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Kapitel 1

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Amerikanischer Albtraum

Im Oktober 1920 traf das Ehepaar Roerich mit den beiden Söhnen in New York ein. Nicht als Immigranten, sondern mit dem Ziel, so lange zu bleiben, bis genug Geld zusammen war, nach Indien zu reisen und endlich den Mahatmas zu begegnen. Anfänglich ließ sich alles gut an. Es wartete bereits die Presse, die das Schiff enterte, noch bevor die Passagiere durch den Zoll waren, um den bekannten Maler und Mitautor von »Frühlingsopfer« zu interviewen. Doch die Ernüchterung setzte schnell ein.

Bald schimpfte Nikolai Roerich über die Kulturlosigkeit der Einheimischen und die Banalität ihrer Ansichten. Und schlimmer noch, selbst das Geld floss im Land des Dollars nicht wie erwartet. Auch in Amerika herrschte Nachkriegskrise und es gab soziale Unruhen, die mit der ersten großen Hexenjagd der amerikanischen Geschichte, den sogenannten »Palmer Raids« (Palmer’schen Razzien) beantwortet wurden. Kommunisten oder solche, die man dafür hielt, wurden in oft zweifelhaften Prozessen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, und selbst die Flüchtlinge aus dem Land der Oktoberrevolution gerieten automatisch unter Verdacht. Den Reichen und Wohlhabenden stand der Sinn in dieser Zeit nicht nach Geldausgeben, und Roerichs Bilder verkauften sich nur sehr schlecht.

Schon im November wurde klar, von dem Bilderverkauf, wie auch den drei Aufträgen für die Oper in Chicago, würden die Roerichs nicht leben können, und so tauchte ein neuer Plan auf. Am Abend des 4. Dezember 1920 legten die Roerichs ihn zum ersten Mal dar. Zuhörer waren Sinaida und Morris Lichtmann, zwei jüdische Emigranten aus Russland, die zu diesem Zeitpunkt eine kleine und schlecht gehende Klavierschule in Manhattan betrieben. Einige Stunden zuvor hatte Sinaida Lichtmann auf einer Vernissage zum ersten Mal die Bilder Nikolai Roerichs erblickt und »direkt der Unendlichkeit« gegenübergestanden, wie sie Jahrzehnte später schrieb. »Die Roerichs luden uns ein, sie noch an diesem Abend in dem Hotel zu besuchen, wo sie abgestiegen waren. Schon vom ersten Moment sprachen sie davon, die Amerikaner mit russischer Kultur und Kunst bekannt zu machen. N.K. Roerich erzählte von seiner Absicht, eine künstlerisch aufklärerische Einrichtung in Amerika zu gründen, und lud uns ein, an all dem teilzunehmen. Wir sprachen lange bis Mitternacht und erzählten ihm von unserem Leben und unserer musikalischen Tätigkeit und gleichfalls über die verbreitete Abwesenheit kultureller Interessen in der amerikanischen Gesellschaft.

Bereits am folgenden Tag übergab uns Roerich einen konkreten Plan für die Arbeit einer Schule der vereinigten Künste, den er zuvor mit Elena Iwanowna ausgearbeitet hatte. Wir begannen mit der Arbeit an der offiziellen Registrierung der Schule, die 1921 eröffnet wurde.«1

1921 wurde auch »Cor Ardens« (lateinisch: flammendes Herz), eine Gesellschaft zur Förderung der Kultur, gegründet, die sich vorläufig durch wenig mehr als ihre beiden illustren Ehrenvorsitzenden auszeichnete. Es waren Rabindranath Tagore sowie der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck, ein Verehrer der Kunst Nikolai Roerichs. Die Gründung von Gesellschaften mit wohlklingenden Namen und das Akquirieren von Ehrenvorsitzenden, die nicht immer mit Wissen der so Ausgezeichneten stattfand, sollte ein weiterer Kernpunkt der Tätigkeit Nikolai Roerichs in Amerika werden.

Sinaida Lichtmann war die erste, glühende Anhängerin der Roerichs und eine starke, bestimmende Persönlichkeit, mit der es »keinen Sinn hatte, sich zu streiten«, wie sich ein Mitarbeiter erinnert.2

Sie stammte aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa, aus einer Weltgegend, in der es periodisch zu mörderischen Pogromen gegen die jüdische Minderheit kam. Sinaida war musikalisch hochbegabt, gab bereits als Kind Klavierkonzerte und siedelte nach ihrem zwölften Lebensjahr mit den Eltern nach Deutschland über, wo sie erst in Berlin und dann in Wien von dem berühmten Pianisten Leopold Godowsky unterrichtet wurde.

Nach dem Tod des Vaters verließ sie 1912 mit ihrer Mutter sowie Morris, ihrem gleichfalls jüdischen und aus der Ukraine stammenden Ehemann, Deutschland und reiste in die USA. Morris stand unter ihrer Fuchtel und sollte zu den neuen, noch bescheidenen, wie auch den späteren weltumfassenden Plänen des Ehepaars Roerich nicht viel mehr als seine Kenntnisse der Kabbala beitragen. Sinaida Lichtmann dagegen sollte zur rechten Hand und wichtigsten Vertrauten der Roerichs aufsteigen.

Vorerst jedoch konnte von großen Plänen keine Rede sein. Die Schule der Lichtmanns ging zwar in der großspurig »Master School of Arts« getauften neuen Einrichtung auf, aber ein Besucher der Räumlichkeiten vermerkte, die Möblierung sei noch 1922 sehr ärmlich und das Piano geliehen gewesen. Es gab so wenig Schüler, dass, um einen besseren Eindruck zu machen, Außenstehende engagiert wurden, Schüler zu spielen, und im Sommer 1922 konnte selbst die Miete nicht mehr bezahlt werden.

Auch die Roerichs gerieten bald in Schwierigkeiten. Das »Hotel des Artistes«, in dem sie in New York untergekommen waren, wollte bezahlt sein, wie auch die Ausbildung ihrer Söhne, die man an den besten Universitäten eingeschrieben hatte. Juri, der ältere, studierte in dem auch damals nicht billigen Harvard und Swjatoslaw, der jüngere, an der renommierten Columbia University in New York.

Die Gebühren hatten die Roerichs gerade noch aufbringen können. Dafür blieben sie die Hotelmiete schuldig, bis das »Hotel des Arts« sie hinausbeförderte. Doch statt die Schulden an das Hotel anzuerkennen, schaltete Roerich einen Anwalt ein. Diesem blieb er so lange sein Geld schuldig, bis der ihm endlich einen Brief schrieb, der mit der ironischen Anrede »My dear Professor« begann: »Nachdem ich lange genug gewartet habe, um mir eine Medaille für christliche Geduld zu verdienen, erlaube ich mir jetzt, Sie daran zu erinnern, dass die 250 Dollar, die Sie mir für meine loyalen Dienste schulden, noch immer unbezahlt sind.« Es folgte eine Liste von elf (!) verschiedenen Streitigkeiten, in denen der »Professor« die Dienste des Anwalts beansprucht hatte. Sechs davon handelten erkennbar von Gelddingen.

»Die Benutzung Ihres Namens durch die Artists League; Sie vs. Johnson wegen $900; der Kredit von Naumburg; der Kredit von Goldberger; der Kredit von Otto Kahn; die Sache Fifth Avenue Bank.«3 Auch waren die Roerichs die Miete der Schule, 312 West 54th Street, schuldig geblieben, und die Fifth Avenue Bank drohte, seine Bilder, die er für einen Kredit von $8000 verpfändet hatte, versteigern zu lassen.

Einer ihrer Jüngerinnen wird Helena Roerich später über diese Schreckenszeit berichten, sie habe zum ersten Mal in ihrem Leben selbst kochen und sogar putzen müssen.4

Die Roerichs waren 1921 erkennbar im sozialen Abstieg begriffen. Ihnen drohte ein Schicksal wie das vieler weißrussischer Emigranten, die von der Spitze der Gesellschaft ins tiefste soziale Elend abgestürzt waren. Im Berliner Stadtteil Charlottenburg, zu jener Zeit Charlottengrad genannt, drängten sich auf den Bürgersteigen Russen, die ihre letzten Ringe an Passanten verkauften; in Paris schlugen sich ehemalige Großfürsten als Droschkenkutscher durch, und im Hafen von Schanghai machten adelige Fräulein chinesischen Prostituierten Konkurrenz. In Schanghai, wo das europäische Prestige nicht nur durch weiße Prostituierte, sondern auch durch schlichte Bettelei ehemaliger Soldaten und Offiziere erheblich ins Wanken geriet, erwogen die Kolonialmächte sogar, jedem geflüchteten Russen monatlich einen Betrag auszuzahlen, um sie endlich von den Straßen zu bekommen. Doch letztlich siegte der Geiz und die Flüchtlinge wurden ihrem Elend überlassen.

Von der hoffnungslosen Atmosphäre in den Zentren der Emigration wegzukommen war für Roerich, dem auch Angebote aus Paris vorgelegen hatten, einer der Gründe gewesen, nach Amerika zu kommen. Jetzt waren er und seine Frau auf dem besten Weg, das Schicksal ihrer geflüchteten Landsleute zu teilen.

Möglicherweise nahm Nikolai Roerich in dieser Lage sogar Zuflucht zur Kunstfälschung. Jedenfalls versuchte er 1920/21 mehrmals ein Bild von Rembrandt zu verkaufen, von dem unklar ist, wie es in seine Hände gelangt war. Aus Petersburg kann er es kaum mitgenommen haben, und in der Emigration fehlte ihm das Geld. Aber es gibt eine weitere Möglichkeit. 1922 notierte seine Anhängerin Sinaida Lichtmann in ihr Tagebuch: »NK erzählte eine lustige Geschichte über den bekannten Pariser Kunsthändler Selmeier. Er bestellte bei einem Künstler eine Kopie von Rembrandt für 250 Francs. Danach bat er ihn, mit seinem Namen zu unterschreiben, und schickte dieses Bild nach Amerika. Gleichzeitig sandte der Kunsthändler eine anonyme Denunziation an den amerikanischen Zoll, dass Selmeier ein Rembrandt-Bild mit einer fremden Unterschrift nach Amerika geschickt habe. Der amerikanische Zoll hielt das Bild fest und verhängte einen Strafzoll. Selmeier schwor, dass dieses Bild nicht von Rembrandt, sondern von eben diesem Künstler stamme. Der Zoll antwortete ihm, dies sei ein echter Rembrandt. Man zwang ihn, eine große Strafe zu zahlen, und gab ihm eine Bestätigung. So konnte er das Bild in Amerika für eine gewaltige Summe verkaufen.«5

War Nikolai Roerich über eine Variante dieses Tricks an ein Bild von Rembrandt gekommen? Zuzutrauen wäre es ihm, denn als alles nichts fruchtete und die Lage sich nicht verbesserte, versuchte er es schließlich mit einem Versicherungsbetrug. Mit Hilfe eines weiteren Anwaltsbüros – diesmal Bloomberg & Bloomberg – wandte er sich an das Chicago Art Institute mit der Behauptung, man habe seine Bilder beschädigt. J. Arthur McLean, der Geschäftsführer der Kunsteinrichtung, antwortete am 17. August 1922: »Ich bin verwundert über ihre Annahme, dass an der Sammlung ein Schaden von 18000 oder 19000 Dollar entstanden sein soll. Das kommt mir so unglaublich vor, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass Sie das ernst meinen.«6

Ein späterer Jünger der Roerichs wird notieren, er sei dabei gewesen, wie der Künstler die angeblich schwerwiegenden Schäden in dreißig Minuten behoben habe.7

In diesen verzweifelten Jahren übernahm immer mehr ein Mann aus dem fernen Indien das Kommando. Es war niemand anders als Mahatma Morya, jener uralte Weise im Himalaja, bei dem Madame Blavatzky – nach ihrer Einreise nach Tibet versteckt unter Heu – Mitte des neunzehnten Jahrhunderts drei Jahre lang als seine »Chela« die Geheimwissenschaften studiert haben soll. Er kommunizierte mit der Familie durch Helena, die Frau des Künstlers, und teilte ihnen bald seine verblüffenden Pläne mit. Doch bevor wir zu diesen Plänen kommen, ist es nötig, einen Blick zurück in das vorrevolutionäre Petersburg und die Ehe von Nikolai und Helena Roerich zu werfen.

Keine Frage, Helena beeinflusste ihren Mann auf ungewöhnlich starke Weise. Sina Lichtmann notierte 1922 in ihr Tagebuch: »Sie ist NKs Inspiration. Ohne sie malt er keine Bilder und bittet sie immer, den Platz auszuwählen, wo er malen soll, und ihn an gesehene Farben zu erinnern. Wenn der Ort ausgewählt ist, aber ihr das Sujet nicht gefällt, dann wird er um nichts in der Welt malen.«8

Helena Roerich, die Urgroßnichte des Feldherrn Kutusow, des Siegers über Napoleon, scheint schon früh in der Ehe das Kommando übernommen zu haben. Allerdings lenkte sie ihren Mann eher indirekt, ließ ihm die Illusion, alles aus eigenem Antrieb erreicht zu haben. Das zumindest ist die Sicht von Helena Roerich selbst, die ihren beiden Jüngerinnen Sinaida und Esther Lichtmann viele Einzelheiten aus ihrer Ehe erzählte.

Die blendend schöne Helena, »toujours belle«, wie Benois in sein Tagebuch notierte, leitete laut Sinaida Lichtmann den Aufstieg ihres Mannes in der kaiserlichen Gesellschaft. Sie war es auch, die ihn auf die Theosophie gestoßen hatte.

Helena Roerich hatte viel Zeit für sich selbst in St. Petersburg. Wie in besseren Kreisen üblich erledigten Angestellte alle Arbeiten im Haus. Wie Esther Lichtmann aufschrieb, »liebte sie die Einsamkeit. Sie nahm sich jeden Morgen zwei Stunden und befahl, sie nicht zu stören. Sie sagte, sie ziehe sich an, aber in Wahrheit saß sie und las oder, am wichtigsten, dachte nach.«9 Dabei kamen ihr manchmal visionäre Erlebnisse, die sie, wie auch ihre Träume, dem berühmten Psychiater Bechterew mitteilte. Ein Traum sei so farbig gewesen, dass Bechterew bemerkt habe, sie solle Künstlerin werden.

»Helena Roerich hat eine wunderbare Vorstellungskraft«, notierte Sinaida Lichtmann nach einem Spaziergang. »Sie sieht ganze Bilder in den Wolken und kann das so mitteilen, dass auch andere anfangen, dies zu sehen. Dank ihr sahen wir Schlösser und Berge und zwei breite Straßen, die in eine ferne Stadt führten, und eine große Figur mit einer scharfkantigen Mütze und danach zwei Sonnen.«10

Möglicherweise ging Helenas »wunderbare Vorstellungskraft« mit einer Neigung zur Epilepsie oder einer anderen Art von psychischer Erkrankung einher. Aus einem Briefwechsel mit Nikolai Roerich weiß man, dass sie 1913 mehrere Wochen in einem Krankenhaus war, und aus ihrer Bemerkung, man habe ihr alle Haare abrasiert, lässt sich auf eine Operation am Kopf schließen. Auch gibt es Hinweise, dass die enge Beziehung der Roerichs mit Dr. Rjabinin nicht nur auf »ein gemeinsames Interesse an psychischen Phänomenen« zurückzuführen war, sondern auch auf eine Behandlung Helenas durch den bekannten Psychiater. Möglicherweise verhielt es sich mit Bechterew ähnlich.

Sollte Helena Roerich tatsächlich unter Epilepsie oder irgendeiner anderen Form geistiger Krankheit gelitten haben, so beeinträchtigte dies jedenfalls nicht im Geringsten den Einfluss auf ihren Mann. Sina Lichtmann resümierte die Erzählungen Helena Roerichs über ihre Ehe mit den Worten: »... ohne seine Frau hätte es Roerich als größten Künstler und Menschen nicht gegeben.«11

Man kann hinzufügen, ohne sie wäre Nikolai Roerich wahrscheinlich, wie so viele andere Emigranten, im Exil verzweifelt und auch nie nach Amerika gekommen. Für Nikolai Roerich bedeutete die Revolution den Verlust seines Ansehens, seiner Stellung, den Zusammenbruch seiner Welt. Für Helena Roerich war die »Revolution ein Feiertag. Denn«, so notierte Esther Lichtmann, »sie hatte sich trotz des Luxus und des Reichtums immer gefragt, was kommt jetzt?«12

Und was kam, das waren Mahatma Morya und Mahatma Kut Humi.

Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus

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