Читать книгу Nikolai Roerich: Kunst, Macht und Okkultismus - Ernst von Waldenfels - Страница 5
Anstelle eines Vorworts:
Das Tagebuch des Dr. Rjabinin
ОглавлениеIch fand das Buch in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, an einem kalten Herbstabend 2004. Es lag unter einem Stapel von Büchern in einem kleinen Antiquariat, das hauptsächlich russische Bücher im Angebot hatte. Es war die alte Intelligenz aus sozialistischen Zeiten, die hier aus Not ihre Schätze verkaufte. Wissenschaftliche Abhandlungen über Archäologie, Geografie und Kunstgeschichte, die nun niemanden mehr zu interessieren schienen, und eben dieses Buch.
Sein Titel war »Tibet – Enthüllt« und erschienen war es 1996 bei »Amrita-Ural«, einem Verlag irgendwo in der russischen Provinz. Das Buch sah ungewöhnlich aus. Es war solide gebunden und hatte einen festen blauen Umschlag. Der Titel war zwar in kyrillischer Schrift gesetzt, aber der Stil der Buchstaben erinnerte an Sanskrit oder das, was der Layouter für Tibetisch gehalten haben muss. Das Buch war umfangreich, über sechshundert Seiten, hatte beinahe DIN-A4-Format, enthielt Fotos und Zeichnungen und war ungewöhnlich liebevoll gedruckt. Auch das Papier verriet, dass die Herausgeber weder Mühe noch Kosten gescheut hatten. Während sonst im Russland der chaotischen neunziger Jahre Bücher gewöhnlich auf Zeitungspapier gedruckt wurden, hatte man hier schweres und völlig weißes Papier gewählt.
Die Herausgeber mussten vermögend oder selbstlose Enthusiasten sein, denn das Buch war wohl keines von der Sorte, das sich zu Zeiten Jelzins in Russland gut verkaufen ließ.
Es war weder ein Kriminalroman, noch wartete es mit angeblichen oder wahren Sensationen auf, die man in den erst seit wenigen Jahren zugänglichen Archiven gefunden hatte.
Der Untertitel des Buches lautete: »Die Original-Tagebücher der Expedition von N. K. Roerich« und der Autor hieß K.N. Rjabinin. Auf der ersten Druckseite stand die Jahreszahl 1928 und das Motto »Keine Religion übertrifft die Wahrheit und die Weisheit ist ihr Licht«.
Auf der nächsten Seite standen folgende weitere Angaben: »Das Buch enthält die originalen Tagebuchaufzeichnungen von K. N. Rjabinin. Diese Dokumente hätten nie das Licht erblickt und wären zweifellos auf ewig unbekannt geblieben, wären sie nicht 1992 zufällig durch die russischen Diplomaten A. M. Kadakin und B. S. Starostin auf dem Landsitz der Roerichs in Kullu (Indien) entdeckt worden«
Das Buch interessierte mich. Tibet war in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts das unzugänglichste Land der Welt. Die Todesstrafe bedrohte jeden Tibeter, der ohne ausdrückliche Erlaubnis des Dalai Lama Fremde ins Land ließ. Selbst der unermüdliche Sven Hedin hatte es nur geschafft, die Randgebiete zu bereisen, und war nie nach Zentraltibet, nach Lhasa vorgedrungen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kann man die Zahl der Expeditionen nach Tibet an zwei Händen abzählen. Ich kannte die berühmten Aufzeichnungen von Alexandra David-Neel und Sven Hedin und sogar die obskuren Notizen eines japanischen Mönches, der 1901 bis nach Lhasa gekommen war. Von der Expedition eines N. K. Roerich hatte ich aber bis dahin noch nie gehört.
Ich erwarb das Buch.
Das Vorwort stammte von B. S. Starostin, einem der beiden Diplomaten, die das Manuskript gefunden hatten. Über Rjabinin stand zu lesen, dieser sei ein talentierter Arzt und Psychologe gewesen und habe sich sowohl für die allermodernste westliche Medizin als auch für östliche Heilkunde interessiert. Etwas mysteriös hieß es weiter, er habe Forschungen im Bereich des menschlichen Geistes betrieben und auf diesem Gebiet erfolgreich experimentiert. Er habe höchsten Hofkreisen nahegestanden und sei der Arzt von Felix Jussupow, des Verwandten des Zaren und Mörders des Wunderheilers Rasputin, gewesen.
Vom Leiter der Expedition, Nikolai Konstantinowitsch Roerich, wurde anscheinend vorausgesetzt, dass dem Leser des Buches seine biografischen Daten bereits bekannt waren. Seine Leistungen als Maler und Denker wurden gepriesen. Es fanden sich dort Sätze wie: »Die kulturelle Hinterlassenschaft Roerichs wird noch lange Zeit von allen Seiten untersucht werden und es ist nicht sicher, dass sie jemals bis ins Letzte verstanden werden wird. Nicht nur weil seine Tätigkeit so umfassend und seine Interessen so vielfältig waren, sondern auch, weil er so tief in den Mikrokosmos des menschlichen Daseins, wie auch den Makrokosmos dessen, was den Menschen umgibt, eingedrungen ist.«
Weiter war in dem Vorwort von einem seltsamen Flugobjekt die Rede, das die Teilnehmer der Expedition beobachtet hätten. Laut der Mongolen und Tibeter unter ihnen hätte dieses Objekt zur »Bruderschaft« gehört, die den Apparat dazu genutzt hätte, mit dem Pantschen Lama in Mukden Kontakt aufzunehmen. Welche Bruderschaft und was für ein Apparat?
Und natürlich war die Frage interessant, wie ein sowjetischer Diplomat, nach Ausbildung zweifellos Marxist-Leninist, überhaupt solche Sätze kommentarlos zitieren konnte.
Dem Vorwort folgte eine Seite mit einigen wenigen, sehr groß gedruckten Sätzen.
Betitelt waren sie mit »Geleitworte der Lehrer des Ostens«. Der Sinn dieser wenigen Sätze war dunkel, die Sprache alttestamentarisch: »Unvergesslich zu wissen, wie die Reisenden im Namen der Errichtung einer neuen Welt vorwärtsschreiten, da die Städte sie mit ihrer Bequemlichkeit verlocken; da kleinliches Streben nach Eigentum die besten Geister gefangen nimmt, haben sie kühn beschlossen, das Silber ihrer Arbeit beizutragen.«
Diesen Sätzen folgte eine Einleitung des Autors, Dr. Rjabinin, selbst. Unter anderem schrieb er: »Einige Seiten des Tagebuchs betreffend die Bruderschaft im Himalaja oder die verbotene Zone von Schambala; über den legendären, aber wahrhaftig existierenden Meteoriten, den man den Schatz der Welt oder Tschintamani nennt, mögen einem Leser, der sich nicht in die Literatur vertieft hat, als Erfindung oder zumindest Aberglauben vorkommen. Ich bitte zu bedenken, dass der Autor des Tagesbuchs die fünfzig bereits überschritten hat und über grundlegende Kenntnisse in der Medizin und den Naturwissenschaften verfügt. Die betreffenden Stellen gründen sich nicht nur auf das, was der Autor gelesen hat, sondern auf Fakten, deren Zeuge er selbst gewesen ist.«
Weiter schrieb Dr. Rjabinin mehrere Seiten über Nikolai Roerich, der im Petersburg der Zarenzeit ein hoch angesehener Künstler mit Zugang zu höchsten Kreisen gewesen war. Er hatte ihn bereits 1898 kennengelernt, wie er schrieb, und die beiden verband ein Interesse an »Experimenten im Bereich des Geistes«, wie es Dr. Rjabinin ausdrückte, ohne Näheres mitzuteilen. Später kam auch noch die Ehefrau Roerichs, Helena, dazu, und »das Verständnis der beiden für mein geistiges Streben war die Grundlage für unsere Nähe. Ich erinnere mich, wie wir damals über die großen geistigen Errungenschaften Indiens sprachen und über die ›Lehrer des Ostens‹. Die Tiefe ihrer Gedanken und Lehre bezeugte die gewaltige Kenntnis des menschlichen Geistes, die sich in den geheimen Zentren der Eingeweihten, vor allem aber in der Bruderschaft des Himalaja, laut uralter Überlieferung angesammelt hatte. Das letztere Zentrum erschien uns immer als Quelle des unübertrefflichen Wissens und der Wahrheit. Den Weg dorthin hofften wir über Indien zu finden.«
Es folgte das Tagebuch selbst, das streckenweise hochspannend war. Die Karawane durchquerte die Wüste Gobi, dann das Nan-Schan-Gebirge, stieß mit räuberischen Gebirgsstämmen zusammen, begegnete tibetischen Wundermönchen und verbrachte über einen Monat in einem Kloster der geheimnisvollen Bön-Po-Sekte.
Doch gab das Tagebuch nicht weniger Rätsel auf als das Vorwort und die Einleitung. Es fing bereits mit den ersten Tagen an. Die Expedition verließ die Hauptstadt der Mongolei nicht etwa, wie in diesen Jahren zu erwarten gewesen wäre, mit einer Kamelkarawane, sondern mit Lastwagen, die ausgerechnet die sowjetische Handelsvertretung zur Verfügung gestellt hatte. Hier lag etwas verborgen, war noch etwas Unbekanntes im Spiel. Denn im ersten Eintrag im Tagebuch des Dr. Rjabinin vom 9. April 1927 lautete gleich der zweite Satz: »Die Flagge von Buddha Matreya ist fertiggestellt. Das Ziel der Mission, die als erste in der Geschichte ohne Maskierung und Geheimnistuerei auftritt, ist die Schaffung eines wahren Buddhismus und von erregender Bedeutung.«
Nur, was konnte die sowjetische Handelsvertretung für ein Interesse an einer Expedition mit offensichtlich religiösen Zielen haben?
Noch rätselhafter war, wie Dr. Rjabinin, offensichtlich alles andere als ein überzeugter Kommunist, überhaupt die Erlaubnis bekommen konnte, die Sowjetunion zu verlassen. Noch dazu in wenigen Tagen, als sei die Sache von ganz oben abgesegnet worden. Normalerweise dauerte es in der Sowjetunion jener Jahre Monate, bis ein Mann mit solch zweifelhaftem Vorleben wie ein Arzt mit Verbindungen zur Zarenfamilie einen Auslandspass bekam. Wenn er überhaupt einen erhielt.
Es konnte eigentlich nur eine Erklärung dafür geben: Höchste Spitzen im Machtapparat in Moskau verfolgten mit der Expedition eigene Interessen.
Nur, welche es waren, ließ sich dem Tagebuch nicht entnehmen. Und falls Dr. Rjabinin sich darüber Gedanken gemacht haben sollte, so vertraute er sie dem Tagebuch klugerweise nicht an. Schließlich wollte er, wie sich den Aufzeichnungen an anderer Stelle entnehmen ließ, in die Sowjetunion zurückkehren.
Das Tagebuch hatte mich neugierig gemacht. Was hatte es mit der Bruderschaft und Schambala auf sich? Wieso glaubte nicht nur Dr. Rjabinin in den zwanziger Jahren, sondern offensichtlich auch ein sowjetischer Diplomat siebzig Jahre später an die Existenz dieser geheimnisvollen Gemeinschaft? Wieso hatten Instanzen im sowjetischen Staatsapparat die Expedition überhaupt zugelassen und sogar gefördert?
Eine schnelle Recherche in einer Encyclopedia Britannica, die ich als CD in einem Kiosk in Ulan Bator gekauft hatte, ergab, dass Roerich zumindest in Amerika eher als Fußnote der Kunstgeschichte gesehen wurde, denn die Herausgeber des Lexikons hatten seiner Biografie kaum mehr als eine viertel Spalte eingeräumt. Lapidar hieß es, er sei 1874 in St. Petersburg geboren worden, habe sich einen Namen als Künstler vor allem durch seine Bühnenbilder gemacht und sei Szenarist des berühmten Balletts »Das Frühlingsopfer« von Igor Strawinsky gewesen. 1920 sei er nach Amerika emigriert und hätte reiche Gönner gefunden, die ihm bereits zu Lebzeiten ein Museum finanzierten.
Roerich sei auch Mystiker gewesen, wurde geschrieben, und dann folgte noch die kurze Anmerkung, dass eine der einflussreichsten Figuren der amerikanischen Innenpolitik der dreißiger und vierziger Jahre, der Landwirtschaftsminister Roosevelts und spätere Vizepräsident der USA, Henry Wallace, Roerich als seinen Guru betrachtet habe. Zumindest bis 1935, als Roerich im Zusammenhang mit einer weiteren Expedition, diesmal in die Mandschurei, einen Skandal auslöste, der Wallace dazu zwang, sich von Roerich zu distanzieren.
Es verblieb der Briefwechsel zwischen den beiden. Wallace hatte Roerich als »mein Guru« angesprochen, und es fanden sich dort seltsame Sätze wie: »Die Affen suchen Freundschaft mit den Herrschern, um das Land der Meister unter sich aufzuteilen. Der Wandernde glaubt dies und hegt großes Misstrauen gegenüber den Affen.«
1948 wurden diese Briefe dazu benutzt, Henry Wallace, die Galionsfigur der amerikanischen Linken und bis dahin aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, in den Augen der Wähler zu diskreditieren.
Mehr war in diesem wichtigsten Lexikon der englischsprachigen Welt nicht zu erfahren. Das Internet dagegen wartete mit Abertausenden von Seiten auf. Augenscheinlich war Roerich ein Liebling der Verschwörungstheoretiker, besonders der amerikanischen. Unzählbar die Seiten, die Wallace und Roerich mit der mysteriösen Pyramide auf den amerikanischen Ein-Dollar-Noten und dem darunter gedruckten Motto »Novus ordo seclorum« in Verbindung brachten. Ominöse Deutungen dieses harmlosen Mottos waren fast so zahlreich wie die in Umlauf gebrachten Noten selbst.
Im deutschsprachigen Teil des Internets dagegen war die Zahl der Seiten über Roerich vergleichsweise bescheiden. Hier dominierten ernsthafte Erörterungen einer mystischen Lehre namens »Agni Yoga«, die Roerichs Ehefrau Helena ins Leben gerufen hatte. Es fanden sich Übersetzungen ihrer Bücher und zahlreicher Briefe mit okkultem, schwer verständlichem Inhalt. Auch zu Nikolai Roerich gab es einiges, der als »Prophet der Schönheit und Kultur« und »großer Friedensstifter« gerühmt wurde.
Am meisten war zu Roerich im russischen Internet zu finden. Mehrere Museen präsentierten sich, die ganz oder teilweise seinem Schaffen gewidmet waren. Die meisten Texte stammten von seiner Frau Helena oder von Anhängern, die sich zu Vergleichen Roerichs mit Leonardo da Vinci verstiegen oder Roerich sogar als »Retter Russlands« priesen. Er wurde als Nachfahre Ruriks vorgestellt, jenes skandinavischen Warägers, der am Anfang der Kiewer Rus steht, und im Zusammenhang mit der Expedition 1927 war zu erfahren, er sei vorher in Moskau gewesen, um der sowjetischen Staatsspitze eine wichtige Warnung zukommen zu lassen.
Es gab allerdings auch ein paar wenige Seiten, die Roerich in einem ganz anderen Licht erscheinen ließen. Einigen galt er schlicht als Agent der sowjetischen Geheimpolizei, der seinen Mystizismus als raffinierte Tarnung verwendet habe, um Spionage zu betreiben. Andere hielten ihn für einen bloßen Scharlatan, der auf nichts als das Geld seiner reichen amerikanischen Gönner aus gewesen war.
Allen Seiten gemeinsam war ihre Mythologisierung des Mannes. Zwischen Vergötterung und Verdammung, Schwarz und Weiß schien es keine Schattierung zu geben.
Wer war dieser Mann und was hatte es mit alledem auf sich?
Mit dem Tagebuch des Dr. Rjabinin hatte eine Suche begonnen, die mich schließlich nach Indien, in die USA und mehrmals nach Russland führte. Dabei stieß ich wie beim Öffnen einer russischen Matroschka auf immer neue Schichten und neue Puppen in der Puppe. Nichts war bei diesem Mann so, wie es auf den ersten Blick schien. Und das fing schon mit seiner Herkunft an.