt, dem nur die nothwendigste Dienerschaft beigegeben war, ging auch nach der Ankunft der beiden Damen ganz in gewohnter Ruhe und Regelmäßigkeit seinen Gang.

In diese Ruhe und Regelmäßigkeit aber kam nun Fräulein Lucie wie ein Wirbelwind hineingefahren. Sie ließ keinen Menschen und kein Ding in Ruhe, kehrte das Unterste zu oberst und brachte mit ihren Einfällen und Neckereien oft genug das ganze Haus in Aufruhr. Noch viel zu kindisch, um sich an den Bruder oder die Erzieherin anzuschließen, fand sie im Gegentheil in den halberwachsenen Knaben des Inspectors die willkommensten Spielcameraden, und diese hoffnungsvollen Sprößlinge hatten nicht sobald die Entdeckung gemacht, daß Alles, was die junge Dame anstiftete, ungestraft passirte, als sie ihr nach Kräften dabei halfen. Jetzt verging kein Tag, an dem nicht Diesem oder Jenem im Hause irgend ein Possen gespielt ward, dessen Urheber sich wohl errathen, aber niemals erwischen ließ, und Letzteres um so weniger, als gewöhnlich die gesammte Haus- und Hofdienerschaft, deren erklärter Liebling Lucie gleich vom ersten Tage an geworden war, mit im Complot steckte. Man trug das junge Fräulein geradezu auf Händen; und obgleich Niemand vor ihren Koboldstreichen sicher war, und ein Jeder gewärtig sein mußte, daß morgen die Reihe an ihn kommen werde: wo die braunen Locken flatterten und die blauen Augen strahlten, da war auch Sonnenschein und es gab Niemand in ganz Dobra, der es vermocht hätte, diesem Sonnenschein gegenüber auch nur eine Stunde lang ernstlich zu grollen.

Günther erfuhr in Folge dessen nur selten etwas von solchen Vorgängen. Durch seine Thätigkeit meist draußen festgehalten, fand er in der That nicht viel Zeit, sich um das Haus und um seine Schwester zu kümmern. Im Ganzen behandelte er sie mit ziemlicher Nachsicht, wie ein verzogenes Kind, dessen Launen und Thorheiten man hingehen läßt, so lange sie unschädlich sind, und denen man mit einem einfachen Verbot ein Ende macht, sobald sie anfangen, unbequem zu werden. Er ließ Lucie meistentheils gewähren, sobald es sich aber um irgend eine ernste Angelegenheit handelte, schob er sie ohne Weiteres als gänzlich überflüssig und unzurechnungsfähig bei Seite. Freilich wurde das Selbstgefühl der jungen Dame dadurch auf’s Tiefste verletzt, aber sie hatte bereits hinreichend erfahren, daß bei dem Bruder mit Bitten und Schmeicheln ebensowenig auszurichten war, wie mit Schmollen und Weinen, und diese Erfahrung war denn auch die einzige Rücksicht, die ihrem Uebermuth einen heilsamen Zügel auferlegte, der sich, sobald Bernhard nur den Rücken wandte, Alles erlaubte und auch Alles erlauben durfte. Dieser Mann mit seinem scheinbar so nichtssagenden Gesicht und seiner so gleichgültigen Ruhe, die nichts überstürzte, aber auch nichts verzögerte, und stets zur rechten Zeit und am rechten Orte eingriff, wußte, wie er ganz Dobra in Respect hielt, auch seine junge Schwester in Respect zu halten, und letzteres war nach der unumstößlichen Meinung von deren Erzieherin jedenfalls das Schwerere von beiden.

„Nein, Lucie, das geht denn doch etwas zu weit! Ich sollte meinen, wir hätten Alle schon genug von Ihren Koboldstreichen zu leiden gehabt, daß Sie nun endlich Ruhe geben könnten, aber dieser letzte übersteigt wirklich alle Begriffe!“

Die Erzieherin, welche diese Strafpredigt hielt, während sie in aller Majestät einer zürnenden Gouvernante vor ihrem Zöglinge stand, gehörte nun allerdings nicht zu jener Kategorie, die Lucie in ihrem Protest dem Bruder gegenüber so treffend gekennzeichnet hatte. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf diese resolute Dame, um sie von dem Vorwurf der Nervosität ein für alle Mal frei zu sprechen, und wer die energischen Bewegungen sah, mit denen sie ihre Rede begleitete, kam auch nicht mehr in Versuchung, sie für steif zu halten. Fräulein Reich mochte bereits im Anfange der Dreißig stehen, konnte aber dessen ungeachtet noch für hübsch gelten. Groß und kräftig gebaut, mit starken, aber nicht unangenehmen Zügen, blond und helläugig war sie jedenfalls eine äußerst stattliche Erscheinung, und obgleich ihre Stimme jetzt in allen Tonarten des Zornes grollte, und sie dabei wie aus einem Donnergewölk auf ihre kleine zarte Pflegebefohlene herabblickte, machte dieser Zorn doch einen mehr komischen als widerwärtigen Eindruck, man konnte sich dabei des unwillkürlichen Gedankens nicht erwehren, daß es nicht so schlimm gemeint sei, als es aussah.

Fräulein Lucie saß in der Laube und zeichnete; sie hatte den Kopf tief auf die Arbeit herabgebeugt, ob aus Zerknirschung über die Strafpredigt, leider nicht die erste, die ihr gehalten ward, oder um das verrätherische Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls zeichnete sie sehr eifrig und beachtete ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht im Geringsten das Bitten und Schmeicheln ihres kleinen Hundes, der neben ihr auf der Bank lag und große Lust zum Spielen zeigte.

„Es ist himmelschreiend!“ eiferte die Gouvernante weiter. „Da hat die arme, alte Person, die Wirthschafterin, unglücklicherweise verrathen, daß sie abergläubisch ist, und seitdem spukt es allabendlich im ganzen Schlosse, auf allen dunklen Gängen und finsteren Corridoren, so daß Niemand von den Leuten sich mehr aus der Thür wagt und Frau Schwast beinahe krank geworden ist vor Schreck. Sie werden noch einmal ein Unglück anrichten mit ihren heillosen Einfällen!“

„Es spukt im Schlosse?“ fragte Lucie, indem sie den Kopf hob und ihre Gouvernante mit der unschuldigsten Miene von der Welt anblickte. „O, das ist ja merkwürdig!“

„Merkwürdig? Abscheulich ist es! Denken Sie, ich wüßte nicht, wer die gottlosen Jungen des Inspectors wieder zu der Gespensterkomödie angestiftet hat und wer eigentlich den ganzen Geisterapparat erfindet und leitet? Aber ich werde Herrn Günther die Sache vortragen, und dann gnade Gott den Gespenstern, wenn ihm eins davon in die Hände fällt!“

„Ach nein, sagen Sie nur Bernhard nichts davon!“ rief Lucie erschreckt; „es soll nicht mehr spuken, gewiß nicht mehr!“

Fräulein Reich schüttelte grollend das Haupt. „Also läßt man sich doch endlich zum Geständniß herbei. Sie sollten sich schämen, Lucie, so mit den Knaben herumzutollen, während Sie doch schon eine erwachsene junge Dame sein wollen, aber Ihnen steckt die Kinderei noch ganz und gar im Kopfe. Das ist überall und nirgends, das dreht und wendet sich mir unter den Händen mit Lachen und Schmeicheln, und während ich Sie wegen des einen Postens zur Rede stelle, sinnen Sie schon wieder auf einen neuen, der sicher hinter meinem Rücken ausgeführt wird. Das ganze Haus hilft Ihnen ja leider Gottes dabei, Alles haben Sie mit Ihren Thorheiten angesteckt, Alles ist im Complot mit Ihnen, man müßte hundert Augen und Hände haben, um solch einer Quecksilbernatur Herr zu werden. Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich nicht zu den Schwachen und Nachsichtigen gehöre, ich hatte auf der Schule in N. eine ganze Classe widerspenstiger, lärmender Schüler in Ordnung zu halten, und ich habe sie in Ordnung gehalten, aber mit einem solchen Wildfang wie Sie fertig zu werden, das versuche eine Andere – ich gebe es auf!“

„Was geben Sie auf?“ fragte plötzlich Günther’s Stimme, der unbemerkt den Gang heraufgekommen war, und jetzt in die Laube trat. Lucie fuhr von ihrem Sitze empor und sprang ihm entgegen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, daß sie dabei die Zeichenmappe vom Tische herabriß und die Blätter nach allen Richtungen hin auseinanderflatterten.

„Bernhard, vor einer Stunde war ein Bote des Baron Brankow hier, der Dir persönlich einen Brief übergeben wollte. Wir wußten nicht, wohin Du geritten warst. Hat er Dich gefunden?“

Günther nahm ruhig seine Schwester beim Arm und drehte sie nach dem Tische herum. „Willst Du nicht vor allen Dingen die. Güte haben, Deine Zeichnungen wieder aufzunehmen? – Was wollten Sie ein für alle Mal aufgeben, Fräulein Reich?“

Das Fräulein schien in dem heftigen Erguß von vorhin ihren Vorrath an Zorn so ziemlich erschöpft zu haben, und zum Ueberfluß stahl sich nun auch Lucie, die eiligst die umhergestreuten Blätter aufgerafft hatte, an ihre Seite. Sie legte schmeichelnd den linken Arm um ihre Gouvernante und lehnte den Kopf an deren Schulter, das Fräulein machte zwar einen unwilligen Versuch, sich zu befreien, aber es blieb bei dem Versuche, denn die kleine Hand hielt fest und die Antwort fand demzufolge auch in bedeutend herabgestimmtem Tone statt.

„Ich habe Lucien wieder einmal eine Vorlesung halten müssen, sie ist leider unverbesserlich!“

„So, nun da werde ich wohl einschreiten müssen!“ meinte Günther, dem das Manöver seiner Schwester nicht entgangen war. „Ich wollte Sie ohnedies bitten, nach auf einem Gang durch den Garten zu begleiten, da ich mit Ihnen etwas zu besprechen habe; Lucie mag inzwischen weiter zeichnen.“

Die kleine Hand lag noch immer schmeichelnd auf dem Arme, und jetzt unterstützten auch die Augen sehr beredt jene stumme Bitte; das Fräulein wandte denn auch zwar mit einer ärgerlichen Bewegung den Kopf seitwärts, aber aller Groll war aus ihren Zügen verschwunden, und triumphirend und gänzlich unbesorgt über den Ausgang des Gesprächs kehrte Lucie zu ihrem Sitz zurück, – weiter zu zeichnen. Sobald ihr die Beiden nämlich aus dem Gesicht waren, warf sie den Stift bei Seite, hob ihren kleinen Hund auf den Tisch, setzte ihn mitten unter die Zeichnungen und begann ihn zu necken, mit dem ersten Besten, was ihr in die Hände fiel, in diesem Falle mit dem Sonnenschirm ihrer Gouvernante, der unglücklicherweise neben ihr auf der Bank lag, und den sie nun ganz rücksichtslos den Pfoten und Zähnen des Thieres preisgab.

Die Besitzerin des mißhandelten Sonnenschirms schritt mittlerweile an Günther’s Seite durch den Garten. Seit seinem Erscheinen war in dem Wesen des Fräuleins eine merkwürdige Veränderung vorgegangen, sie zeigte sich nicht im mindesten geneigt, sich auf die vorhin so eifrig herbeigewünschte Autorität zu stützen, im Gegentheil, sie setzte sich ihr gegenüber in eine Art Kriegsbereitschaft, augenscheinlich entschlossen, ihren eben noch so hart gescholtenen Zögling auf Tod und Leben zu vertheidigen. Ob Günther etwas davon ahnte, oder ob er die Taktik des Fräuleins bereits kannte, genug, er ließ den eigentlichen Hauptgegenstand des Gesprächs vorläufig fallen.

„Ich habe soeben einen Brief des Baron Brankow erhalten,“ begann er ruhig, „eine Einladung zu dem morgen auf seinem Gute stattfindenden Feste. Die Sache kommt mir ebenso überraschend als unangenehm, da ich dem Baron weder einen Besuch gemacht, noch mich überhaupt jemals um ihn gekümmert habe. Man wird wohl seine Gründe haben, indessen die Zuvorkommenheit ist, äußerlich wenigstens, eine so auffallende, daß sie sich nicht zurückweisen läßt. Es würde aussehen wie eine Flucht vor der Nachbarschaft, und in den Verdacht möchte ich mich denn doch nicht bringen. Ich habe also angenommen.“

Das Fräulein hatte schweigend und sichtbar befremdet zugehört. „Und Lucie?“ fragte sie endlich.

„Lucie ist gleichfalls eingeladen, ich hatte auch die Absicht, sie mitzunehmen, da sie Ihnen aber Grund zur Klage giebt, so wird sie wohl zu Haus bleiben müssen.“

„Warum nicht gar!“ fiel das Fräulein halb erschreckt, halb entrüstet ein. „Sie wollen sie doch nicht etwa gar strafen, einer Kinderei wegen, um deren willen ich sie schon hinreichend ausgescholten habe? Das arme Kind!“ hier traf ein diesmal ganz und gar entrüsteter Blick den Gutsherrn, „das arme Kind sitzt tagaus tagein hier in Dobra, ohne passenden Umgang, ohne Altersgenossen; ist es da ein Wunder, wenn es auf allerlei Thorheiten verfällt? Und nun wollen Sie ihm auch noch das einzige Vergnügen rauben, das sich wirklich einmal darbietet! Lucie weint den halben Tag lang, wenn sie es erfährt, und das –“

„Können Sie nicht mit ansehen!“ vollendete Günther spöttisch. „Mir scheint, Fräulein Reich, wenn Sie auch mit Lucie nicht fertig werden können, Lucie ist längst mit Ihnen fertig geworden, wie überhaupt mit ganz Dobra.“

„Sie ausgenommen!“ ergänzte das Fräulein, aber wenn sie mit den Worten ein Compliment beabsichtigte, so verdarb sie Alles wieder durch den Nachsatz, der ihr im vollen Aerger herausfuhr. „Mit Ihnen ist überhaupt nicht fertig zu werden!“

„Meinen Sie?“ fragte Günther sehr gelassen, indem er die Arme kreuzte und sie mit unzerstörbarer Ruhe anblickte.

„Ja, das meine ich!“ erklärte Fräulein Reich, noch mehr gereizt durch diesen Gleichmuth. „Ich nehme mir die Freiheit, zu behaupten, daß ich denn doch zehn Mal lieber mit Luciens Quecksilbernatur zu thun haben will, als mit Ihrer entsetzlichen Gelassenheit, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, an der Alles abgleitet, was einen vernünftigen Menschen zur Verzweiflung treiben könnte, und vor der gleichwohl ganz Dobra zittert!“

„Sie ausgenommen!“ parodirte Günther, der den ganzen Ausfall hingenommen hatte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

„Ich?“ Das Fräulein hob sehr entschieden den Kopf; „ich habe in meinem ganzen Leben überhaupt noch vor Niemand gezittert, und vor Ihnen –“

„Am allerwenigsten! Bitte, scheuen Sie sich nicht, den Nachsatz auszusprechen, ich lese ihn doch deutlich genug aus Ihrem Gesicht.“

Fräulein Reich wandte sich ärgerlich ab, augenscheinlich bemüht, ihr heißblütiges Temperament niederzukämpfen.

„Ich habe es Ihnen vorher gesagt, als Sie mich von N. herberiefen,“ sagte sie kurz, „wir würden uns hier ebenso wenig vertragen, uns genau ebenso oft zanken, wie einst in unserem Dorfe, wenn Sie vom Forsthaus in das Pfarrhaus kamen.“

Günther zeichnete gleichgültig mit seiner Reitpeitsche Figuren in den Sand. „Ja, richtig! Sie konnten niemals Ruhe halten!“

„Bitte um Entschuldigung, Sie waren es, der nie Ruhe gab, bis der Zank im vollen Gange war; ich hatte genug zu thun, mich nur zu wehren.“

„Nun, was das Wehren anbetrifft –“ meinte Günther trocken. „Franziska Reich verstand es von jeher, dem ‚unerträglichen Bernhard‘ die Spitze zu bieten.“

Das Antlitz des Fräuleins überflog eine leichte Röthe bei dieser in früheren Tagen wahrscheinlich oft ausgesprochenen Reminiscenz aus der Jugendzeit. „Bernhard Günther ist inzwischen im Leben emporgekommen!“ sagte sie plötzlich ernst, aber ohne die geringste Bitterkeit, „und Franziska Reich ist die arme Pfarrerstochter geblieben, die sich als Gouvernante ihr Brod verdienen muß. Wir stehen nicht mehr gleich auf gleich wie damals.“

„Und doch lesen Sie Mir den Text genau so wie damals.“

„Werden Sie Lucie mitnehmen ?“ fragte das Fräulein kurz abbrechend.

Günther schien etwas verstimmt durch dies entschiedene Vermeiden des von ihm angeregten Themas. „Auf Ihre Verantwortung!“ sagte er ebenso kurz und wandte sich zum Gehen.

„Auf meine Verantwortung!“ bestätigte das Fräulein, indem sie ihm gleichfalls ohne alle Ceremonien den Rücken wandte und nach der Laube zurückkehrte, wo sie ihren Zögling noch im besten Spiel mit dem Hunde, und ihren Sonnenschirm unter den Zähnen des letzteren fand.

Die empörte Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen, sie warf den Hund vom Tische, setzte sich energisch in Besitz ihres Eigenthums und begann Lucien eine erneute Strafrede zu halten, worin sie ihr zu Gemüth führte, daß sie ganz und gar nicht der Vergünstigung werth sei, die man ihr eben noch ausgewirkt, aber Lucie ließ ihr keine Zeit zu endigen. Sobald sie erfuhr, um was es sich handelte, sprang sie mit einem lauten Schrei des Entzückens empor und überfiel die Erzieherin förmlich mit so ungestümen Liebkosungen, daß der kleine Hund, der mit jener ohnehin nicht auf besonders freundschaftlichem Fuße stand, auf die Idee gerieth, es gelte hier einen Angriff, und in pflichtschuldiger Unterstützung seiner jungen Herrin laut bellend nach dem Kleide des Fräuleins fuhr.

„Um Himmelswillen!“ rief diese empört, „wollen Sie mich von oben todtdrücken und von unten zerreißen lassen? Bringen Sie das kleine Ungethüm zur Ruhe und lassen Sie mich los, oder ich rufe um Hülfe!“

Lachend beruhigte Lucie den Hund, aber die Zeichenstunde fortzusetzen, erwies sich als unmöglich. Das ganze Köpfchen der jungen Dame wirbelte bei dem Gedanken an diese erste große Gesellschaft, die sie mitmachen sollte, zuerst kamen Erkundigungen über das Wo, Wie und Wann, dann wurde die Toilettenfrage erörtert – die Erzieherin sah, daß heute absolut nichts mehr zu erreichen war, sie gab den Unterricht auf.

„Lucie,“ sagte sie feierlich, „es giebt zwei Dinge auf der Welt, die ich noch zu erleben wünschte, aber leider liegen sie alle beide im Bereiche der Unmöglichkeit. Ich möchte den Menschen sehen, der im Stande ist, Sie zum Ernst und zur Vernunft zu bringen, und ich möchte das Wesen kennen lernen, das fähig wäre, Ihren Bruder auch nur um ein Haar breit von dem abzubringen, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat zu thun. Ihr Geschwister seid zwei Gegensätze, die nur eine Aehnlichkeit miteinander haben – es ist mit beiden nichts anzufangen!“

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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