Читать книгу Immer noch wach - Fabian Neidhardt - Страница 10
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ОглавлениеDie wenigen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, als er noch gesund war, ähneln sich alle. Er sitzt am Tisch in der Küche und isst, was meine Mutter gekocht hat. Ich sitze neben ihm, meine Mutter mir gegenüber. Ich bin als Erster fertig, ich schlinge, denn dann kann ich meinem Vater erzählen, was ich an diesem Tag gemacht habe.
Er isst bedächtig und betrachtet dabei die Tischplatte zwischen uns. Manchmal fallen ihm die Augen für einen Moment zu, manchmal sinkt sein Kopf ein wenig in Richtung Brust, dann zuckt er, sieht mich an und lächelt sein halbes Lächeln, zu müde für ein ganzes.
Ich mache immer wieder Pausen in meinen Berichten und warte auf sein Nicken. Manchmal isst er stoisch weiter, den Blick immer auf das gleiche Stück Tischplatte gerichtet. Dann rutsche ich auf meinem Stuhl ein wenig nach vorne und lege meinen Kopf so auf den Tisch, dass er mich ansehen muss. Er grinst dann und fährt mir durch die Haare. Obwohl er sich die Hände jeden Abend schrubbt, bevor er sich an den Tisch setzt, sind die Ränder seiner Fingernägel immer ein wenig verfärbt. Weil das Motoröl sich nach all den Jahren in der Haut festgefressen hat. Die Furchen und Rillen in seinen Händen sind tief, und wenn meine Mutter erfolglos versucht, ein Glas von Omas Marmelade zu öffnen, dann nimmt mein Vater das Glas in eine Hand, verdeckt mit der anderen den gesamten Deckel und bewegt ihn nur ein kleines Stück. Danach kann selbst ich den Deckel abschrauben.
Manchmal müssen wir mit dem Essen auf ihn warten. Meistens essen wir dann trotzdem allein, aber wir fangen nicht sofort an. Wenn mein Vater so spät kommt, dann flucht er über alles. Ich denke, wenn er so viel länger arbeiten muss, dann müsste er doch eigentlich noch müder sein. Stattdessen erzählt er, von seinem Chef und den Kunden und den Ersatzteillieferanten und wie scheiße einfach alles ist. Ich sehe ihn mit großen Augen an und nach einem Schwall von Schimpfwörtern, die meine Mutter nicht mal mehr kommentiert, schaut er zu mir.
„Alex, du darfst später arbeiten, was du willst. Aber geh auf die Uni. Lern was Richtiges. Mach es nicht so wie ich.“
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Das ist der einzige Ratschlag, von dem ich sicher weiß, dass ich ihn von meinem Vater bekommen habe. Bis ich studieren kann, ist er schon lange tot. Aber natürlich studieren Bene und ich. Die Leute sagen, mit BWL stünde uns die Welt offen. Die Welt, das sind in diesem Fall Büros, in denen wir unsere jahrelang erlernten Fähigkeiten nutzen, um Zahlen aus der einen Tabelle in eine andere zu übertragen. Aber wir wohnen in unserer eigenen Wohnung und ich habe mein eigenes Zimmer.