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In einer Sache sind Doktor Münchenberg und das Internet sich einig: Es gibt keine Heilung. Nur palliative Behandlungen. Ein schönes Wort für einen bitteren Geschmack: Sie lindern den Schmerz, aber sie können die Krankheit nicht heilen. Was ist das für ein Leben?

Ich lehne im Rahmen des Zimmers, in dem früher Bene gewohnt hat und das mittlerweile unser Wohnzimmer ist. Ich habe Lisa im Treppenhaus gehört, irgendwann erkennt man Menschen anhand ihrer Schritte. Sie schließt die Tür hinter sich und verharrt im Flur, als sie mich sieht. Dann zieht sie den Mantel aus und löst ihren Zopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

~

Ich habe ihre kurzen Haare geliebt. Geliebt, wie der schmale Rahmen ihr Gesicht betont, die Lippen hervorhebt. Geliebt, darüberzufahren und den leichten Widerstand an meinen Fingern zu spüren. Geliebt, sie alle paar Wochen mit dem Rasierer auf 22 Millimeter zu bringen. Als sie in dieser Wohnung aufgetaucht ist, waren es diese kurzen Haare, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Irgendwann hat sie sie wachsen lassen. Mit den kurzen, krausen Locken sah sie aus, wie ich mir Georgina von den fünf Freunden immer vorgestellt habe. Und dann fielen sie ihr irgendwann wieder über die Schulter.

Wenn sie vor dem Spiegel steht und versucht, ihre Mähne zu bändigen, bleibe ich manchmal neben ihr stehen und schwelge von 22 Millimetern. Sie schüttelt jedes Mal den Kopf.

„Weißt du, was es für eine Qual war, sie wachsen zu lassen? Auf keinen Fall.“

~

„Was ist los? Ist alles okay?“

„Ich muss mit dir reden.“

Kann es offensichtlicher sein, dass eben nicht alles okay ist? Sie folgt mir ins Wohnzimmer und setzt sich in den Sessel mir gegenüber.

Bene und ich haben ihn irgendwann auf dem Sperrmüll gefunden und quer durch die Stadt in den vierten Stock und in ihr Zimmer geschleppt, weil wir sicher waren, dass sie ihn lieben würde. Kurz nachdem Lisa an dem Abend nach Hause gekommen war, stand sie in der Küche.

„Wer hat dieses hässliche Ding in mein Zimmer gestellt? Wo kommt das her?“

Trotz all ihrer Bemühungen ist er in der Wohnung geblieben. Wir nennen ihn ihren Lieblingssessel.

Vor mir auf der Holzkiste liegen die Kopien, die mir Doktor Münchenberg mitgegeben hat, mein Computer und ein Notizblock. Lisa sieht mich erschöpft an.

Neben ihrem normalen Job hilft sie im Türrahmen, und zuhause warten der Krebs und ich auf sie.

„Doktor Münchenberg hat gesagt, vielleicht noch vier gute Monate, dann wird’s schlimmer.“

„Er sagt auch, dass ein operativer Eingriff das Ganze hinauszögern könnte. Und dass es viele weitere medizinische Möglichkeiten gibt. Und noch mehr außerhalb der Schulmedizin.“

„Hinauszögern. Könnte. Und dann liege ich die hinausgezögerte Zeit im Krankenhaus und erhole mich von der Operation. Lisa, ich will die Zeit, die ich habe, noch nutzen.“

Sie verschränkt die Arme vor der Brust und lässt sich nach hinten fallen.

„Und wie willst du sie nutzen?“

Ich beginne, mit den Fingern abzuzählen. Der Daumen.

„Ich will Dinge aus der Welt schaffen. Ich muss mit ein paar Menschen reden. Sachen sagen, die ich immer sagen wollte. Mich entschuldigen. Anderen die Möglichkeit geben, sich bei mir zu entschuldigen. Menschen sagen, was sie mir bedeuten.“

Der Zeigefinger.

„Ich will viel Zeit mit den Menschen verbringen, die mir wichtig sind. Ich will viel Zeit mit dir verbringen!“

Mit dem Ärmel ihres Pullovers fährt sie sich über die Augen, zieht fast trotzig die Nase hoch und muss dann doch lächeln. Auf dieses Lächeln habe ich gewartet. Es wird den Rest hoffentlich leichter machen. Der Mittelfinger.

„Ich möchte eine kleine Liste von Dingen zusammenschreiben und sie erledigen. Meine Löffelliste.“

„Scheiß Name.“

„Wenn dir ein besserer einfällt, sag Bescheid.“

Ich klappe den Daumen ein und strecke alle anderen Finger aus.

„Ich will eine große Feier machen. Eine Abschiedsparty, im Türrahmen.“

Lisa sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich lasse die Hand sinken.

„Und dann werde ich in ein Hospiz gehen.“

Sie runzelt die Stirn, dreht den Kopf leicht, lässt die Worte wirken, sieht mich aber unentwegt an.

„Aber … kann ich nicht für dich sorgen?“

Ich rutsche nach vorne und greife über die Kiste hinweg nach ihrer Hand.

„Lisa, du würdest kaputtgehen. Ich weiß, wie ich am Ende aussehen werde. Im Krankenhemdchen, abgemagert, die Wangen eingefallen. Erst kann ich noch mit einem Rollator und am Ende dann gar nicht mehr laufen. Und du wirst neben mir am Bett sitzen. Ich werde unruhig schlafen und du wirst so lange wach bleiben, wie dein Körper es zulässt. Eine Hand an meinem Kopf, die andere am Arm. Du wirst darauf achten, dass die Infusionsnadel sich nicht löst und dass das Licht mich nicht blendet. Du wirst mich füttern, und du musst damit nicht einmal warten, bis ich 64 bin. Ich bin es, der krank ist, der sterben wird. Aber du wirst leiden. Das will ich nicht.

Und ich will nicht, dass du mich als ausgezehrten, schwachen Kranken in Erinnerung behältst, dem du am Ende die Scheiße vom Hintern und die Kotze aus dem Bart kratzen musst. Ich will nicht, dass das dein letztes Bild von mir ist.“

Ihre Schultern beginnen zu zucken, sie hält meine Hand fest und zieht mich zu sich. Ich klettere über die Kiste und knie vor ihr auf dem Boden, Lisa rutscht vom Stuhl auf meinen Schoß und umfasst meine Hände, legt ihren Kopf an meinen. Ich habe den Begriff „heiße Tränen“ nie verstanden, aber jetzt spüre ich ihre warme, feuchte Wange an meiner. Sie schluchzt und schüttelt den Kopf, drückt ihre Stirn gegen meinen Kopf. Ihr Rotz bleibt an meiner Nase hängen.

„Aber ich will mich um dich kümmern. Ich will für dich da sein.“

Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände, wische ihr mit den Daumen die Tränen von den Wangen und halte sie fest.

„Seit ich dich kenne, kümmerst du dich. Du bist die Beste darin, sich um andere zu kümmern. Aber du leidest jedes Mal. Denk doch, wie weh es dir tut, wenn ich mal eine Grippe habe.“

Sie nickt und lächelt und schluchzt.

„Wir reden von Monaten, die damit enden, dass ich tot bin. Ich will nicht, dass du das machst. Ich will dir das nicht antun.“

Ihr Kopf rutscht auf meine Schulter und ich lege meine Arme um ihren Körper. Spüre ihr Atmen, die stoßenden Schluchzer, ihr Zittern. Dann lässt sie die Luft kontrolliert durch die Lippen entweichen. Ihre Stimme klingt nass und hoch, als sie etwas sagen will. Kraftlos und unsicher, wie ich sie selten gehört habe. Sie räuspert sich und setzt neu an.

„Was … was ist mit dem, was ich will?“

Ich weiß, was sie gleich antworten wird, aber ich frage trotzdem. Manchmal folgt das Leben einem unsichtbaren Drehbuch. Alle sagen ihre Zeilen, obwohl es wehtut. Weil wir hoffen, dass es am Ende besser sein wird.

„Und was willst du?“

„Ich will bei dir bleiben, solange es geht. Doktor Münchenberg hat gesagt, es ist eine Schätzung. Jeder Körper kämpft anders. Vielleicht hast du ja mehr Zeit.“

„Oder weniger.“

Sie schlägt auf meine Brust und rutscht von mir herunter, steht auf. Ich sehe ihr zu. Wir müssen da durch. Das macht es aber nicht einfacher.

Vor dem Fenster bleibt sie stehen, und selbst in der Spiegelung der Scheibe sehe ich, wie nass ihre Wangen sind. Und wie sich ihr Gesicht verzieht, trotzig, wie sie die Arme verschränkt.

„Wie willst du mich denn davon abhalten, dich zu besuchen? Im Hospiz?“

„Ich will dich nicht abhalten müssen. Ich bitte dich, dass du nicht kommst.“

Sie schnaubt und reckt das Kinn hoch.

„Und ich werde dir nicht sagen, wo ich bin.“

Sie dreht sich um und starrt mich an. Dann sieht sie zu den Papieren auf der Kiste und schüttelt langsam den Kopf.

„Du Arschloch.“

Ich nicke. Sie schüttelt wieder den Kopf, dann läuft sie an mir vorbei, greift nach ihrem Mantel und der Tasche und zieht die Tür hinter sich zu.

~

Als sie wiederkommt, hänge ich schräg auf der Couch, dösend. Ich wollte auf sie warten. Sie wirft eine Decke über mich und kriecht darunter. Ihre Haare riechen nach Rauch, und als ich meine Arme um sie lege, spüre ich, wie sehr sie zittert.

~

Am nächsten Morgen liege ich immer noch dort und mein Nacken schmerzt. Zu lange in der falschen Position. Ich setze mich vorsichtig auf, drehe langsam den Kopf, drücke zwei Finger unter die Rippen und atme tief ein. Die Verhärtung ist noch da, Lisa ist weg und auf der Kiste liegt nur noch ein kleiner Zettel.

„Komm in den Türrahmen.“

Scheiße. Sie ist mir zuvorgekommen.

Immer noch wach

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