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Kapitel 9
ОглавлениеVon wundertätigen Mönchen und Gotterschaffern
Der Okkultismus erfasste die höchsten Kreise des Landes und war zweifellos ein Faktor im kommenden Zusammenbruch der alten Ordnung. Das berühmteste Beispiel war die Zarenfamilie selbst. Der Bruder des Zaren, Georgi Michailowitsch, sowie seine beiden Onkel, Nikolai Michailowitsch und Peter Nikolajewitsch, waren Mitglieder im Geheimorden der Martinisten, einer freimaurerähnlichen Organisation. Als Spiritus Rector der Martinisten trat der Franzose Papus auf, über den es in dem Standardwerk The Occult in Russian and Soviet Culture heißt: »Der allgegenwärtige Papus (Gérard Encausse) war der führende französische Okkultist des Fin de Siècle. Elf seiner zahlreichen Werke über die Kabbala, Alchimie, Spiritismus, das Rosenkreuzertum und den Tarot wurden in das Russische übersetzt. Eine von ihm gegründete Faculté des Sciences Hermétiques zog russische Studenten zu okkulten Kursen an, die zur Basis für viele private Studienkreise in Russland wurden. Papus wurde mit seinen Verbindungen zur Freimauerei und zum Rosenkreuzertum ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den russischen Okkultisten und der französischen Blüte des Okkultismus.«79
Es gibt Vermutungen, sogar der Zar selbst sei Martinist gewesen. Zumindest ist belegt, dass Papus im Oktober 1905, die erste Revolution war auf ihrem Höhepunkt, bei einer Séance am Zarenhof mit »intensiver Konzentration des Willens« Alexander III. kontaktierte, den Vater Nikolais II., der seinem Sohn riet, gegen die Revolution standhaft zu bleiben.80 Noch größeren Einfluß bei Hof, allerdings nur bis 1903, genoss ein weiterer Franzose aus der Umgebung von Papus, ein Wunderheiler namens Nizier Anthelme Philippe, allgemein nur als »Philippe« bekannt. Philippe, der behauptete, Arzt zu sein, war in seiner Heimatstadt Lyon dreimal zu Geldstrafen wegen Hochstapelei verurteilt worden. Der angebliche Doktor, dessen Wesensart von seinen Anhängern als »beruhigend und stärkend« beschrieben wurde und dessen »geringste Bewegung heilende Wirkung« gehabt haben soll, versprach der Zarin, ihr nach vier Mädchen endlich zu einem Thronfolger zu verhelfen.81
Philippe hatte bald solchen Einfluss am Hof, dass die russische Regierung in Paris intervenierte, der ehemalige Fleischergeselle möge doch außerhalb der Reihe zum Arzt ernannt werden. Aber die Franzosen blieben standhaft. So verlieh man ihm schließlich in Petersburg ein Arztpatent. Das Anfang vom Ende für Philippe kam, als die Zarin 1902 wieder schwanger wurde und Philippe weissagte, das Geschlecht des werdenden Kindes sei männlich. Bekanntlich versetzt der Glaube Berge, nur leider stellte sich heraus, dass der Glaube der Zarin an Phillippe eine Scheinschwangerschaft zur Folge gehabt hatte. Es gab einen Skandal, der sich bis in die Petersburger Presse verbreitete. Der Wunderheiler musste nach Frankreich zurückkehren, und dort ereilte ihn die Rache der russischen Geheimpolizei, der der dickliche Franzose mit dem Walrossschnauzbart schon lange ein Dorn im Auge gewesen war. Die Kollegen von der Sûreté entfesselten gegen den Wunderdoktor ein Kesseltreiben und ein Jahr später erlag er einem Herzinfarkt.
Der orthodoxen Kirche waren die Okkultisten am Hof ein gewaltiges Ärgernis. Die Staatskirche, die nicht einmal über einen Patriarchen verfügte, sondern seit Peter dem Großen Teil des Staatsapparats ohne jede Eigenständigkeit war – sogar das Beichtgeheimnis konnte auf Anfragen der Geheimpolizei aufgehoben werden –, fürchtete nach dem Schwinden ihres Einflusses auf die Gesellschaft, nun auch den Hof zu verlieren. Um das Feld nicht den Okkultisten zu überlassen, lancierte man eine Reihe von Wunderheilern, Hellsehern und »heiligen Mönchen« der Staatskirche an den Hof, die sich dort allesamt nicht lange halten konnten. Bis auf den letzten, Grigori Rasputin, der sich als so erfolgreich erwies, dass er schließlich seine erstweiligen Förderer, den Bischof Hermogen und den Leiter der Peterburger geistigen Akademie Theophan, absetzen ließ, als diese versuchten, ihn wieder loszuwerden.
Der halbe Analphabet Rasputin, mit seiner »echt bäuerlichen, einfachen Frömmigkeit«, der anfänglich der gehobenen Geistlichkeit der Hauptstadt als geeignet erschien, der blutleeren Staatskirche zumindest am Hof zu neuem Ansehen zu verhelfen, war, wie man zu spät bemerkte, alles andere als ein getreuer Sohn der Kirche, sondern durch das Altgläubigentum geprägt. Die Altgläubigen gingen auf die russische Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert zurück, als Zar Alexej und Patriarch Nikon neue Riten einführten, die von vielen – darunter gerade den frömmsten – Priestern und Laien abgelehnt wurden. Bis zum 20. Jahrhundert schwer verfolgt, spalteten sich die »Altgläubigen« wiederum in eine Vielzahl von Untersekten auf und nahmen mit der Ausbreitung nach Sibirien in Einzelfällen auch Elemente des Schamanismus und des tibetischen Buddhismus auf, was in den zwanziger Jahren das Interesse Nikolai Roerichs weckte. Man schätzt, dass am Vorabend der Revolution bis zu einem Drittel der Bevölkerung einer dieser Sekten angehörte.82
Im Fall von Rasputin gilt als gesichert, dass er während seiner Jugend zu den Chlysten gehörte, einer streng geheimen Sekte, die den geistigen Hochmut, das Gefühl besser zu sein als andere, für die größte aller Sünden hielt, es aber nicht als Sünde betrachtete, im Angesicht der Staatsmacht jegliche Sektenangehörigkeit zu verleugnen. Eben um diese Sünde des Hochmuts zu vermeiden, veranstalteten die Chlysten von Zeit zu Zeit Orgien. Vermutlich gehen die berühmten sexuellen Ausschweifungen Rasputins auf seine Zeit als Chlyst zurück, aber die Behauptung, eine sexuelle Vereinigung mit ihm werde seine Anhängerinnen »reinigen«, war ganz seine eigene Erfindung.
Rasputin verfügte zweifellos über ungewöhnliche Fähigkeiten. Belegt ist, dass er den Zarewitsch, der an der unheilbaren Bluterkrankheit litt, mehrmals und sogar aus der Ferne vor dem Tod bewahrt hat, und gleichfalls gut belegt ist, dass Rasputin den Fall der Monarchie vorausgesagt hat, sollte sie sich in einen Krieg verwickeln. Dafür brauchte es keine prophetischen Gaben, sondern Kenntnis des einfachen Volkes, und die war bei der rechten Intelligenz wie auch bei den höheren Militärs und der Geistlichkeit stark unterentwickelt. Dort glaubte oder wollte man glauben, die revolutionäre Unruhe sei auf eine Verschwörung des Weltjudentums zurückzuführen. Zum »Nachweis« erfand die zaristische Geheimpolizei »Die Protokolle der Weisen von Zion«, die wohl folgenreichste Fälschung des 20. Jahrhunderts. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass man lange Papus verdächtigt hat, der Autor zu sein, und auch wenn er heute von diesem Verdacht befreit ist, so vermutet der amerikanische Historiker Robert D. Wrath, Papus sei wahrscheinlich der Stichwortgeber für eine aufsehenerregende Kampagne im L’Écho de Paris gewesen, die eine jüdische Verschwörung zur Untergrabung der französisch-russischen Allianz behauptete.83
Im vorrevolutionären St. Petersburg gingen Verschwörungstheorien und Okkultismus Hand in Hand. Der strikte Kriegsgegner Rasputin wurde von rechten Hofkreisen und bald von der ganzen rechten Presse verdächtigt, deutscher Agent zu sein. Unter der Hand behauptete man das auch von der Zarin, die völlig unter dem Bann Rasputins stand. 1914 wurde aus rechtsradikalen Kreisen zum ersten Mal ein Attentat auf ihn verübt, das ihn ausschaltete, als es um die Frage des Kriegseintritts Russlands ging. Im Ersten Weltkrieg wuchs sein Einfluss so sehr, dass sich mit einer geeigneten Summe beinahe alles, bis hin zur Ernennung von Ministern, durch Rasputin erreichen ließ. Alle Versuche, ihn loszuwerden, schlugen fehl. Unter dem Einfluss seiner Frau weigerte sich der Zar, Rasputin vom Hof zu verbannen.
Das Ende ist bekannt. Eine Verschwörung aus Parlamentsabgeordneten und Zarenverwandten, an der nach letzten Erkenntnissen britische Agenten beteiligt waren, organisierte in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1916 (16. und 17. Dezember nach altem Stil) seine Ermordung. Wie sich bald darauf zeigte, trafen die Voraussagen Rasputins ein, der der Zarenfamilie für eben diesen Fall ein blutiges Ende der Dynastie vorausgesagt hatte.
Doch auch die entschiedensten Gegner der alten Ordnung, die Bolschewiki, waren nicht frei vom Okkultismus des silbernen Zeitalters. Ja, man kann sogar sagen, ihre spätere Kunstdoktrin, der »sozialistische Realismus«, hatte seine Wurzel in einigen der abseitigeren Theorien, die damals in aller Munde waren. Man kann dies an Gorki und Lunatscharski, den beiden wichtigsten Protagonisten der frühen sowjetischen Kulturpolitik, festmachen.
Anatoli Lunatscharski, ein Schriftsteller, der nach der Revolution als Volkskommissar für Aufklärung Kopf der sowjetischen Kulturpolitik werden sollte, hatte für einen »überzeugten Materialisten«, wie sich die Bolschewiki zum Nachweis ihrer Überlegenheit und im Gegensatz zu ihren Gegnern gerne beschrieben, ausgesprochen eigentümliche Neigungen.
Wie die Literaturwissenschaftlerin Bernice Glatzer Rosenthal berichtet, besaß er detaillierte Kenntnisse der Dämonologie und hatte vor der Revolution sogar einiges über weiße Magie veröffentlicht.84
Er verfolgte diese Interessen auch noch nach der Revolution. 1919 veröffentlichte er ein Theaterstück (Wassilia die Weise) mit okkultem Inhalt, und es ist belegt, dass er Bekannten noch Anfang der dreißiger Jahre aus der Hand las.
Diese Neigungen hatte er mit Maxim Gorki gemeinsam, dem späteren Säulenheiligen der sowjetischen Literatur. Mit ihm tat er sich während der Revolution von 1905 zusammen, um gemeinsam einen neuen Gott, eine Art marxistische Ersatzreligion zu erschaffen. Es lohnt sich, dieses Projekt, das von der sowjetischen Geschichtsschreibung später totgeschwiegen wurde, näher vorzustellen. Es gehört zum Okkultismus des silbernen Zeitalters in seiner revolutionären Variante, ohne den die Auftritte des Nikolai Roerich 1926 in Moskau nicht vorstellbar sind.
Die »Gotterschaffung« war ein Projekt, das von Maxim Gorki ausging. 1901, vier Jahre bevor die Revolution von 1905 scheinbar dazu Gelegenheit bot, schrieb Maxim Gorki in einem Brief: »Jetzt entgleitet Gott den Ladeninhabern und die Hundesöhne sind ohne Unterschlupf. Das ist, wie es sein muss! Lasst sie in ihrem Leben nackt herumspringen, mit ihren leeren kleinen Seelen, und wie zerbrochene Glocken stöhnen. Und wenn sie vor Kälte und der Hoffnung auf geistige Erlösung sterben, werden wir uns einen Gott schaffen, der großartig, wunderbar, freudig und der Beschützer des Lebens sein wird, der jeden und alles liebt. So soll es sein.«85
Die »Gotterschaffung« Gorkis ging von der Vorstellung aus, »Götter« seien nichts anderes als die Manifestationen der Gedanken einer großen Menschenmenge, und das im durchaus materiellen Sinne. Gorki war Anhänger des Neurologen Naum Kotik, der die Existenz einer »psycho-physischen« Energie behauptete, die im Gehirn hergestellt und von dort in die Arme und die Extremitäten geleitet werde. Eine der erstaunlichen Eigenschaften dieser Energie sei ihre Fähigkeit, in Objekte zu strömen (Papier zum Beispiel), so dass man sie aufbewahren und transportieren könne. Mit Hilfe dieser Energie sei es möglich, telepathisch Gedanken und Gefühle zu übermitteln, und in höherer Konzentration sei sie als Träger für die Suggestion der Massen geeignet. Im Zusammenhang mit den Forschungen von Kotik schrieb Maxim Gorki, jedes Jahr sammele sich mehr und mehr Gedankenenergie in der Welt an und eines Tages werde diese Energie im Stande sein, Dinge zu bewirken, die man sich heute noch gar nicht vorstellen könne.
1908 verdichtete Maxim Gorki diese Vorstellungen in seinem Roman Die Beichte, in dem eine Schlüsselszene zeigt, wie eine gelähmte Frau durch die physische Energie einer Menschenmenge geheilt wird. Die Masse schließt dabei mit gemeinsamer Anstrengung den gelähmten Körper an den allgemeinen Willen an, und so, wie eine Glühbirne leuchtet, wenn durch sie der Strom schießt, so heilt die Energie der Massen den gelähmten Körper der Frau.
Die Beichte war nicht Gorkis bestes Buch, aber mit Sicherheit eines seiner umstrittensten. Lenin hasste es regelrecht. In Romanform legte Gorki seine Überzeugung dar, dass »die wahren Gotterschaffer die Menschen selbst und das bedeutendste Ergebnis ihrer Anstrengungen das frühe Christentum war, bevor die Kirche es verzerrte«, wie der Literaturwissenschaftler Mikhail Agursky den Inhalt resümiert.86 Tatsächlich findet man in dem Buch Sätze wie den folgenden: »Christus war der erste wahre Volksgott, der aus der Seele der Menschen geboren wurde, wie der Phönix aus den Flammen«. Als die allgemeine okkulte Energie dann schwächer wurde, sei Christus gestorben, aber das Volk könne ihn wiedererwecken. »Die Zeit wird kommen, da sich der Wille des Volkes wieder auf einen Punkt konzentrieren und so eine unbezwingbare, rätselhafte Kraft ins Leben rufen wird. Dann wird Gott wieder auferstehen.«87
Gorkis und Lunatscharskis Pläne, während der Revolution von 1905 die Gedanken der Massen zu »konzentrieren«, um einen besseren Gott zu schaffen, wurden von Lenin, dem das Ganze zuwider war, im Keim erstickt.
Doch überleben sollten die Grundannahmen Gorkis, nämlich der Glaube an Gedankenübertragung und die materielle Wirksamkeit von Gedanken. Beide sollten zu wichtigen Voraussetzungen für den »sozialistischen Realismus« werden. Zumindest ist das die Meinung des Wissenschaftlers Mikhail Agursky. »Obgleich Bechterew oder Kotik in Gorkis Schriften zum sozialistischen Realismus nicht erwähnt werden, haben ihre Ideen doch dazu beigetragen, Theorie und Praxis des ›sozialistischen Realismus‹ zu formen. Im sozialistischen Realismus sollten die Künste und besonders die Literatur den psychischen Prozess der Massen regulieren, um sie so zu der großen Anstrengung zu befähigen, die es brauchte, um den Sozialismus zu errichten. [...] Einfach nur sozialistische Ideen zu propagieren reichte nicht aus. Um die gewünschte Reaktion zu erhalten, mussten die Massen durch ›externe Stimuli‹ angeregt werden, und um diesen ›Stimuli‹ die Möglichkeit zu geben, sich durchzusetzen, musste ein politisches System geschaffen werden, das nur ›reinen Gedanken‹ die Möglichkeit zum Ausdruck gab und die Gesellschaft vor ›dunklen Kräften‹ verteidigen konnte.«88