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Als Helen am nächsten Morgen klopft, sitze ich auf dem Bettrand und habe zum ersten Mal seit zwei Wochen meine Schuhe an.

„Guten Morgen, Alex. Dir geht’s besser.“

„Auf jeden Fall. Heute können wir die Führung machen.“

Kurz darauf steht Frau Renninger in der Tür.

„Herr Fink, wie schön, dass es Ihnen besser geht.“

Wir gehen los.

„Insgesamt haben wir 16 Zimmer.“

„Ganz schön viel Platz für nur 16 Zimmer.“

„Wir hatten Glück. Der Hof wurde damals zu einem Hotel umgebaut, das aber nie in Betrieb genommen wurde. Mehr als 16 Patienten darf ein Hospiz in Deutschland nicht aufnehmen, obwohl die Warteschlangen lang sind.“

„Komisch, dabei habe ich noch nie Werbung für Hospize gesehen.“

Sie betrachtet mich von der Seite.

„Für den ganz großen Andrang sind wir zu abgelegen, Sie können sich aber trotzdem glücklich schätzen.“

Sie öffnet eine Tür neben dem Aufzug und lässt mich eintreten.

„Das ist das Bunte Zimmer, unser Kunsttherapieraum. Zeichnen, malen, töpfern, alles möglich. Dreimal die Woche kommt Sandro, unser Kunsttherapeut, und bietet seine Hilfe an. Aber Sie können auch alleine hier arbeiten.“

Sie führt mich weiter zum Musikzimmer, in dem nicht nur ein Klavier, ein paar Gitarren und einige andere Instrumente stehen, sondern auch große Boxen an der Wand hängen.

„Manche unserer Gäste wollen nicht Musik machen, aber sie laut hören. Natürlich geht das auch auf dem Zimmer, aber ab einer gewissen Lautstärke und Uhrzeit bringen wir sie hierher. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch das Haupthaus.“

Je näher wir dem Haupthaus kommen, desto mehr Leute treffen wir. Ein paar Besucher stehen vor dem Fahrstuhl, dann sehen wir Helen eine Gästin aus einem Raum herausschieben. Ich meine, die Frau mit der rot-grünen Harlekinmütze schon mal draußen gesehen zu haben. Als sie auf unserer Höhe ist, hält sie ihre flache Hand nach oben und sieht mich erwartungsvoll an. Ich klatsche meine Hand dagegen, sie lacht kopfschüttelnd und die Glöckchen an ihrer Mütze klingeln. Ich drehe mich nach ihr um.

„Es ist ihre Lieblingsmütze.“

„Und sie soll sich hier wie zuhause fühlen?“

„Nein, sie soll sich wohl fühlen.“

Frau Renninger öffnet eine weitere Tür. Viele Tische stehen in kleinen Gruppen. In einem Regal sehe ich Brettspiele und Bücher, auf der anderen Seite Sofas vor einem Fernseher, der ein wenig größer ist als die in den Zimmern. An einem Tisch sitzen sich zwei Rollstuhlfahrer gegenüber und spielen „Mensch ärgere dich nicht“. Direkt neben der Tür entdecke ich eine Kerze.

„Das ist unser Gemeinschaftsraum. Er steht immer offen und kann von allen genutzt werden. Sonntags schauen sich ein paar Leute hier den Tatort an.“

„Eigentlich fehlt nur noch ein Bolzplatz.“

Frau Renninger runzelt die Stirn. Ich hätte den Witz bei Martin machen sollen. Oder bei Helen.

„Mit 16 Patienten bekommen wir keine zwei Mannschaften zusammen. Und bis wir die fit haben, ist die Hälfte schon gestorben. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch den Speiseraum.“

~

Der Speiseraum liegt zwischen Gemeinschaftsraum und Eingangsbereich und ist mehr ein Saal. Gegenüber der Tür gelangt man wieder auf die Terrasse und in den Garten, eine Doppeltür führt in die Küche daneben. Zwei lange Tischreihen stehen mittendrin, lose bestuhlt.

„Hier nehmen wir gemeinsam die Essen ein. Sie haben ja schon festgestellt, dass dies lediglich ein Angebot ist. Wobei die meisten es annehmen, zum Teil auch dann, wenn sie selbst nichts mehr essen oder trinken wollen. Dann haben sie trotzdem Gesellschaft.“

„Wie meinen Sie das, wenn sie nichts mehr essen oder trinken wollen?“

„Manchmal entscheiden sich Menschen, nichts mehr zu essen. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, dürfen wir sie nicht zwingen.“

„Bis sie sterben?“

Frau Renninger hebt die Schultern und legt den Kopf zur Seite.

„Dafür sind sie hier. Aber den Fall haben wir sehr selten. An der Seite haben wir noch die Küchenzeile für die Gäste und ihre Besucher. Dort kann sich jeder selbst Essen zubereiten.“

Frau Renninger geht mit mir bis zu den Glastüren auf der anderen Seite und tritt nach draußen.

„Das ist unsere Terrasse.“

„Die sehe ich vom Balkon aus.“

„Richtig. Dort sind unsere Hochbeete. In Rollstuhlhöhe. Bis dahin können Sie sich komplett frei bewegen, wann Sie wollen. Das Gatter zum Wald schließen wir nachts ab.“

„Ist das Ihr Wald?“

„Wir haben den Weg bis in den Wald pflastern lassen, damit die Gäste es leichter haben. Und wir haben die Bänke aufgestellt. Aber offiziell gehört der Wald dem Land.“

Sie dreht den Kopf Richtung Haus und legt dann die Hände ineinander.

„Das ist alles. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.“

„Ja, ich glaube, hier bleibe ich bis zum Ende meines Lebens.“

„Sie glauben nicht, wie oft ich diesen Witz höre. Ich muss zurück ins Büro. Finden Sie Ihr Zimmer alleine?“

Ich nicke, leicht betreten, sie geht ins Haus zurück. Ich traue mich nicht, gleich hinterherzulaufen.

Zwischen den Beeten sitzt eine Frau im Rollstuhl, beide Hände tief in der Erde, während sie mich anstarrt. Ich starre zurück, und als sie meinem Blick standhält, winke ich ihr zu. Ihre Augen verengen sich.

„Sind Sie ein Pfleger?“

„Nein, ich bin Gast. Ich heiße Alex.“

Sie zuckt mit den Schultern.

„Sich mit Gästen anzufreunden, lohnt sich nicht. Sobald man sie sympathisch findet, sterben sie.“

Sie senkt den Kopf und widmet sich wieder ihrem Beet.

Die Frau heißt Birte und die anderen sagen mir, ich solle mich nicht wundern, sie ist eben Einzelgängerin. Die meisten freuen sich hier aber über Gesellschaft.

~

Beim Mittagessen im Speiseraum lerne ich noch mehr Gäste kennen. Peter ist ein Männchen, wenn wir nebeneinander stehen, reicht sein grauer Haarschopf knapp über meinen Bauchnabel. Er schiebt seinen Rollator neben meinen Stuhl und zieht sich auf die Sitzfläche. Er ist fast 80 und weiß seit zwei Wochen, dass sein Krebs gestreut hat.

Um seinen Hals hängt ein Brustbeutel, in dem ein flaches Gerät steckt. Kabel laufen heraus und verschwinden unter seinem Pullover. Durch das Sichtfenster kann ich ein paar Knöpfe und ein kleines Display sehen, wie bei einem alten Taschenrechner. Peter bemerkt meinen Blick, schaut an sich herunter und nimmt das Gerät in die Hand.

„Cool, nicht? Das ist meine Schmerzmittelpumpe. Ich kriege die ganze Zeit was gespritzt. Und wenn’s nicht reicht, gibt’s diesen Powerknopf. Für den Bolus. Die Extraportion Watte im Kopf.“

Ich höre ein aufgeregtes Klingeln und sehe, wie Helen die Frau mit der Mütze in den Saal schiebt. Sie sieht mich und zeigt zu mir. Helen rollt sie uns gegenüber. Die Frau unter der Harlekinmütze heißt Lilia.

Sie redet viel und schnell und ich verstehe sie nicht. Was nicht schlimm ist, besonders nicht für sie, sie lacht einfach und redet weiter. Anna dagegen redet gar nicht. Sie fährt ihren Rollstuhl neben uns und Peter erzählt mir, dass niemand weiß, wie ihre Stimme klingt. Seit sie hier ist, hat sie noch nichts gesagt. Ihr Mann hat sie gepflegt. Bis er vor kurzem an einem Herzinfarkt gestorben ist.

Am anderen Ende unserer Reihe sitzt noch eine kleine Gruppe, neben dem Tisch steht ein Bett. Ein paar Leute sitzen allein. Ich bin froh, dass sich nicht noch mehr zu uns setzen. Ich habe für ein Mittagessen genug Geschichten gehört, die mich an meine eigene erinnern.

Immer noch wach

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