Читать книгу Die Wächter - Elisabeth Eder - Страница 11

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7 Die Räuber

Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch ihr Fenster.

Verschlafen und mit zerzausten Haaren setzte sich das junge Mädchen auf und rieb sich die Augen. Gähnend stieg sie aus dem Bett, schlüpfte aus ihrem Nachtkleid in einen schmalen, langen Rock in dunkelgrauer Farbe und eine einfache Bluse in Weiß.

Der Geruch von gebratenem Fleisch drang ihr in die Nase, gewürzt mit Pfeffer und Salz. Wohlige Vorfreude breitete sich in ihr aus und sie trat hinunter in den Wohnraum.

Leyiho saß am Tisch, seine Gestalt gebeugt und frustriert. Er war riesig, hatte blondes Haar und braune Augen, sah ihr also nicht im Geringsten ähnlich. Trotzdem hatte sie in ihm immer ihren wahren Vater gesehen. Lächelnd holte sie sich ein Stück Fleisch aus dem Kessel, unter dem orangerote Flammen prasselten, legte es sich in eine Schale und nahm eine Brotscheibe von einem hölzernen Regal über ihr.

„Guten Morgen“, sagte Leyiho.

Sie setzte sich neben ihn und sprang dann noch einmal auf, um ein Messer und eine Gabel aus einer kleinen Lade zu holen. Draußen zwitscherten Vögel und der sanfte Geruch von Regen drang herein. „Guten Morgen. Hast du gestern viel verkauft?“, wollte sie von ihm wissen.

Leyiho schüttelte traurig den Kopf. Schweigend starrte er ins Leere, wie immer, wenn er sich Sorgen um das Geld machte, das ihnen fehlte.

Lya wusste, dass sie nicht wohlhabend waren, aber sie hatten meist genug Geld gehabt, um über die Runden zu kommen. Sicher, einige Winter hatte es gegeben, in denen sie gehungert und gefroren hatten, aber so war es bei den meisten Familien im Dorf der Burg Fuchsenstein. Sie erinnerte sich, dass es sogar angenehm gewesen war, bei eisiger Kälte für den Grafen zu arbeiten, da sie sich in warmen Gemäuern oder in der heißen Küche aufgehalten hatte.

„Ich habe dir einen Korb draußen hingestellt“, sagte Lya, nachdem sie schweigend zu Ende gegessen hatte. Sie legte Messer und Gabel in die Tonschüssel und brachte sie auf einen kleinen Tisch mit einer Waschschüssel.

„Habe ich schon bemerkt … Danke“ Leyiho lächelte.

„Ich muss gehen“ Sie umarmte ihren Ziehvater kurz, dann huschte sie aus der Hütte und fand Jastia zwischen einigen taufeuchten Pflanzen. Sie schnitt Himmelskräuter, die ihren Namen von den zartblauen Blüten hatten, die entlang des Stiels wuchsen und sich entfalteten wie kleine Sonnen. Lya winkte ihr zu: „Bis am Abend!“

„Viel Geduld, Liebes!“, rief Jastia zurück.

Lächelnd öffnete sie das vom Regen feuchte Gartentor. Einen Moment hatte sie das wundervolle Gefühl, in einer perfekten Welt zu leben. Es roch nach morgendlicher Frische, ihre Mutter stand im Garten und schnitt Kräuter, während ihr Vater daheim saß und sich über sein Essen beugte. Die Gräser rauschten im Wind, der Himmel färbte sich in einem kräftigen Blau und die Sonne ließ ihre rotgoldenen Strahlen zart über die Erde fallen.

Wehmut erfasste Lya unerklärlicherweise, dann wandte sie sich ab und marschierte über die grünen Hügel. Die Wiesen erwachten zum Leben und nahe des kleinen Wäldchens erblickte sie ein Reh, das sie kurz ansah und dann den Kopf wieder senkte, um zu grasen. Lya ließ ihre Seele wieder von der Farbenpracht erfüllen, die sie umgab, bis das große Schloss vor ihr aufragte.

Die steinernen Mauern blickten ihr entgegen. Die Fallgitter öffneten sich ratternd und eine Schar von Dienern und Mägden trat ein. Sofort stieß ihr der Geruch von Alkohol entgegen und als sie den Burghof betrat, hörte sie Graf Rutov fürchterlich schreien. Er erblickte seine Untergebenen und brüllte: „WAS STEHT IHR DA SO HERUM?! MACHT SAUBER!“

Lya starrte auf die zertrümmerten und zerbrochenen Bierfässer. Sofort kam Bewegung in die Versammelten. Stöhnend machten sie sich an die Arbeit, beinahe alle waren selbst noch von der gestrigen Feier betrunken und erschöpft.

„MACHT NICHT SOLCHE GESICHTER!“, zeterte Graf Rutov. „ALS WÜRDET IHR ES HASSEN, FÜR MICH ZU ARBEITEN!“

Daraufhin lächelten die Dienerinnen und Diener. Lya bemühte sich wenigstens um ein freundliches Gesicht. Kaum hatte sie den nach Bier stinkenden Hof überquert und war bei der großen Steintreppe angekommen, donnerte der Graf: „WIESO GRINST IHR SO?! FINDET IHR DAS LUSTIG, DIESE SAUEREI?!“

Lya eilte mit einem der Wasserkrüge aus Porzellan über den Hof, weil einer der Adeligen einen Ausritt machte und noch etwas trinken wollte. Ein Mann rannte schreiend in den Hof.

Der Aristokrat, neben dem Clemin bereits stand und die Zügel seines gesattelten Pferdes hielt, starrte ihn missbilligend an, dann zupfte er seinen Mantel aus Fuchsfell zurecht.

Lya erkannte den Händler Iudok und fragte sich, weshalb er so verschwitzt und abgehetzt aussah. Seine Kleider waren dreckig; offenbar war er mehrmals in den Schlamm gefallen. Keuchend fiel er auf die Knie: „Räuber – im – Dorf – Tote … überall …“

Das Gefühl, mit Eiswasser übergossen zu werden, breitete sich in Lya aus. Schreckensbleich starrte sie auf den Mund des Mannes, in der Hoffnung, er würde sagen, all dies sei ein schlechter Scherz. Ihre Knie begannen zu Zittern.

Allmählich begriff auch der hochgeborene Herr vor ihr, dass es sich um etwas Ernstes handeln musste. Hilflos drehte er sich zu ihr um: „Äh … informiere mal Graf Rutov, Magd …“

Nachdem die Starre gewichen war, spürte Lya ihr Herz gegen ihre Rippen trommeln. Immer lauter wurde es, bis ihre Brustknochen schmerzten. Alles in ihrem Kopf drehte sich, bis die durcheinanderwirbelnden Bilder sich auf eines geeinigt hatten: Das Haus von Leyiho und Jastia, die davor Kräuter sammelte. Himmelskräuter.

Rasch fasste sie einen Entschluss. Ihre Holzschuhe klapperten geräuschvoll am Boden, als sie auf das rotbraune Pferd zulief, das ungeduldig schnaubte und mit wild rollenden Augen tänzelte. Lya wusste, wie man ritt, Clemin hatte es ihr beigebracht. Mit dem Pferd wäre sie ein Dutzend Mal schneller als zu Fuß.

Sie schwang sich ein wenig ungeschickt in den Sattel und ergriff die Zügel: „Clemin – sag du dem Grafen, was los ist!“

„Was machst du?“, rief der Junge schreckensbleich.

„Ich reite zum Dorf. Ich muss wissen, was los ist!“

„Du bist verrückt!“, schrie Clemin.

Das Pferd scharrte unruhig mit den Hufen und schnaubte. Lya blickte Clemin mit einem aufgesetzten Lächeln an: „Ich werde schon nicht sterben.“

„Versprich es“, flüsterte er und trat langsam näher. Seine Augen waren voller tiefer Sorge und einem anderen Gefühl, dass sie nicht einzuordnen vermochte. „Lya, ich liebe dich. Ich kann es nicht ertragen … versprich es.“

Lya schwieg und schüttelte traurig den Kopf, in der Hoffnung, Clemins Herzschmerz ein wenig erträglicher zu machen, wenn sie nichts sagte. Natürlich liebte sie ihn nicht und ihre Familie war im Moment weitaus wichtiger als er. Sie gab dem Pferd die Sporen.

Unter lautem Hufgeklapper galoppierte es über die Brücke. Entschlossen war Lyas Blick nach vorne gerichtet. Der Boden raste unter ihr vorbei, die Berge wurden in einem düsteren Grau verwischt.

Das kleine Wäldchen kam immer näher, bald würde sie beim Dorf sein. Grimmig ritt sie weiter, bis sie plötzlich wilde Schreie hörte. Irgendwo in ihrer kühnen Entschlossenheit regte sich auf einmal der Verstand. Nervös lenkte sie das Pferd zwischen die wenigen Bäume. Diese umgaben sie schützend, die dunklen Schatten umschlossen sie. Von hier aus würde sie nicht gesehen werden.

Mit wild trommelndem Herzen beobachtete sie, wie Männer in geflicktem Gewand, Lederarmschienen, zerzausten Haaren, ungezähmten Bärten und gefährlich gebogenen Säbeln grölend, jubelnd und brüllend über die Hügel galoppierten. Ihr Ziel war offensichtlich: Burg Fuchsenstein.

Lya wurde immer kälter. Sie zählte um die hundert Männer, ehe sie es aufgab. Ihre Pferde schnaubten und galoppierten langsam; offensichtlich waren sie übermüdet. Mit wilden Schreien und Peitschenhieben wurden die armen Tiere weitergetrieben. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die Räuber, bis der Zug endlich vorbei war.

Lya trieb den Fuchs an und fand sich schon bald auf dem zertrampelten Gras wider. Viele Blumen waren jämmerlich zerquetscht worden, die Bienen waren verschwunden und die Vögel totenstill.

Mit eiskalten Wangen galoppierte sie mit ihrem Pferd über den letzten Hügel. Unter ihr bot sich ein Bild der Zerstörung und des Grauens.

Totenstille lag über Lyas Heimat.

Die Häuser waren beschädigt, teilweise zerstört und aus einigen kroch bereits dichter Rauch, der Feuer ankündigte. Schutt lag am Boden, Zäune waren eingerissen, Holzbretter lagen verstreut in der Gegend herum. Ein Wagen ruhte umgekippt auf der Hauptstraße, die beiden Esel, die ihn gezogen hatten, regungslos daneben. Sie waren noch angeschirrt. Tote, die sich verteidigen wollten, waren auf den Straßen, mit leeren, weit aufgerissenen Augen, das Gesicht voller Grauen. Blut klebte an Wänden, auf Brettern, an Glasscherben, überall. Langsam fing alles an, sich vor ihren Augen zu drehen.

Ängstlich lenkte sie das Pferd zwischen Trümmern, Leichen und Zaunteilen umher. Kein Verwundeter schrie. Alle schienen tot … nein … nein, sie waren nur versteckt und hatten Angst, dass die Räuber zurückkommen würden. Ja, sie versteckten sich … natürlich, das war nur vernünftig … Leyihos Haus stand noch. Lediglich das Gartentor hing schief in den Angeln und die Türe war weit aufgerissen. Die liebevoll aufgezogenen Pflanzen waren zertrampelt, eine angebissene, grüne Frucht lag am Boden. Achtlos kickte Lya sie mit dem Fuß zur Seite, als sie von ihrem Pferd stieg, dass sofort ein wildes Wiehern ausstieß und davonrannte. Sie blickte ihm nicht einmal nach. Vorsichtig, mit zitternden Knien, trat sie in die Räumlichkeiten. Ihre Augenwinkel brannten, als sie das Durcheinander erblickte. Die Schale, die sie in der Früh noch neben die Waschschüssel gelegt hatte, lag zerbrochen daneben. Der Kessel war achtlos auf den Boden geworfen worden, im Tisch war eine tiefe Kerbe zu sehen, wie von einem Schwert. Eines der Fenster war zersplittert. Die Glasscherben glitzerten wie weiße Blutstropfen am Boden. Sie starrte auf die Stiegen. Eine einsame Träne kühlte ihre ohnehin schon eiskalten Wangen. Zitternd ging sie hinauf. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Oben, vor ihrem Zimmer, lag, mit panisch aufgerissenen, leeren Augen und einer klaffenden Wunde in der Brust, Leyiho. Ein blutiges Messer lag neben ihm, er hatte eine schrecklich aussehende Beule an der Stirn. Mit einem erstickten Schrei sank Lya auf die Knie und klammerte sich an die Hand des Mannes. Es war, als würde ihr Herz anfangen zu bluten und dies in Form von Tränen äußern, die über ihre Wangen rollten. Alles in ihr drehte sich, sie fing an zu zittern. Von Trauer und Krämpfen geschüttelt, murmelte sie: „Papa … nein, Papa … Papa …“ Leyiho rührte sich nicht. Er war tot. Schluchzend sank ihre Stirn auf seine verwundete Brust. Sie fühlte das heiße Blut, das bereits zu trocknen begann. „Lya … Liebling …“ Sie riss ihren Kopf in die Höhe. Hoffnung wuchs in ihr, wurde größer und gab ihr Kraft. Rasch rappelte sie sich auf und lief in die offene Türe ihres Zimmers, aus der die Stimme ihrer Mutter gedrungen war. Das Fenster war weit aufgerissen. Auf ihrem Bett lag ein Bündel mit Kleidern, daneben waren einige andere Gewandstücke. Offenbar hatte ihre Mutter angefangen, zu packen … als sie sie erwischten. Lya starrte auf die zusammengesunkene Gestalt unter ihr. Das Kleid war am Bauch vollkommen zerfetzt, Blutspuren zogen sich über den Boden und sammelten sich in Lachen. Entsetzt sank Lya neben ihrer Mutter auf die Knie. Blut floss in Strömen aus ihrem Hals. Sie war bereits bleich und voller Schrammen, aber ihre Augen blickten immer noch liebevoll, als sie ihre Tochter musterte. Lya fühlte, wie ihr schlecht wurde. Das Kind … die Räuber hatten das Kind getötet! Sie schluckte die Übelkeit hinunter, ihre Augenwinkel brannten. Dann blickte sie zu ihrer Mutter, die sie am Handgelenk gepackt hatte: „Lya … ich … sterbe …“ „Nein“ Lya schüttelte wild den Kopf. Tränen spritzten auf den Boden. „Nein, nein. Mama, nein, das wirst du nicht. Ich bringe dich hinaus und … nein, Mama!“ Jastia lächelte sanft. „Der Brand … er wird … alles vernichten … nimm dein Bündel … und Nahrung … geh …“ „Nein, Mama!“ Verzweiflung machte sich in Lya breit. Tränen verschleierten ihre Sicht, sie fühlte nur den schwachen Griff um ihr Handgelenk. Sie packte die Hand ihrer Mutter und hielt sie fest. „Lya … flieh – geh … zu deinem Vater …“ Jastia schnappte nach Luft. Sie krampfte sich zusammen, als würde sie einen Hustenanfall unterdrücken. Ihre verzweifelten Augen wollten ihrer Tochter, die aufgelöst neben ihr kniete, das letzte Geheimnis offenbaren: „Er ist …“ Plötzlich bog sich ihr Rückgrat durch. Lya zuckte entsetzt zurück, als Jastia erschrocken dreinblickte … und plötzlich lächelte. Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Lyas Augen leuchteten auf. Dann sank Jastia zurück, ihre Augen verdrehten sich und ihr Körper schien in sich zusammenzusinken. Klein, zusammengekauert, blutverschmiert, mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen lag Lyas Mutter da. Sie hatte ihrer Tochter nie erzählen können, bei wem es sich um ihren Vater handelte, dass sie ihn geliebt hatte wie keinen anderen und dass er sicher stolz auf sie gewesen wäre. In Lya explodierte etwas. Es war, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Schluchzend warf sie sich über die Leiche, heulte, schrie und jammerte. Tränen flossen über ihre Wangen und tropften auf Jastias Gesicht, sie trauerte um ihren Vater, um ihre Mutter, um das ungeborene Kind, dass keine Chance gehabt hatte, nicht einmal die, zu leben, und um die zahlreichen Opfer der Räuber. Warum? Warum? WARUM? Sie wusste nicht, wie lange sie weinte, ehe sie das Geräusch des Regens hörte. Blinzelnd blickte sie auf, erhob sich zitternd und wankte zum Fenster. Mit rasendem Herzen starrte sie auf die verschwimmenden Umrisse des Dorfes im prasselnden Regen. Die Räuber … Einen Moment stockte sie. Diese rücksichtslosen Männer waren Schuld. Sie hatten Unschuldige überfallen und getötet. Sie zogen mordend durch die Länder, betrogen, stahlen, misshandelten und ruinierten alles. Alles. Familien, Freundschaften, Reichtum, Besitz, Herzen, heile Knochen … und den Frieden. Lyas Mund spannte sich an, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Die blauen Augen blitzten gefährlich, ihre Wangen wurden brennend heiß. Diese nichtsnutzigen, behinderten, kranken, sich von Alkohol ernährenden, barbarischen Hundebastarde! Mit einem wütenden Knurren fuhr sie herum, fand sich plötzlich auf allen Vieren wider, kümmerte sich aber nicht darum. Sie war erfüllt von dem Hass, der Wut, die ihr Kraft und Energie gaben. Wie eine Wildkatze rannte sie aus dem Zimmer, an Leyihos Leiche vorbei, die Stufen hinunter, in den Regen. Wasser fiel auf sie nieder, durchweichte ihr Fell und ließ ihre Nackenhaare aufstehen. Trotzdem roch sie alles, das Blut, die Angst, den Schweiß, den Schmutz und den Gestank, den die Räuber hinterlassen hatten. Sie sah die scharfen Umrisse des Gartentores vor sich und verharrte einen Moment lang so. Regen perlte an ihrem Fell entlang, tropfte von ihrer weichen Schnauze. Dann sprang sie mit einem gewaltigen Satz über den Zaun, landete auf allen Vieren und rannte die Straße entlang hinaus. Sie überquerte die Hügel, zwischen deren Gräsern sich Lacken bildeten und ihre Pfoten eiskalt badeten. Mit geschmeidigen, schnellen Bewegungen arbeitete sie sich zu den Bergen vor, die wie schwarze Schatten unheimlich in der Ferne aufragten.

Die Wächter

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