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II.Der Standort des Strafrechts im Rechtssystem

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4Übungsfall 1: „AIDS-Biss-Fall“12

Vor einigen Jahren ging folgender Fall durch die Medien:

Ein Jugendlicher (J.) stand wegen eines Drogendelikts vor Gericht. Als der Polizeibeamte (P.), der den Angeklagten festgenommen und zur Anzeige gebracht hatte, vor Gericht als Zeuge vernommen wurde, sprang der Angeklagte (J.) plötzlich von seinem Platz auf, rief „Dich nehme ich mit ins Grab!“ und biss den P. in die Hand. Später stellte sich heraus, dass der Angeklagte nicht nur HIV-infiziert, sondern sogar schon an AIDS erkrankt war. Mit dem Biss wollte er ganz bewusst den P. – wohl aus Rache – mit der Immunschwächekrankheit infizieren.

Aufgabe: Überlegen Sie welche Rechtsgebiete, Rechtsnormen, Gesetze oder Rechtsfragen im weitesten Sinne in diesem Fall berührt sein könnten!

Natürlich geht es in diesem Übungsfall 1 schon auf den ersten Blick um Strafrecht. Der Biss in die Hand des Polizeibeamten könnte eine Körperverletzung sein, und diese wäre gem. § 223 StGB strafbar. Schon etwas schwieriger und jetzt noch nicht zu beantworten ist die Frage nach Qualifikationen wie gefährlicher (§ 224) oder gar schwerer Körperverletzung (§ 226). Bei absichtlicher Infizierung des Polizeibeamten, was bei dem Ausruf „Dich nehme ich mit ins Grab!“ nahe läge, käme auch die Dimension eines Tötungsdeliktes in Frage (§§ 211 ff.), denn eine ausgebrochene AIDS-Erkrankung ist auch heute noch nicht heilbar. Wenn man den Blickwinkel ändert, kommen eine ganze Menge anderer Rechtsgebiete in den Blickpunkt: Vom gerichtlichen Prozess her gesehen, handelt es sich um ein Strafverfahren (StPO). Da es sich bei dem Angeklagten offensichtlich um einen noch nicht Volljährigen handelt, ist das Jugendgerichtsgesetz (JGG) zu beachten. Über die Zuständigkeit und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Für die Richter gibt es ein Deutsches Richtergesetz (DRiG), der Staatsanwalt müsste die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) beachten und für den Verteidiger gilt die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). Das angeklagte Drogendelikt stammt aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Die Aids-Problematik ist heute im Infektionsschutzgesetz (IfSG)13 angesiedelt. Für eventuelle Schadensersatz- bzw. Schmerzensgeldansprüche des P. wäre das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) heranzuziehen und Ansprüche müssten ggf. über die ZPO (Zivilprozessordnung) geltend gemacht werden. Der Polizeibeamte unterliegt dem jeweiligen Landesbeamtengesetz (LBG) und müsste bei seinem beruflichen Handeln das Landespolizeigesetz (LPolG), das Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) und das Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz (LVwVollStrG) beachten, um nur die allerwichtigsten Gesetze zu nennen. Widersprüche und Klagen gegen Verwaltungshandeln (z. B. des Polizeibeamten) regelt die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Verfassungsbeschwerden würden ggf. an das Bundesverfassungsgericht (gem. BVerfGG) gehen und könnten die Verletzung von Grundrechten aus dem Grundgesetz (GG) rügen.

Schon das kurze „Brainstorming“ zeigt, dass man bei einer ganz alltäglichen Pressemeldung wie dem „Aids-Biss-Fall“ zumindest in Gedanken auf eine ganze Menge von Vorschriften und Rechtsnormen kommen könnte. Würde man diese Übung täglich machen, käme man schnell zu der Erkenntnis, dass es in Deutschland kaum noch „rechtsfreie Räume“ gibt. Nahezu jeder Lebensbereich ist heute trotz des Rufes nach Deregulierung durch Rechtsnormen (meist durch spezielle Verwaltungsgesetze) geregelt. Zählt man alle in Deutschland gültigen Gesetze zusammen, und dazu gehören auch alle Landesgesetze der 16 Bundesländer und die Gesetze der EU sowie Rechtsverordnungen und Satzungen, so kommt man auf eine Zahl von mehreren Zehntausend Gesetzen. Deshalb stellt sich die Frage, ob es ein System oder doch jedenfalls eine gewisse Ordnung für diese vielen Gesetze gibt.

Früher gab es eine klassische Einteilung des Rechts in die drei Rechtsgebiete Privatrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht. Das Strafrecht hatte damals noch eine selbstständige Stellung in diesem Rechtssystem, weil es ein uraltes Rechtsgebiet ist, während das Öffentliche Recht erst in jüngster Vergangenheit entstanden ist. Auch gab es Strafgerichte schon immer, während Verwaltungsgerichte in der historischen Entwicklung relativ neu sind. Heute jedenfalls ordnet man das Recht nach den Rechtsbeziehungen der beteiligten Rechtssubjekte.

5a) Die Unterscheidung Privatrecht/Öffentliches Recht.. Das Öffentliche Recht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern sowie die Rechtsverhältnisse der staatlichen Einrichtungen untereinander. Kennzeichnend für das Öffentliche Recht ist ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis (Subordinationsprinzip). Dies bedeutet, dass der Staat seine Bürger notfalls mit Zwang zur Befolgung der Gesetze anhalten kann, z. B. im Rahmen der Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung, Steuerpflicht, Schulpflicht, Wehrpflicht, Gewerbeaufsicht, Bauaufsicht, usw.

Das Zivilrecht (Privatrecht, Bürgerliches Recht) regelt die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander. Im Gegensatz zum Subordinationsverhältnis des Öffentlichen Rechts ist hier ein Gleichordnungs- oder Gleichberechtigungsverhältnis kennzeichnend.

In welchem Teilrechtsgebiet hat nun das Strafrecht seinen Standort? Wenn ein privater Bürger A. seinem alten Feind, dem privaten Bürger B. auf völlig gleichberechtigter Ebene aus persönlichem Anlass mit der Faust ins Gesicht schlägt, dann verwirklicht er auf klassische Weise den Straftatbestand der Körperverletzung (§ 223 I). Man könnte meinen, dass wegen der zugrunde liegenden privaten Auseinandersetzung somit das Strafrecht zum Zivilrecht gehört. Entscheidend ist jedoch etwas anderes: Das Resultat oder die Rechtsfolge einer Straftat ist eine Strafe. In unserem Beispiel wird die Körperverletzung „mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 223 I). Die Strafe aber ist die schärfste Sanktion, die der Staat gegenüber seinen Bürgern anwenden kann. Man denke an das Schwert der Justitia! Hier geht es eindeutig um ein Subordinationsverhältnis zwischen Staat und Bürger, sodass das Strafrecht natürlich zum Öffentlichen Recht gehört.

5ab) Der Standort des Strafrechts.


6c) Die Unterscheidung von AT und BT des StGB.. Als Hauptquelle des deutschen Strafrechts ist das Strafgesetzbuch (StGB) in einen Allgemeinen Teil (AT) und einen Besonderen Teil (BT) gegliedert. Der AT enthält die Vorschriften allgemeinen Charakters, also die Grundregeln, die im Prinzip für alle mit Strafe bedrohten Handlungen gelten. Das sind vor allem die verschiedenen Begehungsformen (Vollendung, Versuch, Unterlassung, Fahrlässigkeit), die Erlaubnisnormen (Rechtfertigungsgründe wie Notwehr und Notstand) und die Rechtsfolgen (Strafen, Maßregeln der Besserung und Sicherung). Der BT beschreibt in Deliktsgruppen gegliederte einzelne Straftatbestände, in denen der Gesetzgeber möglichst genau Verhaltensweisen beschreibt, die als sozialwidrig gewertet werden und deshalb mit Strafen sanktioniert werden müssen. Aufgeteilt sind diese Deliktgruppen nach den jeweils zu schützenden Rechtsgütern (Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Ehre, Eigentum, Vermögen, usw.). Das Prinzip des „Vor-die-Klammer-Ziehens“ kennzeichnet den AT, während der BT dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes folgt. „Mathematisch“ gedacht würde in der Klammer die Summe aller Straftatbestände (BT) stehen, während alle allgemeinen Vorschriften, die grundsätzlich für alle diese besonderen Tatbestände Geltung haben, vor die Klammer gezogen werden (AT).

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