Читать книгу Die Wächter - Elisabeth Eder - Страница 6

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2 Unerwartete Wendungen

„Das ist Exoton mit seinen Männern“, erklärte Ania. „Sie sind weit gereist, von Phyan bis hierher, um ein Buch zu stehlen, das sich in dem Besitz des Königs befindet. Die tiefsten Geheimnisse dieses Landes sind dort aufgeschrieben und können den König womöglich stürzen und die verstreuten Stämme des Landes vereinen.“

„Verstreute Stämme?“ Kai hob eine Augenbraue. Das schien alles ein schlechter Witz zu sein.

„Früher lebten auf Phyan kleine Stämme, die die Wächter genannt wurden“, erklärte Exoton auf einmal. „Sie wachten über den Frieden zwischen Menschen, Zwergen und Elfen. Allerdings wurden sie seit diesem Krieg gejagt und das schon über Jahre hinweg. Es besteht kaum noch Kontakt zwischen den Einzelnen, die verstreut auf der ganzen bekannten Welt leben. Viele sind bereits tot. Wir wollen unser Volk wieder vereinen.“

Wohl doch kein Witz. Diese Leute meinten es todernst.

„Ihr hasst Zoltan“, stellte Kai ruhig fest und steckte das Messer zurück, als Exoton vage nickte.

Er überlegte. Diese Männer waren kräftig und entschlossen. Er musterte sie der Reihe nach. Vielleicht ließ sich mit ihnen etwas anfangen. Ein Leuchten trat für kurze Zeit in seine Augen: „Wir Diebe werden euch helfen. Aber nur unter einer Bedingung.“

„Wie lautet sie?“, fragte Exoton und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust.

Kai lächelte. „Ich muss jemanden loswerden. Aus der Stadt schaffen. Sein Name ist Brimir.“

Einer der Männer lachte bellend: „Das dürfte zu machen sein, was, Exo?“

Der Anführer nickte. Das Flackern der Kerze tauchte die Hälfe seines Gesichts in einen dunklen Schatten, der seine Züge wölfisch aussehen ließ. Ania fixierte den Dieb mit ihren Augen und kniff leicht die Brauen zusammen. Noch immer war sie neugierig, wer Brimir war und was er mit Kai zu schaffen gehabt hatte.

„Ihr könnt hier schlafen. Macht es euch bequem“ Mit einer ausladenden Geste deutete Kai auf die Matten im Raum ringsum. Erneut krachte der Donner draußen und das Heulen des Windes wurde stärker. Es dröhnte in den Ohren der Versammelten und ließ Kais feine Nackenhaare zu Berge stehen.

Sein Blick glitt fragend zu Ania: „Du kommst auch von Phyan?“

Sie nickte vorsichtig. „Meine Eltern stammten von dort. Sie kannten Exoton und seine Männer.“

Kai starrte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an, die wie der Flügelschlag eines Vogels wirkte. Als ihm klar wurde, dass er keine Antwort von ihr bekommen würde, wanderte sein Blick zu der schmalen Treppe, die in den Keller führte. Der sanfte Geruch von Wein stieg hinauf: „Bedient euch, Freunde. Ania kann euch das Essen zeigen. Nehmt so viel ihr wollt, ihr müsst hungrig sein. Morgen erklärt ihr mir und meinen Dieben, wie der Plan aussieht.“ Aufrecht ging der König der Diebe über die Stiegen hinaus in das heulende Unwetter. Regen peitschte ihm ins Gesicht, ein Blitz zuckte vom Himmel, der tobende Wind rüttelte an seiner Kleidung. Kai fuhr zusammen und blinzelte, doch die Sekunden des Erleuchtens der Umgebung waren vorbei, endgültig weggewischt und es blieb nur prasselnde, nasse Dunkelheit zurück. Trotzdem war er sich sicher, dass er gerade in rauchiger Gestalt das Gesicht einer Raubkatze vor sich gesehen hatte. In dem Moment ging unten ein Ruck durch die Herzen der Versammelten. Ania hielt mitten in der Bewegung inne. Das Fackellicht beleuchtete Berge von Gemüse, Früchten, Broten und Wurststücken, Bier- und Weinfässer standen in einer staubigen Ecke. Flammen knisterten und fraßen sich die Fackeln entlang, das köstliche Essen duftete und ließ die Mägen der Männer knurrten, aber darauf achteten sie im Moment nicht. „Es ist so weit“, sagte Exoton und seine Stimme zitterte vor Ehrfurcht. „Die Neuen wurden auserwählt.“ Ania schluckte und ihr Blick wanderte kaum merklich nach oben. Kai musste es auch gespürt haben. Nicht umsonst bewachte sie ihn ihr ganzes Leben lang, sie wusste, dass er einer von ihnen war. „Nehmt euch“, wies sie die Männer leise an. „Es gibt genug für alle.“

Die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen, da kamen Kais Diebe aus den gräulichen, trüben Schatten der Häuser. Sie wirkten müde und nervös, aber sie waren am Leben. Er ließ sie hinein. Stumm setzten sie sich, warfen seinen neuen Gästen misstrauische Blicke zu, beließen es aber dabei.

Ania kam noch einmal zu ihm: „Danke, dass du hilfst.“

„Kein Thema“, antwortete er mit dem Rücken zu ihr. Er schloss die Tür hinter dem letzten Ankömmling und drehte sich dann um. Die Männer saßen auf den Tischen und versuchten ihr Missfallen über die neuen Verbündeten zu verbergen. Kais Diebe – mit zerrissener Kleidung, einigen Wunden und schmutzigen Gesichtern – hockten am Boden und spielten unruhig mit ihren Messern.

„Wer von euch ist Brimir begegnet?“, fragte Kai und musterte jeden Einzelnen.

Einige senkten die Köpfe und mieden seinen Blick. Durch die Dunkelheit konnte Kai gestochen scharf erkennen, wie sich einer seiner Diebe unruhig wand und dann aufstand: „Ich.“

Kai musterte ihn forschend. Mehrere Blutergüsse waren im Gesicht des Jungen zu sehen und er wirkte unnatürlich blass.

„Er … er …“ Der Kleinere schluckte und fummelte an seinem Hemd herum, dass nur noch aus Fetzen bestand. „Er hat eine Botschaft für dich … Du sollst dich heute Abend bei der Kneipe Zum goldenen Dolch einfinden, sonst tötet er dich. Er – er … weiß, dass das Quartier hier ist.“ Kai verspannte sich. Er spürte, wie ihm seine Gesichtszüge kurz entglitten. Seine Hand klammerte sich um das lange Messer in seinem Gürtel und er kämpfte darum, wieder die Fassung zu gewinnen. Schließlich räusperte er sich. „Dann müssen wir umsiedeln. Einige von euch werden heute den Tag damit verbringen, neue Häuser auszukundschaften. Darro, Iralia – Exoton und seine Männer wollen in die Bibliothek einbrechen. Im Gegenzug helfen sie uns, Brimir loszuwerden. Ihr spioniert die Wachzeiten dort aus und seht nach, wann sie geöffnet ist, klar? Nächsten Abend brechen wir ein.“ Die Diebe nickten und warfen den Männern im Raum neugierige Blicke zu. Exoton starrte Kai an. „Brimir also wieder. Wegen einem Mann verlasst ihr euer Quartier und verschiebt unseren Auftrag?“ Er versuchte nicht einmal, sein Missfallen zu verbergen. Die Jugendlichen hoben ihre schmutzigen, ausgemergelten Gesichter und blickten gespannt von einem zum anderen. Kai blieb unerschütterlich wie ein Fels: „Er ist gefährlich und nebenbei bemerkt kann die Bibliothek auch warten. Wir werden bald ein Quartier gefunden haben, höchstens in ein paar Stunden. Es gibt hier viele leerstehende Häuser.“ „Dann hoffen wir, dass du dein Wort hältst“, sagte Exoton mit zusammengezogenen Brauen und lehnte sich gegen die hölzerne Wand. Sein Auftrag war ihm wichtiger als die Angst der Diebe, die in seinen Augen nur Kinder waren, vor einem Mann. Kai unterdrückte den bitteren, aufbrausenden Ärger in seiner Magengegend, lächelte schmallippig und kalt: „Verlasst Euch drauf!“ Ein jäher Windstoß fuhr durch den Raum. Kai blickte zu dem Fenster und betrachtete die Straße. Goldenes Sonnenlicht kämpfte sich durch die Dunkelheit. Er lächelte breiter und sog den Geruch des Morgens ein, dann warf er einen Blick in die Runde und befahl: „Dann lasst uns nicht warten! Schwärmt aus und sucht ein Quartier. Ania, du und deine Freunde, ihr könnt euch nützlich machen und die Hausvorräte in Kisten packen. Lasst euch nicht von Brimir erwischen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder ab. „Wo gehst du hin?“, fragte Ania fordernd. Kai packte den Drehknauf der Tür und riss sie auf. Kühler Wind blies ihm ins Gesicht. „Ich suche Brimir.“

Natürlich tat er es nicht. Nie wieder würde er auch nur in die Nähe dieses Mannes kommen.

Kai marschierte durch schlammige Straßen und an Häusern vorbei, die an einigen Stellen zerstört und verkohlt waren. Die Blitze hatten reife Arbeit geleistet.

Der junge Dieb ging auf den Hauptplatz, wo die Händler ihre Waren bereits anpriesen und sich mehrere Leute drängten. Tiere brüllten und schnaubten, der Duft von Gewürzen, Fleisch und frisch gebackenem Brot hing in der Luft, bunt schillernde Gewänder wurden angeboten und glänzende Waffen lehnten an den Ständen. Funkelnde Edelsteine lagen in Kisten, Töpfe stapelten sich neben einem Geschäft und überall standen Menschen. Eine Gruppe von Künstlern vollführte gewagte Kunststücke auf Bällen oder auf Seilen, die sich zwischen Pfählen spannten, ein Dichter trug eines seiner Werke vor und eine Traube von jungen Mädchen hatte sich um einen Troubadour geschart. Irgendwo pries ein Händler den „kleinsten Mann der Welt“ an. Das Schnattern der Menge und das Schnauben und Brüllen der Tiere dröhnte laut an seinen empfindlichen Ohren, die weitaus besser hörten als die der gewöhnlichen Menschen.

Kai schlenderte hinüber, drängte sich durch die Menschenmassen. Er trat zu dem Mann, der neben einem großen Apfelbaum stand. Auf einer kleinen Bühne stand tatsächlich ein kleines Männchen, das Kunststückchen vollführte. Allerdings erkannte Kai an den spitzen Ohren, dass es sich lediglich um einen sehr kleinen Elfen handeln musste.

Er strich unauffällig zwischen den Leuten umher, scheinbar um besser sehen zu können. Als das Männchen sich verbeugte und die Menschen Geld auf die Bühne warfen – und damit den Elfen fast erschlugen – entfernte sich der Meister der Diebe unauffällig, mit fünf Geldbeuteln mehr am Gürtel.

In der Mitte des Platzes stand ein großer, steinerner Brunnen. Kai setzte sich an dessen Rand und beobachtete das Geschehen rings um ihn, während er sich Gedanken über die neue Situation machte. Sobald sie umgezogen waren, würden sie in die Bibliothek einbrechen. Danach ging es Brimir an den Kragen – Kai spürte grimmige Vorfreude in sich aufsteigen, als er daran dachte.

Knirschende Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken.

Vor ihm marschierten zwei Soldaten mit langen Schritten auf ihn zu.

Kai sprang auf und drehte sich um, um davonzulaufen, aber die Soldaten waren bereits zu nahe. Er wurde grob an der Schulter zurückgerissen und herumgedreht, ehe er in zwei schwarze Augen blickte, die gemein glitzerten. Der Geruch von Bier und Schweiß vermischte sich mit dem des Lederpanzers und Kai wurde beinahe übel.

„Woher hast du denn die Geldbeutel, Bursche?“, knurrte der Soldat.

Kai versuchte sich, aus seinem Griff herauszuwinden. Die Menschen wichen zurück und beobachteten interessiert das Schauspiel. Eine alte Frau krähte: „Sieh dir das an, Bodia, da werden sie gleich einen hängen!“ Getuschel wurde laut, einige Knappen johlten und klatschten.

„Sind meine! Lass mich los!“, rief der Dieb grimmig. Die Menge wurde wieder ruhig und wartete gespannt darauf, wie sich die Lage entwickeln würde.

Der zweite Soldat kam hinzu und drehte Kai die Arme auf den Rücken, sodass sie schmerzten. Stöhnend blickte er zu dem Mann vor ihm auf.

„Wo sind deine Eltern, Kleiner?“, fragte der Soldat und kniff die Augen zusammen. Die Leute deuteten nun mit den Fingern auf Kais abgerissene Kleidung. Schluckend suchten die Augen des Jungen eine Lücke oder Schwachstelle in der Menge. Aber solange er nicht von dem Soldaten loskam, waren seine Chancen gleich Null.

„Auf unserem Bauernhof, zu Hause!“ Kai wusste nicht, woher ihm dieser Geistesblitz gekommen war, aber er war dankbar dafür: „Ich habe ihre letzte Schafherde verkauft und muss ihnen das Geld bringen! Meine Mutter ist schwerkrank und mein Vater -!“

„Halt die Klappe!“, brüllte der Soldat. „Ich seh‘ doch, wenn ein dreckiger, kleiner Waisenlümmel vor mir steht! Du kommst jetzt mit auf die Wache -!“

„Kai!“

Der Ausruf ließ die verstummten Menschen auseinanderstieben. Der Soldat wandte das Gesicht ab und blickte mit hervorquellenden Augen auf den neuen Störfried. Kais Blut gefror ihm in den Adern, als er die Stimme erkannte, eine Stimme, die er oft gehört und zu fürchten gelernt hatte.

Beinahe wurde ihm Übel von dem schrecklichen Geruch des Soldaten. Die Sonne blendete auf einmal ungeheuer und von dem kühlen Windhauch war nichts mehr zu spüren. Nachdem ihm eiskalt geworden war, wallte Hitze in ihm auf, Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Ein großer, kräftiger Mann mit kahlem Kopf und dem schwarzen Tattoo eines Vogels ging gelassen auf das Spektakel zu. Der Griff des Soldaten lockerte sich ein wenig und der, der das Verhör führte, klammerte seine Hand um den Schlagstock: „Wer bist du jetzt?!“

„Ich bin sein Vater – Oh, Kai, was hast du nur getan? Wieso machst du deinen alten Herren so unglücklich?“ Rabenkopf – so wurde er von allen genannt – kam auf Kai zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Der Magen des Jungen krampfte sich zusammen. Rabenkopf war ein treuer Freund von Brimir.

„Das ist Euer Sohn?“ Der Soldat erinnerte sich daran, dass er eine Amtsperson war. „Dann lasst Euch gesagt sein, dass er ein kleiner Dieb ist! Er hat versucht, zu stehlen!“

„Das stimmt nicht“, erklärte Rabenkopf ernst. „Ich habe ein Antiquitätengeschäft und ihn mit dem Geld losgeschickt. Er sollte sich diese zerrissene Kleidung anziehen, damit niemand auf ihn aufmerksam wird. Er hat viel Geld bei sich, wisst Ihr?“

„Er hat uns vorhin angelogen!“, meinte der Mann mit zusammengekniffenen Augen.

„Oh, Junge … was hast du nur getan?“, fragte Rabenkopf mit täuschend echtem verzweifeltem Blick.

„Lass ihn los“, wies der Soldat seinen Begleiter an. Der tat das. Kai rieb sich die schmerzenden Schultern und ehe er einige Schritte von Rabenkopf wegtreten konnte, legte dieser eine starke Hand um seine Schulter: „Komm, Sohn, gehen wir.“

„Augenblick!“ Der Soldat zog seinen Schlagstock und deutete damit auf Kai: „Ist das dein Vater?“

Was blieb ihm anderes übrig als zu bejahen? Die gaffende Menge hatte erneut zu Tuscheln begonnen.

„Ja, Sir.“

„Dann geht“, schnauzte der Soldat. „Mit solchen lächerlichen Dingen verschwenden wir hier unsere Zeit!“

„Danke“ Rabenkopf machte eine übertriebene Verbeugung und sie drehten sich um. Der Mann nahm kein einziges Mal die Hand von Kais Schulter, als sie durch die Menschenmenge schritten. Die Leute musterten die beiden noch neugierig, dann setzten wieder die üblichen Gespräche, Feilschungen und der neueste Tratsch ein, während die Soldaten ihre Runden fortsetzten. Nur die alte Frau von vorhin blickte missmutig drein und verzog ihren faltigen Mund. Offensichtlich war ihr das Ganze zu unblutig abgelaufen.

„Da hab ich dir nochmal den Arsch gerettet, hm?“

Rabenkopf lachte leise.

Kai wand sich unruhig, aber der Griff des Riesen verstärkte sich dadurch nur noch mehr. Sie steuerten rasch von der Hauptstraße ab und kamen in eine kleine Nebenstraße, die kaum belebt war. Kai bekam von all dem nichts mit. Er roch lediglich den Urin, die Müllhaufen und das nasse Holz.

„Wohin bringst du mich?“

„Wirst du schon noch sehen“, knurrte Rabenkopf, dessen falsche Freundlichkeit endgültig abgefallen war. Kai biss sich auf die Lippe. „Wage es ja nicht, zu fliehen. Du weißt, dass es nicht gut ausgeht. Für dich.“

Jahrelange, schmerzhafte Erfahrungen hatten dem Jungen immer wieder deutlich gemacht, wie richtig Rabenkopf mit diesen Drohungen lag. Angst wallte in ihm auf und er senkte kaum merklich den Kopf.

Die abgerissenen Häuser, bei denen sie sich befanden, stapelten sich hoch in den Himmel, sodass die Gasse im Dämmerlicht lag. Nicht einmal mehr die Ratten huschten aus den dunklen Ecken davon und der Gestank war so bestialisch, dass Kai befürchtete, demnächst über eine Leiche zu stolpern.

Plötzlich blieb Rabenkopf stehen und einen Moment später wurde Kai an der Brust von einer starken Hand an die Mauer gepresst.

Die kalten Augen seines Gegenübers musterten ihn misstrauisch: „Ich weiß nicht, wo ihr kleinen Bastarde euch versteckt, aber Brimir hat’s herausgefunden. Er will, dass du am Abend zu ihm kommst.“ Der Junge rollte mit den Augen und erwiderte den Blick des Mannes trotzig.

Rabenkopf gab ihm eine gepfefferte Ohrfeige, die Kai beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. „Du sollst erscheinen, Kleiner.“

„Hab ich schon gehört“, fauchte Kai, aber seine Stimme zitterte leicht und seine Wange pochte unerträglich.

Ein dreckiges Grinsen zierte Rabenkopfs Gesicht. „Du wirst doch nicht etwa Angst haben?“

Er hob die Hand und schlug dem Jungen kräftig ins Gesicht. Kai biss sich auf die Lippen vor Schmerz, aber kein Laut drang aus seinem Mund.

„Die Tatsache, dass ich dich gefunden habe, ändert einiges an den Umständen, findest du nicht?“ Rabenkopf schlug Kai mit eisenharter Faust auf die Wange. „Ich hab dich was gefragt!“

„Vermutlich“, keuchte der Dieb.

Vermutlich?!“ Mit wutverzerrtem Gesicht prügelte der Mann auf Kai ein. Als er aufhörte, hing Kais Kopf kraftlos herunter. Haarsträhnen verdeckten seine Augen. Sein Atem ging keuchend, flammender Schmerz fuhr ihm über die Wangenknochen. Seine Lippe blutete vom ständigen Hineinbeißen, aus einer Wunde über der Augenbraue floss eine heiße Flüssigkeit über seine Augen und machte das Sehen schwer. „Lass mich gehen …“ „Das denkst du wohl selber nicht, du kleine Ratte!“, grinste Rabenkopf über ihm. Er packte grob sein Kinn und zwang Kais Kopf nach oben. „Jämmerlich.“ Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit brodelten in ihm. Er unterdrückte Schmerzenstränen und starrte den Mann über sich an, der sein Leben schwer machte, es sogar noch tat, wenn er nicht mehr in seinem Einflussbereich stand. Obwohl es jetzt schlecht aussah, was das anging. „Verschwinde, Rabenkopf!“ Er war sich nicht sicher, ob den Mann schon einmal jemand so genannt hatte. Klatsch. Die Ohrfeige landete sauber auf seiner Wange. Kais Kopf flog herum. Keuchend zwang er sich, in die dunklen Augen zu sehen. „Ich werde dich zu Brimir bringen, Kleiner“, sagte Rabenkopf hämisch und das Tattoo an seiner Stirn schien zu leuchten. „Der wird sich freuen.“ Der Mann packte ihn grob am Oberarm und zerrte ihn weiter. Kai stolperte, fiel auf die Knie und landete mit einem flappenden Geräusch im Matsch. Rabenkopf gab ihm einen Tritt, der ihn von den Knien riss und quer über den Boden legte. „Steh auf, Missgeburt!“, knurrte der Mann und fuhr fort, den Körper des Diebes mit Tritten zu traktieren. „Nimm das Geld“, stöhnte Kai. Die Tritte hörten auf. Mit einiger Anstrengung gelang es Kai, sich auf den Rücken zu drehen und sich aufzusetzen. Rabenkopf kniete sich nieder, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. Kai erwiderte seinen Blick, obwohl sein Herz ihm beinahe aus der Brust sprang und er nichts mehr wollte, als zurückzuweichen. Er sagte ruhig: „Brimir wird es mir abnehmen. Ich werde ihn heute Abend sowieso sehen. Er wird dir nichts geben. Du kannst es jetzt nehmen und damit verschwinden. Niemand wird davon erfahren.“ „Wieso sollte ich es nicht an mich nehmen und dich dann Brimir ausliefern?“, fragte Rabenkopf gehässig. Kais Augen blitzten kurz triumphierend auf. „Weil ich es ihm dann erzählen werde. Und du weißt, wie er auf diese Dinge reagiert.“ Rabenkopfs Blick verfinsterte sich. Kurz huschte Angst über seine Züge, aber er hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Dann streckte er abwartend die Hand aus: „Los, beeil dich gefälligst, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, kleiner Mann!“ Kai löste die Geldbeutel von seinem Gürtel. Einer nach dem anderen landete in den Pranken des vor ihm Knieenden. Schließlich erhob sich Rabenkopf und gab Kai einen gezielten Tritt auf den Brustkorb. „Wenn du nicht kommst, dann holen wir dich!“ Der Junge kam hart auf der Erde auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, aber er gab keinen Laut von sich, sondern lauschte, wie sich Rabenkopfs stampfende Schritte entfernten. Der Geschundene lag mit schmerzenden Knochen im Schlamm und lächelte. Er war Brimir ein weiteres Mal – anders als sonst – entkommen.

Die Wächter

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