Читать книгу Die Wächter - Elisabeth Eder - Страница 5

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1 Das Leben eines Diebes

Kai kniete am Ufer des schmutzigen Flusses. Seine geflickten, dreckigen Stiefel hatten sich tief in den Sand gegraben, so lange lauerte er bereits an dieser schattigen Stelle. Schimmernde Farbspuren zogen sich durch das trübgraue Wasser, an den Ufern klebten grüne Algen, Dung und verschiedener Mist von den Menschen, die achtlos daran vorbeigingen und ihn wegwarfen.

Kaum jemand vermochte den unscheinbaren Jungen zu bemerken, der da unter der kalten Steinbrücke hockte und mit scharfen Augen ins stetig vorbeifließende Wasser starrte. Über ihm türmten sich die mächtigen Steinbauten Jamkas auf, die eckige Schatten über die Händler und Kaufleute warfen, die mit schweren Karren oben vorbeizogen. Das Geschrei der Tiere war zu hören, das Geräusch herumgeworfener Ware und das Gefluche verschiedener Fußgänger.

Plötzlich schnellte Kais Hand in das eisige Nass und zog ein Kästchen hervor. Zufrieden erhob er sich auf die Füße, rieb das fein gearbeitete Holz am Saum seines dreckigen Hemdes trocken und steckte es in die Hosentasche.

Er krempelte sich die Ärmel wieder hinunter und huschte an einer schmalen, nassen Steintreppe auf die Brücke, wo er sich prompt mitten im Gedränge widerfand.

„Aus dem Weg!“

Ein griesgrämiger Händler stieß ihn achtlos zur Seite. Er trug einen großen, geflochtenen Korb voller exotisch aussehender Früchte. Als er vorbei war, fehlte eine der leuchtenden Nektarinen. Kai hob eine Augenbraue, biss in die süße Frucht und dann ließ er sich vom Strom der Menschen forttragen. Gesprächsfetzen drangen ihm an die Ohren, manchmal rempelte ihn jemand unsanft an, lachende Kinder liefen zwischen den geschäftigen Menschen umher.

Kai musste sich regelrecht zu einer schmalen Seitengasse kämpfen, in der die fröhlichen Gespräche nicht mehr zu hören waren. Zwei Häuser aus Lehm und Stein ragten links und rechts von ihm auf, pechschwarze Lacken hatten sich am Boden gebildet, hölzerne Kisten stapelten sich in den Ecken und der Gestank von fauligem Fleisch lag in der Luft.

Ohne sich noch einmal umzudrehen lief Kai weiter und kam an eine Weggabelung. Zielsicher nahm er die linke Straße. Als hätte er sein Leben nichts anderes getan, huschte Kai durch das enge Gassenlabyrinth, nahm immer ohne zu Zögern einen Weg und tauchte in schützende Schatten, sobald jemand vorbeiging. Meist waren es nur Bettler oder harmlose Betrunkene, die herumtorkelten, aber einmal kam er an einer Patrouille von Soldaten vorbei.

Als er die knirschenden Schritte hörte und das leise Gemurmel aus tiefen Stimmen, warf sich Kai hinter einige Holzkisten und spähte vorsichtig durch einen groben Riss im morschen Holz. Er wagte nicht zu atmen, als die großen Gestalten mit Kettenhemden und Panzerungen an Schulter und Stiefeln vorbeigingen. Sein Blick blieb an den ledernen, pechschwarzen Wamsen hängen, das sie vor Attacken schützen sollte, an den langen, schmalen Schwertern, die mitsamt eines Dolches und eines Schlagstockes an ihren Gürteln ruhten.

Kai versuchte, durch die Silber glänzenden Helme in die Augen der Soldaten zu sehen, um abzuschätzen, ob sie bereit wären, etwas zu kaufen oder nicht. Einige der Soldaten kauften nämlich gelegentlich Straßenkindern wie ihm Wertgegenstände ab.

Allerdings verriet ein Teil ihres Gesprächs, dem er lauschte, dass Kai sich nie blicken lassen dürfte, selbst wenn sein Leben davon abhängen würde.

„… hat gesagt, dass wir in den Straßen ausschwärmen sollen und diese elenden Kinder mitnehmen müssen.“

„Schon wieder? Wieso?“

Der, der vorher gesprochen hatte, stöhnte genervt. „Ja, schon wieder. Sie werden zu Sklaven, Bediensteten oder sie gehen in den Soldatendienst.“

„Oder sie gehen in die Mienen, nicht wahr?“

„Oder werden verfüttert. Es gibt immer weniger Nahrung für die Dämonen. Wir müssen rasch etwas weiterbringen, sonst sind die gewöhnlichen Bewohner noch dran!“

Kai zog seine Brauen zusammen, als sich die Schritte entfernten und die Stimmen leiser wurden.

„Ja. Am Schlimmsten sind diese … wie sie heißen … keine Lust.“

„ … nicht Sorgen … genügend Sklaven.“

Als die schweren Schritte verklungen waren, entspannte Kai seine Muskeln und sprang lautlos auf die Füße. Die Soldaten schwärmten alle paar Wochen aus und nahmen jeden, der auf der Straße lebte oder auch nur so aussah, gefangen.

Er selbst hatte es immer wieder überlebt, aber trotzdem war jedes Mal Vorsicht geboten. Kai musste beinahe Grinsen, als er sich daran erinnerte, wie er sich vor einem halben Jahr einige Stunden in einer stinkenden Kloake versteckt hatte, um von den Hunden nicht gefunden zu werden.

Immer tiefer führte ihn sein Weg durch die Gassen. Rußgeschwärzte Häuser säumten seinen Weg, Abfallhaufen lagen neben Türen, in offenen Fässern schwammen gesalzene Fische mit penetrantem Geruch, schmutzige, halb zerstörte Kisten, Karren und zerrissene Stofffetzen lagen am Boden. Ein kleiner, blasser Junge hob mehrere davon auf, schreckte zusammen, als er Kai sah und floh mit großen, ängstlichen Augen rasch in eine der Seitenstraßen.

Kai wusste genau, dass er manchmal furchteinflößend wirkte. Er hatte braunes, ungezähmtes Haar und dunkelgrüne Augen, vor denen die Menschen oftmals Angst hatten. Seine Gesichtszüge waren zu fein geschliffen, als dass er ein reinblütiger Mensch hätte sein können, seine Ohren eine Spur zu spitz. Er hatte einen großen, schlanken Körper und trug meist dunkle Kleidung. Vielleicht machten ihn all diese Dinge für die Menschen unheimlich, aber womit er sich selbst manchmal erschrecken konnte, war sein Blick. Kai konnte mit Blicken buchstäblich töten, wenn er es wollte. Seine Augen waren – wenn er in den Spiegel blickte und vermutlich auch sonst – finster und leer.

Gründe dafür gab es viele, aber Kai verdrängte sie gerne. Nur manchmal brodelten die Gefühle und Erinnerungen in ihm und dann hatte er das Gefühl, zu bersten, wenn er seine Wut nicht an etwas oder jemandem ausließ.

Er blieb vor einer Steinmauer, an der Blutspuren klebten – woher kamen sie? – stehen und lugte misstrauisch auf das alte Gemäuer. Er tastete mit den Fingerspitzen nach seinem Dolch, steckte den eisernen Griff zwischen die Zähne und trat zurück, um Anlauf zu nehmen.

Mit einem katzenhaften Sprung fasste er an den obersten Rand und zog sich schwungvoll hinauf.

Er hockte einige Augenblicke auf der Mauer, nahm den von braunem Gras und blassgrünem Unkraut übersäten Innenhof in Augenschein. Ein Brunnen thronte in der Mitte, zwischen dessen losen Geröllbrocken Pflanzen wucherten. Wachsam suchten Kais Augen die Gräser ab, er besah sich das zertrampelte Gras genauestens, um ungewöhnliche Spuren zu entdecken.

Auch als sein Blick zu dem halb verfallenem Holzhaus wanderte, das mehrere Meter in die Höhe schoss, wobei einzelne Stockwerke eine Wand zu wenig besaßen oder das Holz verkohlt und morsch war, fand er nichts verdächtiges. Der Wind zischte wie immer über die verrosteten Dachziegel, die das Dach zu einem spitzen Turm formten. Die turmähnlichen Häuser dahinter wurden von der untergehenden Sonne in rotgoldenes Licht getaucht.

Eine kühle Brise kitzelte Kais Wangen und sein Blick wanderte nach links und nach rechts, aber dort waren nur die hölzernen Siedlungen der Armen zu sehen. Ein wenig weiter weg hörte er das Geräusch eines weinenden Jungen, eine Frau schimpfte, der Wind heulte. Schwarze Gewitterwolken ballten sich am Horizont zusammen.

Einige Dächer weiter stieg eine Rabenschar flügelflatternd und kreischend in den Himmel. Kai erkannte, dass sie sich um etwas stritten, das gerade seine letzte Zuckung hinter sich brachte.

Er landete leichtfüßig im hohen Gras und nahm den Dolch in seine Hände. Zielstrebig ging er auf das Haus zu, öffnete die quietschende Holztür und lugte hinein. Mehrere Stoffmatten lagen verstreut am Boden, das letzte bisschen Sonnenlicht fiel in zarten Strahlen durch feine Holzritzen in den Raum. Eine Katze mit feuerrotem Fell hockte in einer Ecke und blickte ihn mit großen, wachsamen Augen an.

Kai lauschte einige Augenblicke, aber nichts im Haus verriet, dass sonst jemand da wäre. Also steckte er sein Messer zurück in den Gürtel und marschierte die knarrende Treppe hinauf.

Ein Stockwerk weiter war die Wand zum Innenhof fast vollständig zerstört und offenbarte einen weiten Blick darüber. Verschiedene Holzbänke und Schemel waren hier aufgestellt. Oben, im letzten Stockwerk, das noch begehbar war, lag Kais Zimmer.

Die Wände waren vollständig erhalten, allerdings war ein großes Loch im Boden. Eine Decke, die frei von jeglichen Löchern war und eine schäbige Kommode waren in einer Ecke des Raumes, gleich unter einem Fenster, von dem aus er über die Armenviertel blicken konnte.

Kai trat zu seinem „Ausblick“ und ließ seine Augen über diese Viertel schweifen. Häuser waren niedergerissen worden und in den Schutthaufen gruben Jungen und Mädchen nach Wertschätzen. Stöcke waren in den Boden geschlagen und darüber spannten sich Decken. Verfallene, verkohlte und zerstörte Häuser säumten die Umgebung. Pflanzen schlangen sich an manchen Behausungen entlang und schienen sie verschlingen zu wollen. Sträucher und Kräuter wucherten bei einigen abgerissenen Zelten, vor denen sich verrostete Töpfe stapelten.

Wilde Hunde und Katzen streunten durch die Straßen und wühlten in Abfallbergen und überquellenden Müllfässern. Geduckte Gestalten huschten durch die Gassen, zerlumpte Kinder rannten mit bleichen Gesichtern und ängstlich an sich gepressten Gegenständen an Kais Haus vorbei. Eine Gruppe von Männern und Frauen mit zerrissenen Gewändern und blutenden Wunden am ganzen Körper humpelte ein paar Straßen weiter um die Ecke, ein alter Mann zog einen Karren voller schmuddeliger Säcke hinter sich her.

Kai lächelte, als er seinen Blick zum Horizont lenkte. Er konnte beinahe bis zu den saftigen, grünen Hügeln am Rande der Stadt sehen, die von der Ferne wie sanftes Gewässer wirkten. Dies war sein Reich. Das Reich eines Diebes, der in mancherlei Verbrechen die Fäden im Hintergrund zog. Viele bezeichneten Kais Verhalten als undurchsichtig und waren ihm gegenüber mehr als vorsichtig, andere sagten, er würde einmal der Herr der Unterwelt Jamkas sein.

Allerdings hatte Kai bereits Feinde aus größeren Kreisen als aus denen der armseligen Vierteln. Er würde bald Siebzehn werden, was hieß, dass er das Mannesalter erreicht hatte und als Mann war man gefährlicher und einflussreicher, weshalb einige Verbrecher und einflussreiche Händler, denen er mehrmals unangenehme Situationen beschert hatte, versuchten, ihn zu ermorden. Wobei sie nicht mit den schnellen Reaktionen und der unglaublichen Kraft des Diebes rechneten.

Kai sehnte den Tag heran, an dem er sich von den erbeuteten Schätzen seiner Diebe eigenständig ein Haus in den besseren Vierteln kaufen konnte und nicht mehr fürchten müsste, dass ein Brand oder ein Sturm alles zunichte machen würde, das er mühevoll aufgebaut hatte. Er würde seine Leute wieder beherbergen und viel größere Dinge durchsetzen als das Stehlen von Wertsachen. Vielleicht würde er auch Hehler werden. Kai wollte sich in ein paar Jahren zurücklehnen können, nachdem er die Banden vertrieben hatte, die die Stadt – und ihn – terrorisierten, sich vielleicht eine ehrliche Arbeit suchen und einfach nur seinen Frieden finden.

„Hey, Träumer“, sagte eine Stimme hinter ihm.

Kai fuhr herum, blitzschnell hatte er den Dolch gepackt und zielte auf sein Gegenüber. Ein Mädchen, vielleicht etwas älter als er, mit roten Locken stand hinter ihm und musterte ihn mit hochgezogenen Brauen.

„Ania!“, fluchte Kai und steckte den Dolch zurück. Er wusste nicht, wie sie es manchmal fertig brachte, sich so unauffällig und lautlos zu bewegen. Denn wenn sie durch die Straßen schlichen, war Ania keineswegs so still wie jetzt gewesen. „Kannst du nicht wenigstens eine Vorwarnung geben, wenn du hinter mir stehst?“

„Wo bliebe dann der Spaß?“, fragte sie und lächelte, aber in ihren Augen stand Besorgnis.

Kai wusste, woher die kam. „Dir sind die Blutspuren also auch aufgefallen.“

Ania schloss kurz die Augen, dann nickte sie und murmelte: „Ehrlich gesagt … sind die von mir.“

„Von dir?!“

Kais Augen funkelten bedrohlich. Ania nickte und drehte ihren Unterarm. Blutende, rote Kratzer waren auf ihrer zarten Haut zu sehen. Einige waren bereits verkrustet.

Finster sah er sie an, als sie mit zittriger Stimme fortfuhr: „Es war Brimir.“

Kai wandte sich der untergehenden Sonne zu. Dunkle Schatten krochen nun über die Häuser, fraßen das letzte bisschen Licht auf. Der schmale, helle Streifen am Horizont verblasste langsam zu einem violetten Ton und dann zu einem dunklen, satten Blau, das in das Tiefschwarz der Nacht überging.

Es herrschte Stille zwischen den beiden. Ania trat neben Kai, der die funkelnden Sterne betrachtete und die schäbigen Hütten nicht ansehen wollte, die unter dem Firmament lauerten wie ein finsterer Abgrund.

Schließlich sagte Kai: „Gut, ich werde mich darum kümmern.“

„Wer ist er?“

Kai hob den Kopf und blickte sie schweigend an.

Anias Kinn bebte, ehe sie trotzig das Kinn reckte und ihn anfunkelte: „Er kommt uns in letzter Zeit ständig in die Quere, Kai! Er verrät uns! Er hat eigene Männer! Brimir hat Jael schon getötet und unzählige verletzt! Wieso sagst du uns nicht, wer er ist?“

Der Dieb senkte den Blick. Bitterkeit und Trauer wallten in ihm auf. „Jael ist gestorben, weil er ihn herausgefordert hat, anstatt mit uns zu fliehen. Das weißt du.“

Ania schnaubte. „Und ob ich das weiß! Aber Jael wollte nur Klarheit, Klarheit über diesen verfluchten Brim-!“

Bevor sie zu Ende reden konnte, knurrte Kai: „Das ist eine Sache zwischen mir und ihm. Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst, Ania!“

Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und funkelte ihn unter ihrer Haarmähne heraus wütend an. „Wieso? Wenn er hierherkommt, um mich zu attackieren, dann habe ich doch das Recht, zu erfahren, was er überhaupt will!“

„Nein“, sagte er finster. „Das ist meine Angelegenheit.“

Ania schwieg.

Kai drehte sich um. Er presste die Kiefer fest aufeinander und knirschte mit den Zähnen. Draußen bellte irgendwo ein Hund. Und trotzdem war es merkwürdig still. Eine Stille, die Kai bewusst machte, dass draußen Gefahren lauerten, die sich in den tiefsten, unscheinbarsten Winkeln versteckten.

Er seufzte. „Hast du die anderen weggeschickt?“

„Musste ich ja wohl. Sonst hätte er es noch mitbekommen“ Kai hörte, wie sich Ania bewegte. Offenbar ging sie im Raum auf und ab. „Diesmal war er knapp dran, das Haus zu finden. Ich bin ihm entkommen, weil er alleine war. Ich hatte Glück. Wir hatten immer Glück! Wenn er beschließt, noch einmal hierherzukommen und sich beginnt zu fragen, warum ich bei dieser Mauer herumgelungert bin, dann ist er drinnen. Dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder sein Tod oder unserer, wenn er entwischt und nachher seine Freunde mitbringt!“ „Das ist mir schon klar!“, knurrte Kai. Er wollte niemanden töten oder seine Diebe in Gefahr bringen. Aber was konnte er gegen Brimir ausrichten? Nichts. Er hatte zu viel Macht über Kais Leben, als dass er ihm je wieder unter die Augen treten könnte. Solange Brimir ihn nicht fand, war alles in Ordnung. Ania seufzte resigniert. Sie gab es endgültig auf und beschloss, das Thema zu wechseln: „Hast du es?“ „Hm? – Oh … ja“ Kai erinnerte sich in dem Moment wieder an seine eigentliche Mission. Er fischte das Kästchen aus der Tasche und öffnete es geschickt. Zwischen roten, samtenen Pölsterchen ruhte eine blank polierte Goldmünze mit einem Adlerkopf. Er deutete grinsend eine höfische Verneigung an: „Aus der Zeit von König Adlerfaust!“ Er reichte es Ania mit einer dramatischen Geste. Sie rollte mit den Augen, nahm das Kästchen und musterte es fasziniert. „Das ist bestimmt ein Vermögen wert. Wie seid ihr da ran gekommen?“ Kai grinste listig. „Use hat den Händler abgelenkt indem sie ihm Fragen über diese Münze gestellt hat. Dann hat sie sie ‚unabsichtlich‘ in den Kanal fallen lassen. Ich habe einige Straßen weiter gewartet, bei der Kanalbrücke, und es herausgefischt. Und ich denke, Use ist rechtzeitig entkommen, bevor er sie einsperren lassen konnte.“ „Das war dumm“ Ania schloss das Kästchen mit einem leisen Klonk. „Jeder andere hätte es aus dem Fluss fischen können.“ „Nein“ Kai schob sich die Hände in die Hosentaschen. „Weil dort gerade ein paar Männer dabei waren, Fische auszunehmen und du weißt, die vertreiben jeden. Die einzige freie Stelle war bei der Kanalbrücke.“ „Die Fischmänner haben es nicht bemerkt?“ Ania runzelte die Stirn. Er zuckte mit den Schultern. Ihm war selbst klar, wie waghalsig sein Unternehmen gewesen war. Sie seufzte und warf das Kästchen achtlos auf Kais Schlafmatte. „Die ist bestimmt fünfhundert Goldmünzen wert. Verkauft es nicht unter dem Preis, wir brauchen das Geld!“ „Verkauf du es doch!“ Kai ärgerte sich, dass Ania manchmal mit ihm redete, als wäre sie die Herrin dieses Hauses. Dabei war sie genauso dankbar wie alle anderen, dass er sie aufgenommen hatte und das wusste er. Trotzdem reizte es ihn immer öfter, weil sich die Lage mit Brimir zuspitzte. „So was kann ich nicht“, lächelte sie jetzt, wie, um ihn zu besänftigen. Kai wusste, dass Ania ein kluges Köpfchen war und wagte es keine Sekunde, sie zu unterschätzen. „Da bist du besser. Wie auch immer, ich leg mich schlafen. Gute Nacht.“ „Nacht“ Sie verließ das Zimmer.

Kai starrte noch lange hinaus auf die Sterne. Die einzelnen Lichtpunkte funkelten ihm zu, blitzten und strahlten. Der Vollmond thronte über ihnen und schien über die Nacht zu wachen.

Aber er konnte nicht in die verborgensten Winkel der Stadt leuchten, die finsterer waren als jede Schlucht und er konnte auch nicht Licht und Hoffnung in die Seelen bringen, die verzweifelt, bitter und kalt waren.

„Trotzdem ist das Licht da und jeder kann frei entscheiden, ob er hineintreten will oder nicht“, murmelte eine Stimme in Kais Hinterkopf. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen legte er sich auf seine Decke und schlief ein, beruhigt von dem stetigen Rauschen des Windes.

Kai rannte. Riesige Gebirge türmten sich vor ihm auf, wie gewaltige Hindernisse. Er schlängelte sich hindurch, musste sich öfter ducken und vor den Schatten verstecken, die überall lauerten. Gefahr. Er spürte sie von überall. Sie kroch auf ihn zu, flüsterte ihm Drohungen und süße Versprechen ins Ohr. Auf einmal war er vor einem riesigen Schloss. Dunkel thronte es in einer zerklüfteten, grauen Ebene. Einzelne Bäume standen da, kahl und schwarz, die klauenähnlichen Äste gen Himmel gestreckt, der sich blutrot verfärbt hatte. Er raste auf das Schloss zu, konnte sich nicht mehr stoppen. Das Blut rauschte mit der Entschlossenheit in seinen Adern. Er musste die Gefahr besiegen, die in dem Schloss lauerte! Angst verwandelte sich in Stärke, Mutlosigkeit in Entschlossenheit. Sein Herz trommelte immer lauter, es hörte nicht auf, drohte zu zerspringen –

Er schreckte aus dem Schlaf. Über ihm donnerte der Regen gegen die Holzbretter. Eisiger Wind fuhr heulend durch die Straßen und zischte zwischen den Dachziegeln. Unruhig stand er auf, sein Herzschlag beruhigte sich langsam.

Die Kälte und Feuchtigkeit kroch zwischen die Dielen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch das Loch im Boden. Die Holzbänke und Schemel unter ihm waren vom prasselnden Regen ganz dunkel geworden, der Staub fortgewaschen, Rinnsale bildeten sich und flossen zu Lacken zusammen. Der Innenhof war in einem trostlosen Grau versunken, nur schemenhaft konnte Kai den Brunnen erkennen.

Aber sein Blick blieb nicht an den grellen Blitzen hängen, die draußen zuckten und für kurze Zeit die ärmlichen Stadtviertel erhellten. Sein Blick ruhte auf den Dielen. Schwaches Licht drang von unten hinauf, durch einen Spalt konnte Kai einen Mann erkennen, der unter ihm vorbeiging, dann war er verschwunden.

Eiseskälte legte sich über seinen Magen und schien ihn zu einem Klumpen zusammenzufrieren.

Wer war das?

Unsicher stieg Kai die Stufen hinab, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Das Rauschen des Regens wurde lauter. Kalte Tropfen trafen ihn wie Steine im Gesicht und durchnässten seine Kleider. Er presste sich gegen die Wand und schlich zur nächsten Treppe. Der Wind heulte und änderte kurz die Richtung, sodass ein stetiges Pfeifen zwischen den Dielen herrschte, das Kai fast alle Nerven raubte.

Dann hörte es auf. Der Sturm heulte leiser.

„Wir waren in Phyan, Ania. Dort herrscht Krieg. Es ist die Tote Ebene geworden, das weißt du! Keiner von uns ist mehr da“, drang eine Männerstimme zu ihm hinauf.

Kai kniff die Augen zusammen. Was redete er da? Ania war mit ihnen verbündet? Was war mit Phyan?

Das war doch die Kriegsinsel, wo Menschen und Elfen ständig miteinander kämpften. Ganze Armeen wurden jeden Tag zunichtegemacht, es war das „Zwischenland“, wie man es nannte. Die Länder waren in einem umgedrehten C geformt, soweit er wusste. Ein großer Gebirgszug an einem dünnen Landteil trennte das Elfenreich im Norden von Cinta, dem Menschenreich im Süden. Dazwischen lag noch, im weiten Ozean, Phyan. Früher hatten da wichtige Treffen stattgefunden, zwischen den verschiedenen Ländern, es war eine Insel des Verbundes gewesen, doch jetzt starben dort täglich Lebewesen in wilden Schlachten, seit König Zoltan den Elfen und Zwergen den Krieg erklärt hatte.

Was hatten diese Leute dort zu schaffen gehabt? Wer von ihnen hätte dort sein sollen? Und was hatte Ania damit zu tun? Wieso hatte sie ihm nichts von den Gästen erzählt?! „Das weiß ich nur zu gut“, sagte Ania geduldig. „Aber es hilft nichts, wenn wir deswegen kämpfend durch die Stadt ziehen.“ „Wir ziehen nicht durch die Stadt!“, widersprach der Mann, während Kais Neugierde wuchs. Was ging hier vor? Eine Verschwörung gegen den König? „Wir brauchen nur Zugang zu der großen Bibliothek!“ „Du denkst also immer noch ernsthaft, dass das Buch in der Bibliothek ist?“ Anias Stimme triefte vor Sarkasmus. „Natürlich wird Zoltan ein geheimes Buch über Phyan und dessen tiefste Geheimnisse, in dem die Vernichtung von einem der mächtigsten, alten Krieger aufgeschrieben steht, in der öffentlichen Bibliothek aufbewahren und nicht in seiner Burg, streng bewacht von Soldaten!“ „Wir haben verlässliche Quellen“, sagte der Mann. Wieder zuckte ein Blitz vom Himmel. Kai fuhr zusammen und schlang die Arme enger um den Körper, da ihm zunehmend kälter wurde. Im Donnergrollen, das darauf folgte, war nicht viel zu hören. Als die Leute unten wieder sprachen, waren sie beim nächsten Thema. „Du meinst, diese Diebe können uns dabei helfen?“, fragte der Mann skeptisch. Ania kicherte: „Natürlich! Sie sind geschickt, halten immer zusammen und der Anführer ist sehr klug. Noch nie wurde ein Leben wegen seinen Befehlen verschwendet oder ein unnötiges Risiko eingegangen.“ „Du scheinst ihn gut zu kennen.“ „Das tue ich. Er hat mich aufgenommen.“ „Wird er uns freundlich empfangen?“ Kai ballte grimmig die Fäuste. Tja, werde ich das? Ania zögerte kurz: „Lasst mich mit ihm reden. Ich werde es ihm schonend beibringen.“ „Zu spät“, hörte sich Kai sagen. Er stand auf und ging langsam die Treppe hinab. Sein Haar war nass und klebte ihm an Stirn und Wangen. Seine Hand ruhte auf den Dolch und er musterte die acht kräftigen Männer, die sich um Ania geschart hatten. Ohne seinen plötzlich schwindenden Mut zu zeigen, stellte er sich selbstbewusst in die Mitte des Raumes und musterte sie. Ihre Kleidung war nass, aber vollständig, sie schienen keine Adeligen und keine Bauern zu sein, sondern normales Fußvolk. Allerdings trugen sie furchterregende Messer. Ihr Anführer, ein breiter Kerl mit tiefschwarzen Augen und ebenso dunklen Haaren, trat vor. In seinem Blick spiegelte sich Misstrauen wider, aber auch Unglaube. Kai verspannte sich unwillkürlich und hob den Dolch: „Keinen Schritt weiter!“ Die anderen Männer zogen ebenfalls ihre Waffen. Der Dieb machte sich bereit, zuzuschlagen. Mit finsterem Blick musterte er die Bewaffneten. „Lasst“ Der Anführer trat zurück und warf seinen Männern einen warnenden Blick zu. „Ich will dich nicht verärgern“, sagte er zu Kai gewandt. „Das würde ich dir auch nicht raten“ Kai funkelte Ania wütend an und beachtete die Männer rings um ihn nicht mehr. Sie hatte sein Vertrauen gebrochen und leichtsinnig das Versteck preisgegeben! „Du brauchst einen guten Grund, warum du mir Männer ins Haus geschleppt hast, die mich töten werden!“ Er brüllte fast. „Es ist nicht so, wie du denkst“ Anias Stimme triefte vor Schuldgefühlen. „Sie sind Freunde von mir. Und sie werden dich nicht töten!“ „Schön“ Kai hielt den Dolch fest umklammert, seine Stimme klang wie klirrendes Eis. „Wenn ich mich recht erinnere, ist das mein Haus. Wieso lässt du sie hinein?!“ Ania seufzte. „Lass mich mal erklären.“ Der Dieb lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und musterte die Männer nach der Reihe, die zurückgetreten waren und ihn wachsam beobachteten. Er ließ sie nicht aus den Augen, die er nach wie vor zusammengekniffen hatte und murmelte: „Dann fang an.“

Die Wächter

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