Читать книгу Die Wächter - Elisabeth Eder - Страница 12

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8 Ein Schneeleopard im Wald

Lya sprang rasch in die schützenden Schatten. Dunkle Zweige, Äste und Büsche ragten neben ihr auf. Knurrend sprang sie weiter, zwischen aus der Erde ragenden Felsen umher, an Wurzeln vorbei und über kleine Flüsse.

Irgendwann begann sie zu keuchen. Sie wurde langsamer und betrachtete ihre Umgebung eingehender. Die Wut war längst verflogen, das Gefühl von Hunger und Kälte hatten sich in ihr breitgemacht. Unsicher blieb sie stehen und starrte hinab auf das schlammbedeckte, schneeweiße Fell und die scharfen, schwarzen Krallen. Sie roch Wasser. Nicht den Regen, der gegen das Blätterdach trommelte und den Waldboden feucht machte. Flusswasser.

Die Pfoten des Raubtieres wühlten den Boden auf. Es duckte sich unter Farnen und Kräutern, die seine Haut streiften und unter kleinen, schattenhaften Ästen, die im Weg waren. Die Pfoten hinterließen tiefe, schwere Abdrücke im aufgewühlten Schlamm. Schließlich wurde Lya fündig.

Vor ihr rauschte ein Fluss, der sich tief in den Boden gegraben hatte, dank dem Unwetter allerdings hoch stand. Sie blickte hinein und zuckte zusammen, denn ein schneeweißer Leopard mit blauen Augen blickte ihr entgegen. Die feinen Schnurrhaare standen elegant von der Schnauze ab, die Ohren zuckten nach vorne, als sie sich für ihren Anblick interessieren zu begann und das Fell verschob sich leicht, als sie ihre geschmeidigen Muskeln bewegte, um den Kopf zu senken und mit der Zunge Wasser in ihre ausgetrocknete Kehle zu schöpfen.

Lange kauerte sie auf diese Weise da. Die schwarzen Punkte auf ihrem Fell wirkten wie von Künstlerhand aufgetragen. Allerdings würde das schneeweiße Fell ein Problem darstellen – so war sie für jeden sichtbar.

Dann kam ihr der Gedanke, dass ihre Verwandlung mit dem Wutanfall zu tun gehabt, den sie bekommen hatte. Oder von der seltsamen Erscheinung des Leoparden, der ihr die Kette überreicht hatte. Die Kette!

Sie starrte zu ihrem Fuß. Da war sie, das Lederband hatte sich im Fell ihrer Tatze vergraben, der Diamantschlüssel verschmolz mit dem Weiß der feinen, dichten Haare.

Was sie auf die Frage zurückführte … Warum war sie ein Leopard? Konnte sie wieder Menschengestalt annehmen? Wenn ja, wie? War sie eine Art Hexe, dass sie das konnte? Sie war dafür strafbar, ohne die Erlaubnis des Königs Magie auszuüben … Oder kam das davon, weil ihr Vater ein Elf war und ihr so gewisse Fähigkeiten vererbt hatte?

Lya schüttelte leise den Kopf. Das war nun nicht von Bedeutung. Sie war weggelaufen und würde nicht so schnell auf diese lächerliche Burg zurückkehren. Vermutlich waren dort bereits alle tot. Leid tat es ihr um niemanden. Außer um Clemin. Schlechtes Gewissen überfiel sie, dann wandte sie sich ab und ging zu einem Baum mit dickem Stamm.

Sie benutzte ihre scharfen Krallen, die sich in das Holz bohrten, um hinaufzuklettern und suchte sich einen Platz in der dichten Krone, umgeben von smaragdgrünen Blättern. Lya legte sich in einer bequemen Position hin – soweit man es als bequem betrachten konnte, in einem Leopardenkörper auf einem Baum zu liegen – und ließ ihren Kopf auf den großen Pranken ruhen.

Sie schloss die Augen. Kopfschmerzen überfielen sie, ebenso wie die Müdigkeit von der Aufregung und dem langen Lauf. Schneller, als ihr lieb war, glitt sie in einen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Tag fand sie heraus, dass es nicht einfach war, von dem Baum wieder hinunterzukommen. Auf allen Vieren glitt sie zum Wasser und senkte den Kopf, um zu trinken. Goldenes Licht fiel zwischen den Bäumen auf den Waldboden und wärmte ihr Fell. Sie streckte sich, wobei sie die Vordertatzen in den Boden grub und gähnte. Sie stellte sich vor, wie die spitzen Reißzähne entblößt wurden und entschied, dass sie einen furchterregenden Eindruck machte.

Lyas Magen grollte.

Was sollte sie essen? Sie hatte ja nicht einmal das Bündel mitgenommen, das ihr Jastia hergerichtet hatte. Ein schmerzlicher Stich überfiel sie. Sie schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich auf ihre jetzigen Probleme. Essen. Sie brauchte Nahrung.

Wäre sie doch nur ein Mensch! Kaum hatte sie das gedacht, stand sie auf allen Vieren – wie ein Kleinkind – mit blutverschmierter Bluse und grauem Magdrock auf der Lichtung. Rasch richtete sie sich auf, ging zum Fluss und kniete sich nieder, wusch Gesicht und Hände und hängte sich die Lederkette mit dem Diamantschlüssel um den Hals. Sie versteckte sie gut unter ihrer Bluse. Dann starrte sie auf die Farne und Büsche ringsum, auf denen Beeren wuchsen. Lächelnd rappelte sie sich auf, ging hin und pflückte einige, wusch sie im Fluss und aß sie. Lya suchte den halben Tag nach essbaren Früchten und Kräutern. Sie bekam einiges an Nahrung zusammen. Allerdings fehlten ihr Brot und Fleisch, doch sie wusste, dass sie nicht jagen würde können, schon alleine nicht, weil sie dafür töten musste. Dann fand sie flussabwärts etwas, dass ihr Herz höher schlagen ließ: Wilde Apfelbäume! Sofort nahm sie sich einen der goldgelben Äpfel und biss herzhaft hinein. Süßer Saft ergoss sich über ihre Zunge und sie schloss zufrieden die Augen. Nachdem sie einige dieser Früchte gegessen hatte, fragte sich, was sie machen sollte. Der letzte Wille ihrer Mutter war gewesen, zu ihrem Vater zu gehen. Lya überlegte. Sie wusste nicht, wer ihr Vater war, aber sie wusste, wo er war, sollte er leben und sich nicht in Gefangenschaft befinden: Im Waldreich. Sie ahnte, dass sie dort anfangen müsste, zu suchen, auch wenn sie vielleicht auf grausame Elfen stieß. Seufzend rief sie sich die Karte Cintas ins Gedächtnis. Wenn sie durch die Kette reiste, dann würde sie unerkannt bleiben. Außerdem gehörten Schneeleoparden bekanntlich in die Berge. Sie würde nicht auffallen, das war ein großer Vorteil. Lya würde die ganze Kette entlanglaufen – vermutlich in ihrer Leopardengestalt – und dann am Rande, zwischen dem weiten Ozean und dem großen Grenzgebirge, ins Waldreich gehen. Sollte sie bis dahin überleben, dann würde sie weiter darüber nachdenken. Entschlossen ging sie zum Fluss. Sie betrachtete ihre verdreckte, blutbeschmierte Kleidung und zog sich aus, wusch das Gewand im rauschenden Wasser, breitete es auf Felsen aus und legte sich selbst hinein. Die Kälte umfloss ihre Haare und ließ sie im Wasser treiben. Entspannt starrte sie auf das Blätterdach über ihr und lauschte dem Gesang der Vögel. Hin und wieder knackste ein Zweig. Lya stieg aus dem Wasser und sah sich unbehaglich um, doch natürlich war niemand in der Nähe. Leopard!, dachte sie und schon fand sie sich auf vier Pfoten und in einem wärmenden Pelz auf dem Waldboden wider. Zufrieden begann sie einen kleinen Streifzug. Kleinere Tiere wichen vor ihr zurück, die Vögel hörten mit ihrem Gesang auf, als sie vorbeikam. Ein gefährliches Raubtier zog durch den Wald und niemand wollte mit einer falschen Bewegung als Mahlzeit enden. Lya erkundete die Bäume, die saftigen Wiesen und die verborgenen Lichtungen, betrachtete die Farbspiele der verschiedenen Grün- und Brauntöne und bewunderte den Wald für seine Schönheit. Eigenartigerweise fühlte sie sich hier sicher. Die Bäume, die im Wind rauschten, schienen wie Stimmen leise miteinander zu flüstern, die weißen und gelben Blumen, die hier vereinzelt wuchsen, wogten sanft hin und her und das grüne Moos überzog die Baumwurzeln mit weichem Pelz. Sträucher, Farne und Kräuter thronten am Boden, neben den gewaltigen Bäumen. Lya sprang auf einen niedrigen Ast und ihr Herz war von Zufriedenheit erfüllt. Dann machte sie kehrt, drehte sich um und lief zurück zum Flussufer. Ihre Kleidung war beinahe trocken. Offenbar war sie lange fort gewesen, während sie die Stille des Waldes genossen hatte. Mensch! Sie zog sich ihre Kleider über. Kurze Zeit später lief ein schneeweißer Leopard lautlos durch das Unterholz. Er hielt sich in der Nähe des Flusses und seine wachen, blauen Augen musterten die Umgebung genauestens. Beim kleinsten Geräusch zuckten die Ohren in die Richtung, aus der es gekommen war und wenn es ruhig blieb, sprang der Leopard elegant weiter. So glitt er geschmeidig durch den Wald, bis es dunkel wurde. Da kletterte er auf einen Baum und machte es sich in den dicken Astgabeln bequem. Der Leopard schloss die Augen und sein Atem verlangsamte sich, die Flanken hoben und senkten sich ruhig. Er schlief tief und fest. Kalter Nachtwind fuhr durch das dichte Fell und langsam wurden die Geräusche des Waldes lauter, bis sich Rehe, Wildschweine, Hasen und andere Waldbewohner aus ihren Verstecken wagten, um im Schutze des silbernen Mondes nach Nahrung zu suchen.

Die nächsten Tage reiste Lya in ihrer Leopardengestalt. Sie fraß Beeren und Kräuter, die sie kannte und hielt sich immer nahe am Fluss. Einmal gabelte er sich und sie nahm ohne Zögern die rechte Seite, da sie so schnell wie möglich nach Osten musste.

Lya marschierte unaufhaltsam weiter, doch am vierten Tag machte sich das ständige Magenknurren erneut bemerkbar – in einer Form von Schmerz. Ihr Raubtierkörper bog sich durch und sie grub die Krallen in den Boden. Ein Knurren entwich ihrer Kehle. Fieberhaft suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Ursache für den Hunger. Vitaminmangel? Nährstoffmangel? Zu wenig Brot?

Sie aß doch jeden Tag Beeren!

Schließlich wurde ihr klar, was es war, als ihr der unverkennbare Geruch von Blut in die Nase stieg. Witternd hob sie den Kopf. Es roch süßlich, frisch. Lya stand eine Weile da, zitterte vor Hunger. Wieder schossen scharfe Schmerzen durch ihren Magen.

Der Schneeleopard duckte sich, schlich mit an den Boden gedrückten Bauch weiter, zwischen einem umgestürzten Baum und erdbraunen Waldboden vorbei. Die Bäume standen nun in weitem Abstand voneinander da, Gras wucherte zwischen ihnen. Es roch nach frischem Morgentau, violette Blumen tropften vor Nässe. Nebelschwaden zogen über die Lichtung, die vor ihr lag und hüllten einige Bäume in trügerisches Grau. Mühsam unterdrückte sie das Knurren ihres Magens, als sie vorsichtig zu einigen Büschen schlich und sich duckte, auf einmal ruhig und geduldig.

Ein verletztes Reh lag direkt vor ihr. Es strampelte hilflos mit den Beinen, während ein einsamer, hinkender Wolf auf das Tier einbiss. Lya beobachtete den Todeskampf mit einer Ruhe, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte, aber der Hunger raubte ihr Mitgefühl.

Schließlich gelang es dem Wolf, das Reh zu besiegen. Er fraß sich an ihm satt. Lya beobachtete ihn aus schmalen Augen, als er langsam verschwand.

Dann trat sie auf die Lichtung. Der Duft des Blutes machte sie noch hungriger. Geduldig zwang sie sich, sich nach anderen Jägern umzusehen, aber nichts regte sich im zwielichtigen Nebel. Der Himmel war stahlgrau, leichter Regen fiel ins Gras und wusch die Luft.

Der Schneeleopard fraß gierig. Als er satt war, schleppte er sich weiter, zu einigen Büschen, legte sich unter die kratzigen Äste. Er legte seinen Kopf auf die Vordertatzen und schloss erschöpft die Augen, um zu schlafen.

Das nächste Mal wachte Lya auf, weil sie Menschen roch. Aufgeregt sprang sie auf und beobachtete die Lichtung. Die Sonne schien und direkt vor ihr, bei dem Rehkadaver – sie weitete entsetzt die Augen … hatte sie das arme Tier wirklich gefressen?! – knieten mehrere Männer und untersuchten die Bissspuren.

Sie hatten glänzendes, blondes Haar und ihre Kleidung, mit der sie beinahe mit dem Wald veschmolzen, bestand aus grünen Filzschuhen, braunen Stoffhosen und waldgrünen Wamsen mit Kapuzen. Außerdem trugen sie lange, schlanke Schwerter.

„Ein Wolf“, murmelte einer von ihnen. Er nahm einen großen Speer, der neben ihm am Boden gelegen hatte. „Und etwas Größeres … sieht aus wie der Biss eines Löwen, aber hier gibt es keine.“

„Die Kiefer waren kräftig. Und hier – die Krallenabdrücke. Das kann kein Dämonentier gewesen sein, zu unpräzise … das muss ein Raubtier sein“, sagte ein anderer.

„Wie auch immer, wir müssen aufpassen. Je näher die Viecher sind, desto gefährlicher.“

Die Männer standen auf und nahmen ihre Speere. Im Gänsemarsch schritten sie rasch zurück in den Wald, der ihre Silhouetten verschluckte, bis alles wieder war wie vorher.

Lya ging nach hinten, drehte sich um und preschte dann lautlos durch das Unterholz und die Gebüsche. Keuchend und mit wild klopfendem Herzen blieb sie immer wieder stehen, um die Luft zu prüfen.

Im stillen, grün-braunen Wald regte sich nichts. Trotzdem nahm sie einen fremdartigen Geruch wahr … der eines Tieres oder der eines Menschen?

Noch immer herrschte der leichte Nieselregen. Kurz legte sie eine Pause ein, um zu trinken, dann erreichte sie die Baumgrenze. Sie fand sich auf einer grünen Wiese mit vielen, dunkelgrünen Nadelbüschen und kleinen violetten, weißen und gelben Blumen wider. Grobe Steine wuchsen hin und wieder aus dem Boden. Der Fluss schlängelte sich mühelos über die Unebenheiten, über den hügeligen Berg und zwischen den Felsen hindurch, wobei er immer wieder kurz unter der Erde verschwand und braune, schlammige Stellen hinterließ.

Weit und breit war niemand zu sehen. Allerdings fand Lya auch keine Deckung. Vor ihr war eine riesige Schlucht, die in ein längliches Tal führte. Dunkelgrüne Wälder wuchsen auf den steilen Hängen. Sie erkannte nun genau die verschiedenen Zacken und Bergspitzen, die tiefen Schluchten, weiten Täler und hohen Steinwände. Je weiter die Riesen der Erde von ihr entfernt standen, desto dunkler wurde das Grün, bis es sich in einen düsteren Blauton verwandelte.

Sie beschloss, weiterhin dem Fluss zu folgen.

Murmeltiere pfiffen sich Warnungen zu, Steinböcke sprangen majestätisch von Fels zu Fels, als sie sich näherte. Gämse huschten davon, mit ihren scharfen Augen erkannte sie Mäuse und Kaninchen. Irgendein Teil von ihr wollte sie jagen, aber noch hatte der Menschliche Teil die Oberhand.

Lya marschierte von Berg zu Berg, durch tiefe Schluchten, an halb verfallenen Ruinen mit morschen Türen und grasbewachsenen Höfen vorbei, deren Fliesen zersplittert herumlagen und in denen sich Tiere angesiedelt hatten. Sie folgte dem Fluss zu einem hohen Gipfel, wo es nur felsige Gesteinsbrocken gab. Das Wasser rauschte aus einer kleinen Öffnung im Fels. Die Feuchtigkeit färbte den Fels dunkelgrau und das Plätschern war ganz leise geworden. Dünne Rinnsale schlängelten sich über den Boden und befeuchteten ihre Tatzen.

Eiseskälte wehte ihr entgegen. Der Wind heulte und rüttelte an ihrem dichten Fell. Ihre Schnurrhaare zuckten. Sie senkte den Kopf und trank die letzten Schlucke, wandte sich zögernd ab und sprang gelenkig auf einen der größeren Felsen.

Hier ging es wieder hinunter. Unter ihr war ein riesiges Tal, unbewohnt und allem Anschein nach fruchtbar. Ein kleiner Teich befand sich im Norden, ungefähr eine Tagesreise als Leopard. Lautlos landete sie mit ihren Tatzen auf dem Geröllboden. Sie konnte sich nun in ihrer Tiergestalt beinahe so gut bewegen wie als Mensch.

Im leichten Lauf rannte sie zwischen den Felsen umher, bis sie spärlicher wurden.

Zu spät bemerkte der Schneeleopard das riesige, muskelbepackte, aufrecht gehende Tier mit glatter, schwarzer Haut und wolfsähnlicher Schnauze. Rot glühende Augen starrten ihr gierig entgegen. Lya blieb wie versteinert stehen.

Der Razzor ließ sich auf alle Viere nieder und schlich auf sie zu. Er bleckte die messerscharfen Zähne und hob eine menschenähnliche Klauenhand. Lya wich rasch zurück und sah sich nach einem Ausweg um, aber der nächste Wald war zu weit von ihr entfernt.

Die knurrende Bestie kam näher, spannte drohend die Muskeln an. Weißer Speichel lief dem Razzor aus den Mundwinkeln und tropfte aufs Gras.

Mit einem kehligen Laut sprang er nach vor.

Lyas Herz raste. Sie huschte rasch unter dem springenden, schwarzen Ungeheuer hindurch und hörte kurze Zeit später, wie es jaulend aufschlug. Dann preschte sie so schnell es ging nach vor. Elegant schien sie über die Wiese zu schweben, ihre Beinmuskeln spannten sich an, stießen sich kräftig vom Boden ab und dehnten sich im sprunghaften Lauf. Die Wiese zischte an ihr vorbei, hinter ihr folgte der Razzor in uneleganten, plumpen Sprüngen.

Lya spürte bereits seinen beißenden Atem im Nacken, machte einen raschen Haken nach rechts und dann nach links. Sie spürte, wie sich ihre Klauen in die Erde gruben und wusste, dass sie früher oder später kämpfen musste. Der Wald ragte schützend vor ihr auf.

Hoffnung keimte in ihr auf und ließ sie für einen kurzen Moment blind werden.

Eine riesige, schwarze Hand schlug neben ihr in den Boden. Erdklumpen flogen herum. Hastig wich sie auf die Seite, beschleunigte ihre Geschwindigkeit – und wurde von einem gellenden Schrei über ihr wieder panisch auf die andere Seite gehetzt.

Sie hörte Flügelschlagen und dann jaulte der Razzor auf, wie von unendlichen Qualen gefoltert. Lya wandte sich um. Ihr Atem stockte.

Ein riesiges, geflügeltes Tier, das den Körper eines Löwen hatte und den Schnabel und die Flügel eines Adlers, war vor ihr gelandet und hatte sich flügelschlagend auf die Bestie gestürzt. Der prächtige, goldgelbe Körper erstrahlte im Sonnenlicht und das Kreischen ließ sie ihre empfindlichen Ohren anlegen.

Der Razzor winselte und wich zurück, stolperte, überschlug sich im Gras und floh mit entsetzlichen Kratzwunden, die frisches Blut am Boden vergossen.

Der Greif legte die Flügel an und wandte sich um. Orangene Augen starrten sie an. Sie wirkten listig, weise und überaus gefährlich. Auf einmal überkam sie Angst, dass der Greif sie als Beute sehen würde – sie drehte sich um und preschte davon. Hinter sich hörte sie bereits das Flügelschlagen.

Mit wild hämmerndem Herzen lief sie weiter, ihre Nackenmuskeln spannten sich an, die drohende Gefahr war knapp hinter ihr …

Sie rettete sich mit einem gewaltigen Satz ins Dickicht. Sie hörte das wilde Kreischen des Wesens, von dem sie nur in Geschichten gehört hatte und beschleunigte ihr Tempo. Noch waren die Bäume zu weit auseinander, aber je dichter sie wurden und je mühsamer sie vorankam, desto erleichterter wurde sie.

Schließlich verfiel sie in ein langsames Schrittempo. Lya senkte erschöpft den Kopf, aber ihre Tatzen fanden zielsicher auf dem unebenen Boden Halt und transportierten sie mühelos weiter.

Ihr trommelndes Herz beruhigte sich. Irgendwann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Erschöpft kletterte sie auf einen Baum. Hunger und Durst überfielen sie so plötzlich, dass sie einfach die Augen schloss.

Ein Leopard rannte über eine endlose Wiese. Lya erkannte, dass es sie war. Plötzlich sprang der Leopard, sprang ihr entgegen und alles schien still zu stehen. Sie blickte in die blaugrauen Augen, in ihre Augen. Das Maul zu einem Knurren geöffnet, die spitzen Zähne entblößt, verschmolz der Rest des Körpers in einem hellen Blau. Ohne zu wissen, was sie tat, legte sie eine feuerrote Rose quer unter den Kopf. Eine goldockerfarbene, starke Hand legte ein silbernes Schwert quer über die Rose. Sie starrte auf den schneeweißen Leoparden, der auf blauem Hintergrund knurrte; unter ihm eine feuerrote Rose und ein silbernes Schwert gekreuzt. Lya erfasste Neugierde. Wer war der Schwertträger? Sie blickte langsam auf die Seite, aber da legte sich Dunkelheit über die Welt.

Magenknurren weckte sie.

Lya fuhr auf. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihren Traum, an ihre menschlichen Gefühle. Auf einmal zählte nur der Hunger. Mit zielsicherem Instinkt kletterte sie vom Baum und schlich durch den Wald. Die Bäume lichteten sich, das Gras erstrahlte im hellen Sonnenlicht.

Vor ihr lag ein totes Reh.

Hunger … Rasch sprang sie darauf zu, da erkannte sie ihren Fehler. Hinter ihr raschelte es. Panisch fuhr sie herum, erblickte einen der Männer im grünen Filzgewand. Er hielt einen langen Speer auf sie gerichtet. Nach und nach erschienen die anderen hinter ihm. Die menschliche Lya kehrte wieder zurück, sie schluckte, wandte sich ab und rannte so schnell sie konnte, schwebte über die Wiesen, schneller als jeder Mensch rennen konnte. „Da ist er!“, brüllte jemand von links. Rasch hechtete sie nach rechts. „HIER!“ Sie fuhr herum und rannte in die andere Richtung. Warum waren sie so schnell? Große Steine boten ihr kaum Deckung. Panisch rannte sie weiter, merkte nicht einmal, wie sie von den Jägern systematisch vorangetrieben wurde. Schließlich rannte sie über ein kleines Stückchen Wiese, das in einen Graben führte. Links und rechts waren die Speermenschen aufgetaucht und liefen brüllend auf sie zu. Ihre Ohren schmerzten unerträglich. Ohne zu Zögern sprang sie in den Graben, rannte, so schnell sie konnte und fand sich vor einer Felswand wider. Im Laufen schlug sie die Klauen in den Boden und schlitterte so um ihre eigene Achse. Die Männer rannten auf sie zu, ihre Speere zum Wurf erhoben. Lyas Herz zersprang beinahe in ihrer Brust. Sie spannte die Muskeln zum Sprung an – leicht würde sie ihr Fell auf keinen Fall verkaufen! Ein tiefes Knurren entwich ihrer Kehle. Sie fletschte die Zähne und fauchte wild. Die Männer blieben stehen. Sie war eingekreist und hoffnungslos unterlegen. Lya wich an die Wand hinter ihr zurück. Der kalte Stein und das Moos, das in dessen Ritzen wuchs, bohrten sich in ihr Fell. „Vielleicht ist er ein Wilder! Pass auf, Sylon!“, warnte einer der Männer den, der an vorderster Stelle ging. Offenbar war es der Anführer der ganzen Bande. Knurrend spannte sie ihre Muskeln bis aufs Äußerste an, als der Mann langsam auf sie zuging. Sie fixierte den Speer mit scharfen Augen und starrte dann auf die schmalen Züge des Mannes vor ihr. Eine gebogene Adlernase saß in seinem Gesicht. „Ich bin ein Freund“, sagte Sylon und legte den Speer auf den Boden. Lya hielt überrascht inne und starrte ihn an. Meinte er das jetzt ernst? Wusste er, was sie war? Behutsam trat er näher. Lya fauchte warnend, er ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Sie wusste, dass sie nicht weiter zurückgehen konnte, also machte sie sich bereit, zuzuschlagen. Ihr Blick ruhte auf dem schlanken Schwert in der Scheide Sylons. „Pass auf! Der springt dich gleich an!“, riefen die Männer und hoben die Speere zum Wurf. Lya knurrte. Das würde sie gerne, aber nicht Sylon, sondern diese Verrückten! Allerdings wusste sie, dass sie keine Chance hatte. Sie würde den Anführer dieser Männer vortreten lassen müssen. Resigniert schnaubend kam sie ihm ein paar Schritte entgegen, denn dieses langsame Tempo ließ sie nur noch nervöser werden. Vorsichtig ging Sylon auf die Knie und murmelte: „Lass mich zu deinem Hals …“ Das beantwortete Lya mit einem furchterregenden Brüllen. Die Männer zuckten zusammen. Aber Sylon lächelte. „Du verstehst mich, hm? Lass mich mal das Ding an deinem Hals ansehen.“ Mit bitterbösem Blick – der tödlich gewesen wäre, hätte sie nur gewusst, wie solche Dinge gingen, da war sie sich sicher – beobachtete sie, wie Sylon in das dichte Fell griff und plötzlich den diamantenen Schlüssel in den Händen hielt. Hinter ihm hielten die Männer die Luft an. Sylon ließ ihn los und trat verblüfft zurück. „Wir haben lange gewartet … Ich bitte Euch, verwandelt Euch.“ Lya starrte ihn verwundert an. Wieso sprach er sie an, als wäre sie höher gestellt? Was war hier los? Resigniert stellte sie fest, dass sie nun endgültig erkannt worden war. Leugnen half nichts. Mensch … Aufrecht stand sie da, das kühle Prickeln der Luft war erfrischend und angenehm. Die Männer, die die Speere hielten, senkten sie augenblicklich und starrten Lya ungläubig an, aber sie hatte sich diese Reaktionen vorgestellt, wenn sie ihre wahre Gestalt zeigen würde. Seltsamerweise war der Hunger verschwunden. Sie fühlte sich fit, kräftig und sauber, obwohl sie tagelang durch die Berge gestreift war. „Was ist hier los?“, hörte sie sich selbstbewusster, als sie sich fühlte, fragen. Es war angenehm, wieder zu sprechen. Eine Röte überzog ihre Wangen; immerhin hatte sie die Männer glauben lassen wollen, dass sie ein Raubtier war und sie war kläglich daran gescheitert. Sylon verneigte sich. „Wir haben lange gewartet und sind Eure untertänigsten Diener. Wir Greife leben abgeschieden in den Bergen und haben Neuigkeiten erhofft. Verzeiht uns diese Hetzjagd, meine Königin, aber sie war vonnöten.“ Lya wich zurück. Etwas sagte ihr, dass hier ein ganz fataler Fehler geschehen war. Nervös musterte sie die Männer. Sie schienen nicht verrückt zu sein, wirkten ganz normal, aber lag nicht darin die Gefahr? Schließlich brachte sie heraus: „Ich bin keine Königin.“ Sylon lächelte. „Ihr wisst es nur noch nicht. Aber Ihr tragt den Schlüssel zu den weißen Thronhallen und Ihr seid eine Gestaltwandlerin, die sich in einen Leoparden verwandeln kann. Diese Ehre ist nur den Königen zuteil.“ Sie starrte ihn verständnislos an. Er hatte auf verdrehte Art und Weise sogar Recht – und doch konnte sie es nicht glauben. Einer der Männer – der, der Lya vorhin verdächtigt hatte, eine wilde Bestie zu sein – winkte ungeduldig mit der Hand: „Lass sie das mal verarbeiten, Sylon! Du hast echt eine bescheuerte Art, Leuten ihr Schicksal zu offenbaren! Fliegen wir zurück zum Dorf!“ „Dorf?“, hackte Lya nach. Sylon, der dem Sprecher einen bösen Blick zugeworfen hatte, wandte sich ihr zu und nickte. „Ja. Seit Generationen leben wir hier. Nur die Ältesten konnten sich noch an die Zeit der Könige erinnern, aber letzte Woche ist der letzte auf Phyan geborene gestorben. Wir laden Euch natürlich gerne ein.“ „Das ist ein Missverständnis!“, rief Lya, weil die Dinge sich gerade zu ändern begannen und ihr das überhaupt nicht passte. Sie und Königin! Sie war eine einfache Dienstmagd aus Fuchsenstein, mehr nicht. Allerdings boten sie ihr einen Unterschlupf an. Und wer weiß, vielleicht war der Leopard, der ihr die Kette überreicht hatte, ein Hirngespinst gewesen. Vielleicht bedeuteten die Träume etwas. Lya musterte die Männer. Sollte sie ihnen vertrauen? Doch wieso sollte sie nicht? Sie hielten sie für eine Königin und einer Königin würde man nichts antun. „Also gut“, sagte Lya. „Gehen wir in dieses Dorf und ich höre mir an, was Ihr zu sagen habt.“ Die Männer nickten und verwandelten sich in riesenhaften Greife. Lya zuckte überrascht zusammen und betrachtete die schlanken, gewaltigen Tiere. Einer der Greife flog vor, die anderen warteten. Der Greif, in den sich Sylon verwandelt hatte, war größer als die restlichen Tiere. Er ging in die Knie und sah sie erwartend an. Lya kletterte auf seinen Rücken und hielt sich zögerlich am goldenen Nackenfell des Wesens fest, als Sylon sich erhob und kräftig mit den Flügeln schlug. Er sprang in den Himmel und Lya klammerte sich panisch an das Fell. Der Boden wurde immer kleiner, während sich Sylon in den Himmel schraubte. Die restlichen Greife umringten sie und boten ihr einen Anblick majestätischer Tiere, die durch die Lüfte glitten. Die Landschaft raste unter ihnen vorbei. Sie betrachtete die dichten Wälder und die gewaltigen Zacken der Berge. Kalte Höhenluft peitschte ihr entgegen. Alles wirkte kleiner und dennoch hatte man einen großen Überblick. Sie flogen an Wäldern, Wiesen, gigantischen Felswänden, Flüssen und Tälern vorbei. Schließlich kamen sie in eine enge Schlucht. Die Greife glitten im scharfen Sturzflug hinab. Der Wind pfiff um Lyas Ohren. Sie streckte vorsichtig eine Hand aus und streifte mit ihren Fingerkuppen einen kleinen Ast, der tapfer auf den kalten Felsen wuchs und sogar einige grüne Blätter hervorgebracht hatte. In einem kleinen, länglichen Tal mit durchrauschendem Fluss, das sich hinter der langen Schlucht befand, standen viele kleine Häuschen, die aus Steinen aufgeschichtet und mit Strohdächern bedeckt waren. Dichter Rauch waberte darüber. Frauen, Männer und Kinder standen davor und starten hinauf. Mit dem ohrenbetäubenden Kreischen eines Adlers landete Sylon und Lya sprang auf den Erdboden, der mit Steinen gesprenkelt war. Totenstille hatte sich über die Menge gesenkt. Unsicher blickte sie sich um. Ein Kind lief vor und starrte sie mit großen, bewundernden Augen an. Die Menschen kamen langsam näher; ihnen war, als befänden sie sich in einen wunderbaren Traum. Und plötzlich fingen sie an zu Klatschen. Die Männer stießen ihre Fäuste in die Luft oder hoben ihre Kinder auf die Schultern, damit sie besser sehen konnten. Die Frauen klatschten und lächelten selig. Überall drangen Jubelrufe aus der Menge, einige Kinder johlten und schrien. Sylon schob sie vor und Lya fand sich zwischen freudenstrahlenden Gesichtern wider. Ihre Hände wurden geschüttelt, hie und da gab es eine herzliche Umarmung und ein paar alte Frauen weinten gerührt. Sylon selbst lächelte wie ein Kind, das sich über ein besonderes Geschenk freut und legte Lya eine Hand auf die Schulter, um die neue, verwirrte Königin zwischen den Jubelnden durch die Straßen zu ihrem Wohnhaus zu führen, während der Zug der Menschen sie feiernd begleitete.

Die Wächter

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